Bücherbrief

Lesestoff mit Qualitätsgarantie

06.02.2023. Ein reichhaltiger literarischer Jahresanfang liegt hinter uns: Neue Romane von Arno Geiger, Peter Stamm, Juli Zeh, Ottessa Moshfegh oder Bret Easton Ellis sind erschienen - und natürlich können wir nicht alle abbilden. Wie immer haben wir uns für die besten und wichtigsten Bücher entschieden und auch die weniger besprochenen Perlen berücksichtigt: Den Roman von Tanya Pyankova zum Beispiel, die eindringlich, surreal und aus verschiedenen Perspektiven vom Holodomor erzählt. Außerdem führt uns Peter Stamm so witzig wie noch nie durch ein verwirrendes Spiegelkabinett, Chantal Akerman begibt sich auf Liebesspurensuche und Philipp Blom zeichnet die Geschichte der menschlichen Herrschaft über die Natur nach. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Februar.
Willkommen zu den besten Büchern des Monats! Sie wissen ja: Wenn Sie Ihre Bücher in unserem Buchladen eichendorff21 bestellen, ist das nicht nur bequem für Sie, sondern auch hilfreich für den Perlentaucher, denn eichendorff21 ist unser Buchladen.

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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in den Kolumnen "Wo wir nicht sind" und "Vorworte", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Dzevad Karahasan
Einübung ins Schweben
Roman
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 304 Seiten, 25 Euro

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Ein walisischer Altphilologe kommt wenige Tage vor Ausbruch des Bosnienkrieges zu einer Lesung nach Sarajewo, und bleibt, begeistert von der Idee, mitten im Geschehen zu stecken. Aber es scheint ihn - anders als seinen entsetzten bosnischen Übersetzer - überhaupt nicht zu berühren, selbst der Tod scheint ihm nur Stoff zum Räsonieren zu sein. Schließlich geht er zu weit, nimmt Drogen und wird selbst zum Täter, erzählt im NDR Tobias Wenzel, der sich mit dem Autor auch im Dlf Kultur unterhalten hat. Wie ein "humanistischen Denker zum unkontrollierten Unmenschen" wird, schockiert ihn, aber die Selbstüberschätzung des Briten bringt ihn auch zum Lachen. Dass man die große "Idee eines zivilen Lebens" durch Großkotzigkeit klein machen kann, während andere sie mit ihrem Mitgefühl hochhalten, lernt FAZ-Kritiker Tilman Spreckelsen aus diesem "großartigen" Roman. In der SZ fühlt sich Lothar Müller an die Ukraine 30 Jahre später erinnert. Die Dichte dieser großen Erzählung, in der die "Stimme der Stadt" über allem schwebt, ist für den Rezensenten ein weiterer beeindruckender Teil von Karahasans Schreibprojekts über die Belagerung Sarajewos, das seinesgleichen suche.

Raphaela Edelbauer
Die Inkommensurablen
Roman
Klett-Cotta Verlag. 352 Seiten. 52 Euro

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Die 1990 geborene österreichische Bachmann-Preisträgerin Raphaela Edelbauer schreibt einen Roman über den Ersten Weltkrieg - und das geht laut Kritik erstaunlich gut. Mehr noch: Edelbauer spielt bewusst mit dem Vergleich zu Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" - und hält ihm stand, wie uns SZ-Rezensent Helmut Böttiger versichert: Fesselnd und detailversessen erzähle Edelbauer vom Bauernknecht Hans, der am Tag der deutschen Kriegserklärung im Jahr 1914 nach Wien aufbricht, dort eine Psychoanalytikerin aufsuchen möchte, aber die nächsten 24 Stunden zunächst mit der mysteriösen Klara und dem Aristokratensohn Adam verbringt. Edelbauer ist nicht nur eine meisterhafte "Diskurs-Jongleurin", sondern ihr gelingt es in diesem Roman auch - geradezu beiläufig und mit heutigem "Erkenntnisinteresse" -  die Manipulation der Massen zu thematisieren, staunt Böttiger. Kühn und raffiniert findet auch FR-Kritikerin Judith von Sternburg den Roman: "Große Gespräche", historische Exkurse und eine soghafte Geschichte ergeben für sie zusammen mit der Traumebene eine tatsächlich erstaunliche Lektüreerfahrung. Ein "famoses", ja sogar "ein großes" Buch, das Einblicke ins "queere, späthabsburgische Wien" gewährt, liest Günter Kaindlstorfer im Dlf. In der FAZ empfiehlt Andreas Platthaus den Roman. Im SWR wird Carsten Otte allerdings nicht ganz warm mit dem Roman: Zu "maßlos" erscheinen ihm Edelbauers Ansprüche, zu blass die Figuren, die laut Otte nur "als Platzhalter für allerlei Ideen und Weltanschauungen herhalten müssen".

Peter Stamm
In einer dunkelblauen Stunde
Roman
S. Fischer Verlag. 256 Seiten. 24 Euro

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Nur hymnische Kritiken für den neuen Roman von Peter Stamm: So gut - und vor allem auch so witzig war Stamm noch nie, jubelt etwa Roman Bucheli in der NZZ. Fasziniert betritt er Stamms "verwirrendes Spiegelkabinett", in dem der Autor sich selbst zur Romanfigur macht - und zwar ganz ohne Selbstbespiegelung, dafür mit "Selbstironie von ihrer vornehmsten Art", wie Bucheli schreibt. Die Entstehung des Romans wurde von einem Filmteam begleitet, auch die Filmemacherin lässt der Autor im Buch zu Wort kommen - mit allerhand "boshaften Witzen". An Tiefsinn und Ernst mangelt es dennoch nicht, versichert Bucheli. "Virtuos" nennt auch SZ-Kritiker Christoph Schröder den Roman, in dem Stamm mit schelmischer Offenheit und Leichtigkeit das Genre der Autofiktion zerpflückt. Selten schrieb Stamm so klug und ironisch, meint Schröder, der hier den Auftakt zu einem meisterhaften Alterswerk sieht. Und in der FR will Martin Oehlen kaum glauben, wie schnell die hinreißende Geschichte um Ich-Erzählerin Andrea, den Schriftsteller Richard und dessen Jugendliebe Judith vorbei ist: Er schwebt nur so durch den Text, dem er attestiert, ein "Lesestoff mit Qualitätsgarantie" zu sein. Im SWR2 empfiehlt Wolfgang Schneider den Roman.

Chantal Akerman
Meine Mutter lacht
Diaphanes Verlag. 208 Seiten. 22 Euro

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Ihrer Mutter widmete die belgische Autorin und Filmemacherin Chantal Akerman mehrere Filme, zuletzt den Dokumentarfilm "No Home Movie", der 2014 beim Festival von Locarno lief. Im gleichem Jahr und nur ein Jahr nach dem Tod der Mutter nahm sich Akerman das Leben. Nun ist ihr Buch über die letzten Jahre mit ihrer Mutter auch auf Deutsch erschienen. Die Mutter, die den Holocaust überlebte, litt zunehmend unter Alterserscheinungen und brüchigen Knochen, für die depressive Tochter war das oft schwer auszuhalten, auch von Suizidgedanken ist im Buch bereits die Rede. Keine leichte Kost, aber das Buch zeugt von einer so poetischen und persönlichen Kraft, dass nicht nur FAZ-Kritikerin Maria Wiesner die Lektüre dringend empfiehlt. Auch laut SZ-Kritiker Fritz Göttler mischen sich Szenen voller "Grausamkeit, Unverständnis, Verzweiflung" immer wieder mit Kokettem, Fotos und mitunter komischen Dialogen zwischen Mutter und Tochter. Eine einfühlsame "Liebesspurensuche" nennt Dlf-Kultur-Kritikerin Manuela Reichart das Buch.

Arno Geiger
Das glückliche Geheimnis
Carl Hanser Verlag. 240 Seiten. 25 Euro

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So groß war das Geheimnis, das Arno Geiger in seinem neuen Werk enthüllte, dann doch nicht: Jahrzehntelang fuhr er frühmorgens durch Wien und durchforstete Müllcontainer nach privaten Schriftstücken: Tagebücher, Notize, Briefe, aus denen er Inspiration für seine Romane schöpfte. Die meisten Kritiker finden das recht unproblematisch, der autobiografische Essay, in dem Geiger nicht nur seinen Werdegang als Schriftsteller nachzeichnet, sondern auch Familien- und Beziehungsgeschichten einflicht, erscheint ihnen umso gelungener. Für NZZ-Kritiker Paul Jandl ist das Buch Poetologie und Werkstattbericht in einem. FR-Kritikerin Judith von Sternburg hat sich bei der Lektüre ganz fabelhaft unterhalten, in der FAZ hält Lena Bopp Geigers "Geheimnis" für das "Buch seines Lebens". Und in der Zeit wünschte sich Eberhard Rathgeb nach der Lektüre mit dem Autor befreundet zu sein: So sehr hat ihn der zutiefst menschliche und offenherzige Text begeistert. Ganz anders Tobias Rüther in der FAS: Er schimpft über gestelzte Sätze, allzu ausführliche Einblicke in das Sexleben des Autors und mangelnde Scham über dessen Verstoß gegen das Briefschutzgesetz.

Tanya Pyankova
Das Zeitalter der roten Ameisen
Roman
Ecco Verlag. 400 Seiten. 22 Euro

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Der Holodomor, die von der Sowjetregierung ausgelöste Hungersnot in der Ukraine der 1930er Jahre, ist im historischen Bewusstsein hierzulande immer noch wenig verankert. Der Herausforderung, über dieses Kollektivtrauma zu schreiben, hat sich die 1985 geborene ukrainische Autorin Tanya Pyankova gestellt - und es eindringlich und überzeugend gemeistert, versichert uns im Dlf Kultur Tanya Hochweis. Aus drei Perspektiven blickt sie hier auf den Hungergenozid: Die Unwissende Solja, der Täter Swyryd und das Opfer Dusja treten auf - und wenn schließlich auch der Hunger selbst personifiziert wird, erhält der Text für Weis eine zusätzliche, fast surreale Ebene. Eine "nachhallende Lektüreerfahrung", schließt Weis. In der FAZ staunt Fridtjof Küchemann nicht nur, wie detailreich und glaubwürdig Pyankova von Hunger, Tod, menschlicher Not und Terror schreibt. Besonders wichtig ist ihm, dass die Autorin für ihre genaue Recherche auf zeithistorische Dokumente zurückgegriffen hat.


Sachbuch

Philipp Blom
Die Unterwerfung
Anfang und Ende der menschlichen Herrschaft über die Natur
Carl Hanser Verlag. 368 Seiten. 28. Euro

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Eine Universalgeschichte der Umwelt legt der Historiker und Schriftsteller Philipp Blom hier vor - und FAZ-Kritikerin Petra Ahne erfährt zwar nicht immer nur Neues, aber doch klug Verknüpftes und dadurch "Augenöffnendes". Der Historiker und Schriftsteller zeichnet die Geschichte der menschlichen Herrschaft über die Natur nach, mitunter an "abseitigen" Beispielen, vor allem aber als kontinuierliche Entwicklung im westlichen Denken, erklärt sie: Die biblische Aufforderung, der Mensch solle sich die Erde untertan machen, wurde auch während der Aufklärung nicht hinterfragt, sondern lediglich säkularisiert. Über Jahrhundert hat die Beherrschung der Natur die Überlegenheit des Westens begründet, auf Kosten anderer, die heute am stärksten unter dem Klimawandel leiden. Was also jetzt? Blom sucht angenehm tastend und nie "polemisch" nach Antworten bei Montaigne, Spinoza, Latour oder Lovelock, die den Menschen nicht als Gegensatz zur Natur empfanden, sondern als Teil von ihr, schließt die Kritikerin. Mit Interesse liest auch NZZ-Kritiker Thomas Ribi das Buch, hätte sich aber etwas weniger Pamphlet-Charakter und ausgestellte "Gelehrsamkeit" gewünscht.

Sara Rukaj
Die Antiquiertheit der Frau
Vom Verschwinden des feministischen Subjekts
Edition Tiamat. 208 Seiten. 18 Euro

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2011 hatte das Bundesverfassungsgericht erklärt hat, dass eine Änderung des Geschlechtseintrags nicht von einer physischen Geschlechtsumwandlung abhängig gemacht werden darf. Doch müssen nach wie vor zwei psychologische Gutachten von Sachverständigen für eine Änderung eingeholt werden. Dies empfinden viele Transmenschen als entwürdigend, weshalb die Bundesregierung das Transexuellengesetzes von 1981 ändern möchte: Künftig soll eine einfache Erklärung der Betroffenen für einen Geschlechterwechsel ausreichen. Diese juristische Auflösung des Geschlechts ist "die vermutlich folgenreichste Rücknahme feministischer Errungenschaften seit 1945", erklärt die Psychologin und Philosophin Sara Rukaj im Interview mit der Welt, in dem sie die wesentlichen Thesen ihres Buchs zusammenfasst. Für sie ist die Vorstellung, dass Geschlecht etwas Fluides, frei Wählbares ist, "eine 'Allmachtsphantasie'", erklärt Martina Läubli im NZZ Magazin. "Das passt gut in eine hyperindividualistische Gesellschaft, in der das eigene Ich im Zentrum steht." Ähnlich sieht es in der FAZ Edo Reents, der das Buch als "gepfefferte" Abrechnung mit einem erstaunlich systemkonformen Genderfeminismus empfiehlt. Mit der Frau verschwindet auch der Feminismus, der die Diskriminierung von Frauen überall auf der Welt bekämpfte, die mit ihrem weiblichen Geschlecht zu tun haben: Abtreibungsverbote, Zwangsverschleierung oder Genitalverstümmelungen, warnt Rukaj. Cui bono?

Sanne de Boer
Ndrangheta
Wie die wichtigste Mafia Europas unser Leben bestimmt
Aufbau Verlag. 350 Seiten. 25 Euro

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Seit Januar 2021 läuft gegen Europas mächtigste Mafia, die Ndrangheta in Italien ein Prozess, aber der Arm der italienischen Mafia reicht längst über Italien hinaus. Als die niederländische Journalistin Sanne de Boer nach Kalabrien zog, hatte sie davon keine Ahnung - bis das Auto einer Nachbarin brannte und Boer zu recherchieren begann. Den empathischen Gesprächen, die die Journalistin mit zahlreichen Betroffenen führte, ist in diesem Band viel Platz eingeräumt - gerade dadurch wird das traumatisierende Treiben der kriminellen Organisation nachvollziehbar, versichert David Klaubert in der FAZ. Ein wenig mehr Hintergrundrecherche hätte aber nicht geschadet, räumt er ein. Mit Interesse und Spannung liest auch SZ-Kritiker Stefan Ulrich den Bericht, dem er entnimmt, dass die Bevölkerung vielerorts kaum eine andere Wahl hat, als  sich der Ndrangheta unterzuordnen, wenn persönliche Ziele oder wichtige Anliegen erreicht werden wollen. Nur ein bisschen mehr Struktur hätte er dem Text gewünscht.

Christoph Menke
Theorie der Befreiung
Suhrkamp Verlag. 720 Seiten. 36 Euro

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Alles hat seine Dialektik, erst recht die Befreiung. Sie hat uns zum "Subjekt" gemacht. Also sind wir nur uns selbst unterworfen und doch schon wieder unfrei. Daraus muss es doch einen Ausweg geben, und Menke erblickt ihn in der "Faszination", einem Schlüsselbegriff des Buchs, so der Kollege Thomas Khurana in einer durchaus, ähm, faszinierten Besprechung des Buchs. Das radikal Andere weist den Weg ins Offene. So war das bei Moses, als er sein Volk, dem brennenden Dornbusch folgend aus der Gefangenschaft führte, und bei Walter White aus "Breaking Bad", der als kompletter Neuling die Potenziale des Drogenmarkts erschloss. Die Rezensenten folgen Menke atemlos und staunend. Ein "Opus magnum", versichert Peter Neumann in der Zeit. Florian Meinel liest das Werk in der FAZ als scharfsinnig, aber auch verrückt und als "selektiv und idiosynkratisch". Micha Brumlik entlarvt es in der taz als "kryptotheologisch", denn das radikal Andere sei eigentlich Gott. Auf Dlf Kultur hat Wolfram Eilenberger ein halbstündiges Gespräch mit Menke geführt.