Vorgeblättert

Leseprobe zu Mircea Cartarescu: Nostalgia. Teil 3

26.02.2009.
Unsere Spiele waren manchmal grausam und barbarisch. Ich sehe heute noch die Szene vor mir, wie Lutza einen Riesennagel mit einem einzigen Hieb durch die Brust einer schlafenden Katze jagte. Der Nagel war ihr vermutlich durch die Rippen ins Herz gedrungen, denn die Katze erstarrte, zuckte nur noch ein paarmal krampfhaft mit den Hinterpfoten, ehe sie reglos liegenblieb - und dabei heißt es von diesen Tieren, sie hätten zehn Leben. Wir tauchten die Spitzen unserer Pfeile in ihr Blut und schossen sie in den Himmel. Mimmis Pfeil flog weit über Blockhöhe hinaus. Ein andermal hatte Sandu ein recht großes Sperlingsküken entdeckt, sein Gefieder war bereits so gut wie voll ausgebildet, wir jagten es durch die Gräben, bis wir es eingefangen hatten. Dann spielten wir krankes Kind mit ihm. Das Spiel ging über Stunden, wir flößten dem Kind immerfort irgendein Zeug ein: Spiritus, Mandelessenz, Urin usw. Als es keinen Mucks mehr tat, nahmen wir unsere groben Plastikrackets zur Hand und benutzten es als Tennisball. Schließlich begruben wir es bei noch lebendigem Leibe in einem Tonic-Water-Kasten, schütteten Erde drüber und stampften sie fest.

Zwischen uns war es nicht viel anders. Wir jagten einander von früh bis spät durch die labyrinthischen Kanalisationsgräben. Es gab bestimmte Stellen, wo wir über geteerte Rohre und riesige Verschlußhähne hinabstiegen, dann drang uns der Geruch von Erde, Würmern und Larven, von Teer und frischem Kitt in die Nase und ins Blut und raubte uns die Sinne. Mit Wasserpistolen bewaffnet, hinter Kreppkarton-Masken versteckt - der Karton war aus dem Möbellager, und zu Hause hatten wir mit möglichst furchterregenden Farben gebleckte Stoßzähne, aus den Höhlen quellende Augen und geweitete Nasenlöcher draufgemalt -, stürmten wir durch die gewundenen Kanäle, und der ohnehin nur schmale Himmelsstreifen über unseren Köpfen wurde immer dunkler, je länger wir draußen blieben. Sooft wir um die Ecke biegend einem Feind in die Arme liefen, stürzten wir uns brüllend aufeinander, rissen uns die Turnhemden und die gemusterten Blusen vom Leib. Eines der Spiele, das wir über Jahre hinweg, ohne müde zu werden, spielten, sogar noch in der achten Klasse spielten wir es, hieß Hexenspießen; wer es erfunden hatte, weiß ich nicht, doch war es eigentlich eine Kombination mehrerer Spiele der harmloseren Art wie Räuber und Gendarm, Habicht und Täubchen oder "Gardiana". Zu Beginn gab es nur einen Hexenspieß, der durch Auszählen bestimmt wurde. Er trug als einziger eine Maske und hatte einen geschälten Knüppelstock in der Hand. Er zählte mit dem Gesicht zur Wand und stürmte dann auf der Suche nach seinen Opfern in die Gräben. Es war zwar erlaubt, die Gräben zu verlassen, nicht aber in den Treppenhäusern der Blocks Zuflucht zu suchen oder über den Zaun in den Mühlenhof zu springen. Der Hexenspieß jagte uns durch die stinkenden Gruben, und sooft er einen von uns mit dem Stock berührte, stieß er einen furchtbaren Schrei aus. Das Opfer mußte wie gelähmt stehenbleiben. Der Hexenspieß schleppte es an der Hand zu seinem Nest, wo er ihm eine vereinbarte Anzahl Kopfnässe verpaßte, und der so Getaufte wurde seinerseits zum Hexenspieß. Er holte sich eine Maske, und die Hetzjagd ging weiter. Gegen Abend, wenn über den hochaufragenden Türmen der Mühle die ersten Sterne an dem noch blauen Himmel funkelten, war in der Regel ein einziger überlebender übrig, der von einer ganzen Horde Hexenspießen gejagt wurde, die ein schauriges Geheul anstimmten. Die Blockbewohner hatten einen Horror vor diesem Augenblick, warfen von den Balkonen mit Kartoffeln oder Möhren nach uns. Die Putzfrauen kamen Besen schwingend herausgerannt, alles vergeblich. Die Hexenspieße beruhigten sich erst, wenn sie auch das letzte Opfer geschnappt hatten und das Bürschlein, wohl merkend, daß aus dem Spiel Ernst zu werden drohte, wirklich erschrak. In der Dunkelheit war es besonders furchterregend, einem maskierten Hexenspieß zu begegnen, zumal sie in Rudeln ausschwärmten. Der zuletzt Gefangene wurde ins nächste Treppenhaus gezerrt, wo die anderen ihm mit Grimassen zusetzten und so taten, als wollten sie ihn verspeisen, bis unsre empörten Mütter auftauchten und uns nach Hause holten.

Hatten wir weder zum Hexenspieß Lust noch darauf, die Zeichnungen der Mädchen auf dem Asphalt - ihre blauen Häuschen, gelben Bäume und grünen Mütter - mit den glattgeriebenen Sohlen unserer Turnschuhe zu verwischen, einfach weil es Spaß machte, sie heulen zu hören und nach Hause laufen zu sehen, dann trommelten wir die Truppe zusammen, setzten uns auf lose Bordsteine und erzählten uns die tollsten Geschichten; oder wir spielten Aufhängen, mit Filmtiteln. Ich erinnere mich, wie Zaganu eine seiner Eskapaden im Mühlenhof zum besten gab: "Ich sprang beim Häuschen mit dem Totenkopf über den Zaun, pirschte mich an die Mühle heran. Ein Müller erspähte mich, andere Müller kamen hinzu. Ich machte mich aus dem Staub. Sie warfen mit Steinen nach mir. Ich wich aus. Als sie keine Steine mehr hatten, zogen sie die Pistolen, trafen mich aber nicht. Dann schossen sie mit Maschinengewehren. Wenn sie auf Brusthöhe schossen, duckte ich mich zu Boden, zielten sie aber auf die Beine, sprang ich in die Luft. Da brachten sie Kanonen in Stellung. Ich rannte weiter. Sie verfolgten mich mit Panzern, doch ich entkam. Sie schickten Flugzeuge los und warfen Bomben ab, da hatte ich aber den Zaun schon erreicht und sprang hier beim Tor herüber." Er erzählte mit solchem Ernst, daß wir ihm beinahe auf den Leim gegangen wären. Kaum daß vereinzelt ein schüchternes "Quatsch!" zu hören war. Wenn wir Aufhängen mit Filmen spielten, wußten wir die Filme bei jedem Buchstaben des Alphabets im voraus. Auf Accatone folgte Adlerhorst, der dritte aber hatte unbedingt Agatha, laß das Morden sein zu sagen. Bei B war der erste Film unweigerlich Babette zieht in den Krieg. Falls einer von uns nicht weiterwußte, flüsterten die anderen ihm falsche Titel zu: Sag Cherbourg im Winter! Und sagte er dann Cherbourg im Winter, hielten sie ihm voller Verachtung entgegen: Einen solchen Film gibt?s überhaupt nicht.

Eines Tages zog im ersten Stock Aufgang 3 eine Mutter mit ihrem Sohn ein. Ich war gerade sieben Jahre alt geworden und sollte ab Herbst zur Schule gehen (Wowa Smirnoff war bereits in der dritten Klasse, Mimmi in der vierten und dabei schon ein Jahr sitzengeblieben). Der neue Junge war ungefähr so alt wie ich und erregte anfangs in keiner Weise meine Aufmerksamkeit. Seine Mutter aber war außergewöhnlich. Sie war total anders als unsere Mütter, die den ganzen Tag wuschen und putzten. Sie war eine Dame von derart hohem Wuchs, daß wir ihre Gesichtszäge nur wie durch den bläulichen Dunst der Ferne schimmern sahen. Lang, dünn und mit dem Kopf in den Wolken machte sie sich zwischen den Möbelstücken im Treppenhaus zu schaffen und erteilte den Möbelschleppern, die ihre Hanfseile auf und ab schleiften, Befehle. Ich habe sie nie anders als in Purpur gekleidet gesehen. Selbst in der Wohnung trug sie einen Hausmantel aus rotem Satin. Sie hatte pechschwarzes Haar, und über ihr Gesicht schien mir stets ein blauer Schatten mit schwachrosa Perlmuttspuren zu huschen. Der Junge saß apathisch in einem alten Sessel, dessen blumige Tiefe ihn fast völlig verschwinden ließ. Er war in der Tat schmal und zartgliedrig und hatte einen festen, aufmerksamen und nachdenklichen Blick. Wir verließen für eine Weile unsere Gräben und scharten uns um ihn. Wir fragten ihn, ob er zu uns in den Block ziehe und ob jene endlos lange Frau seine Mutter sei. Ja, und sein Vater, wo war der? "Mein Vater ist Zimmermann", sagte er, so als wäre dies die Antwort auf unsere Frage gewesen. Schließlich ließen wir von ihm ab, denn außer langen Blicken und kurzen Antworten war von ihm offenbar nichts zu erwarten. Er nannte uns auch seinen Namen, doch den vergaßen wir auf der Stelle. Ion oder Vasile, irgend so etwas völlig Banales. Wir fuhren wie die Teufel wieder in unsere Höhlen ein und begannen erneut mit dem Hexenspießen.

Der Knabe gesellte sich in den darauffolgenden Tagen zu uns. Er war sehr sauber und gepflegt. Er trug gelbe bauschige Hosen - Spielhosen, wie Mutter das nannte - mit langen Trägern. Er sagte kein Wort. Wir riefen ihn zu uns herab in die Gräben, doch er wollte nicht kommen. Er schaute dem Spiel nur von oben zu. Und uns verging buchstäblich die Lust zu spielen, da wir einen Zuschauer hatten. Er schaute übrigens mit demselben Interesse auch den Mädchen zu, für uns hinreichend Grund, ihn zu verachten. Ja er bat sogar Mona (ausgerechnet die!) um eine lila Kreide. Mona, die keinen Spaß verstand, drehte ihm den in hellen Hosen steckenden Hintern zu und schlug sich mit der Hand auf die Pobacke. "Willst nicht auch davon was?" Der Junge schaute sich das ungerührt an und entfernte sich. Etwa eine Woche lang sah ich ihn tagtäglich mit dem lahmen Jungen sprechen. Er erklärte ihm allerlei Dinge, malte dabei mit einem von zu Hause mitgebrachten Stück Kreide Zeichnungen auf den Asphalt und bediente sich einer Gebärdensprache, die ich - heute - am ehesten als rituell bezeichnen würde. Manchmal war es, als löste er ein unsichtbares Spinnennetz von seinem Körper, dann wieder deutete er mit dem Finger zum Himmel und lächelte geheimnisvoll. Im purpurnen Dunst des Abends, der sich unmerklich kaffeebraun färbte, bekam die Szene - mit dem metallischen Funkeln des orthopädischen Geräts, das der eine Junge trug, und der sibyllinischen Gestensprache des anderen - in unseren Augen, die wir im Schutz unserer Kartonmasken in den Gräben auf der Lauer lagen, etwas Bizarres, Rätselhaftes, schwer zu Entschlüsselndes. Wenn sie nach Hause gingen, und das taten sie stets vor uns, hinterließen sie auf dem blauen Asphalt krumme Kreise und andere Figuren, die wir haßerfüllt wegwischten.

Der Junge "spielte den Großen", ein Angeber, so lautete das Fazit der Truppe. Daher beschlossen wir, ob spontan oder organisiert, weiß ich nicht mehr, ihn zu zwingen, uns gegenüber Farbe zu bekennen. Wollte er unser Freund sein - gut, wollte er nicht - auch gut oder um so besser, denn unser Bedürfnis nach einem echten Feind war groß. Nicht lange davor hatten wir bereits etwas Heldisches versucht und waren damit kläglich gescheitert. Die ganze Truppe war hinter dem Block zusammengekommen und hatte sich im kruden safrangelben Licht brennender Fernsehkartons mit langen Latten vom Möbellager bewaffnet; dann waren wir in aller Stille ausgeschwärmt zu einem Überfall auf die Kinder des Blocks mit dem Blumenladen an der Zirkusallee. Wir waren maskiert und schreiend aus dem Hinterhalt gestürmt und hatten die, die dort "Tenniskicken" spielten oder einen gestreiften Ball gegen die Mauer donnerten, vertrieben. Die Mädchen hatten sich unter unerträglichem Gezeter ins Treppenhaus des Blocks geflüchtet. Ein einziger Gefangener war uns ins Netz gegangen, ein Knirps von Lumpas Kaliber; den wollten der irre Dan und Paul gerade dazu bringen, einen Wurm zu verschlucken, da traten drei Väter in Turnhemden aus dem Block, und beim Anblick der an Brust und Armen behaarten Männer ließen wir alles fahren und zerstreuten uns auf der Allee. Da nun der Neue keinen Vater hatte (zumindest hatte sich dieser bisher nicht gezeigt), schien er uns als Feind gerade richtig. Also wickelten wir ihn eines Morgens sorgfältig ein, wie die Senatoren den Cäsar, schnappten ihn uns und zerrten ihn zum Kanalnetz. Wir wollten ihn zum Hexenspieß machen. Der Junge stemmte sich auf die Fersen und schlug wild um sich. Aus der Nähe sah sein Gesicht ganz anders aus als die Kindergesichter, die ich bisher gesehen hatte. Er hatte braunes, leicht gewelltes Haar. Aus der Krümmung jeder einzelnen Locke schossen goldene Reflexe in alle Richtungen. An der Oberfläche lagen die Haare locker und bildeten ein rötliches Gespinst. Unterhalb der Stirnlocken krümmten sich schmal die Augenbrauen über den beiden großen Ovalen der halbgeöffneten Augen. Durch die wimpernlosen Lider, die ein schwarzes Häutchen säumte, sah man die halben Scheiben der violetten Iris. Die Augenpartie war dunkler getönt als die zarte Kupferfarbe der Wangen. Die Nase war lang und schmal, doch wohlproportioniert, und der Graben unter den symmetrisch gezeichneten Nasenlöchern ungewöhnlich tief. Seine Lippen hielt er meist geschlossen, er zeigte seine Zähne so gut wie nie, obwohl er manchmal mit feuchten Lippen lächelte, so daß sein Gesicht einen Ausdruck annahm, der zwischen Schläue, Ironie und schlichter Gutmütigkeit schwankte. Jetzt aber, da wir ihn zur Grube brachten, zeigte sein Gesicht äußerste Konzentration, man ermüdete, wenn man nur hinschaute. Ich hielt ihn am linken Arm fest, als ich, am Grabenrand angelangt, plötzlich spürte, daß seine Gegenwehr sich zu außerordentlicher Kraftentfaltung steigerte. Er hatte seine schmale Brust herausgereckt, als wollte er damit das Hemd durchstoßen, und auch die Schultern gewaltig angespannt, so daß wir alle überrascht losließen und erschrocken den Kreis um ihn weiter zogen. Der Junge stand einen Augenblick erregt da, beugte seinen Rücken, als ob er ihn knicken wollte, dann ließ er sich mit lautem Stöhnen langsam zu Boden. Er stöhnte und heulte riesige Tränen. Wir rannten alle zum dritten Aufgang und stürmten auf die Terrasse, von wo wir erschauernd beobachteten, wie die Mutter des Jungen, ganz roter Faltenwurf und Volant, im Laufschritt aus dem Block kam. Sie nahm ihn auf die Arme und verschwand im Laufschritt wieder im Treppenhaus. Ich ging nach Hause, wo man mich nach dem Essen der üblichen Tortur der Nachmittagsruhe unterwarf, die alles andere als ein Schläfchen war. Wahrhaft quälend war dabei, daß ich keine Uhr hatte und somit nicht wissen konnte, wann die zwei Stunden, die ich in der trockenen Sommerhitze das verhaßte Bett hüten mußte, zu Ende gingen. Durch den Fensterausschnitt zogen endlos die blau funkelnden Wolken, die die Pappeln mit ihren Wipfeln vor sich her fegten Als ich am Nachmittag wieder auf den Spielplatz hinter dem Block kam, fand ich die ganze Rotte versammelt. Offenen Mundes starrten die Jungen in den Himmel, auf etwas offenbar Sensationelles, das mir durch eine Ecke des Gebäudes verdeckt blieb. "Komm hierher, Mirciossu", riefen sie mir zu, "komm, schau dir Mendebilus II. an! Der ist noch verrückter als Mendebilus!" Selbst Mimmi und Wowa, die älter waren und daher nicht so leicht ins Staunen geraten sollten, schienen hypnotisiert von dem, was sie sahen. Der dunkelhäutige Lutza mit seinem Gesicht ohne Augenbrauen hatte sich zu ihnen gesellt, und auch Niku, rundlich und fein gekleidet, eine John-Lennon-Brille auf der Nase, reckte den Hals mit jenem ratlosen Ausdruck, den Kurzsichtige haben. Als ich herankam, stockte mir der Atem.

Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages

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