Bücherbrief

Mit Wumms aufs Pedal

08.01.2023. Im ersten Bücherbrief des neuen Jahres reisen wir mit Dorota Maslowska und David Bowie durchs Warschau der Siebziger. Olga Ravn entführt uns auf eine Raumstation, auf der rätselhafte Ei-Objekte ihr Unwesen treiben. Artem Tschech berichtet von der Front im Donbass. Und Harold James erzählt eine Geschichte der großen Wirtschaftskrisen, die optimistisch endet. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Januar.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in den Kolumnen "Wo wir nicht sind" und "Vorworte", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Dorota Maslowska
Bowie in Warschau
Roman
Rowohlt Berlin Verlag. 128 Seiten. 22 Euro

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Wie ließe sich das neue Jahr besser beginnen als mit einer "rasanten Screwball-Komödie" voller "groteskem" Witz? Als solche empfiehlt uns jedenfalls Ulrich Rüdenauer im SWR den neuen Roman der polnischen Autorin Dorota Maslowska. Ausgehend von einer wahren Begebenheit - im Jahr 1973 machte David Bowie tatsächlich einen etwa einstündigen Stopp in Warschau - lässt Maslowska ein ganzes Ensemble kurioser Figuren samt Geister auftreten, denen Bowie als Projektionsfläche dient, resümiert Rüdenauer. Wenn Maslowska das kommunistische Polen voller "Angst und Apathie" in "rauer und scharfer" Sprache skizziert, liest der Kritiker den Roman auch als Kommentar auf die polnische Gegenwart. Im Dlf Kultur freut sich Meike Feßmann, dass Maslowska auch hier ihrer Übertreibungskunst treu bleibt. Amüsiert folgt sie den Helden, die mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt in vollgestopften Wohnungen leben und streiten. Die Autorin "liebt es, mit Wumms aufs Pedal zu drücken", erklärt Feßmann, und Olaf Kühl übersetzt das ohne Scheu. Die Rezensentin ist hin und weg: so realistisch wie surrealistisch findet sie den Roman.

Olga Ravn
Die Angestellten
Ein Roman über die Arbeit im 22. Jahrhundert
März Verlag. 143 Seiten. 22 Euro

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Dieser Roman der dänischen Schriftstellerin Olga Ravn scheint uns ein wenig herauszufordern. Aber es lohnt sich, versprechen die Rezensenten. Nach einiger Entschlüsselungsarbeit wird Dlf-Kritikerin Julia Schröder klar: Diese Zukunftsgeschichte spielt auf einer Raumstation, auf der ganz schön was schief gelaufen ist. Was genau sollen die Berichte und Aussagen der Angestellten ergeben, von denen oft nicht so ganz klar ist, ob sie menschlich, posthuman oder etwas ganz anderes sind. Zudem tauchen rätselhafte Ei-Objekte auf, die die Angestellten und damit gleich die gesamte Arbeitsordnung verwirren. Mit Witz und lyrischen Sprachspielen karikiert Ravn nicht zuletzt unsere auf Produktivität ausgelegten Arbeitsprozesse, meint Schröder. Geistreich findet auch Dlf-Kultur-Kritiker Nico Bleutge, wie die Autorin in ihrem Science-Fiction-Roman Kritik an der globalen Wirtschaft und der Funktionsweise von Manipulationen formuliert. Und in der SZ liest Sophie Wennerscheid einen äußerst feinen, in "pulsierender Sprache" geschriebenen Roman über Arbeit und Beziehungen im 21. Jahrhundert, der die Konzepte des Neuen Materialismus unaufdringlich literarisch umsetzt.

Artem Tschech
Nullpunkt
Arco Verlag. 200 Seiten. 20 Euro

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Im Mai 2015 wurde der ukrainische Schriftsteller Artem Tschech an die Frontlinie im Donbass versetzt. Seine Erfahrungen schrieb er kurze Zeit später nieder, erst jetzt erscheint der Text auf Deutsch. Für den Dlf-Kultur-Kritiker Samuel Hamen ist das Buch ein Glücksfall, denn der Autor oszilliert zwischen verschiedenen Standpunkten, verschiedenen Perspektiven auf den Krieg und auf das soldatische Leben und entwickelt dabei einen unverwechselbaren Ton, erklärt Hamen: Tschech erzähle von seiner Stationierung in Charkiw, von Todesangst und mangelhafter Kriegsausrüstung, stelle aber auch zahlreiche unbequeme Fragen. Dem FR-Kritiker Christian Thomas wird während der Lektüre klar, dass sich der titelgebende "Nullpunkt" nicht nur auf die Front bezieht, sondern vor allem auch auf den seelischen Zustand des Verfassers: Sehr ehrlich, nie pathetisch erzähle Tschech weniger von Kampfhandlungen, dafür mehr von menschlichen Herausforderungen.

Mircea Cartarescu
Melancolia
Erzählungen
Zsolnay Verlag. 272 Seiten. 25 Euro

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Nur hymnische Besprechungen gab es für den neuen Erzählband von Mircea Cartarescu. Als Panorama der Einsamkeit lesen die Kritiker den Band, in dem der rumänische Autor uns durch ein Labyrinth schickt, in dem zwischen bedrohlichen Bauten Insekten, Spiegelbilder und Geister lauern. Den Dlf-Kultur-Kritiker Carsten Hueck erinnern die Erzählungen an Kafka, Märchen und Gemälde von Hieronymus Bosch, auch Verweise auf Science Fiction, Mystik und Naturwissenschaften macht er hier aus. Wie Kafka auf LSD erscheint gar dem Welt-Kritiker Richard Kämmerlings Cartarescu in diesem schmalen Band, der ihn in fantastische Kindheitswelten im Bukarest der Sechziger und Siebziger führt und die Erfahrung totaler Einsamkeit lehrt. Für FR-Rezensentin Katharina Granzin ist Cartarescu einer der seltenen Menschen, die die Kinderwelt des Phantastischen nie eingetauscht haben gegen die Ordnung der Erwachsenen. In der NZZ bewundert Franz Haas nicht nur die poetische Strahlkraft des Textes, sondern auch die Übersetzung von Ernest Wichner, der Cartarescus virtuose und kunstvoll erzählte "Visionen einer Außenseiterjugend" exzellent ins Deutsche übertragen habe.

Sandra Kegel (Hg.)
Prosaische Passionen
Die weibliche Moderne in 101 Short Stories
Manesse Verlag. 928 Seiten. 40 Euro

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101 Kurzgeschichten von Schriftstellerinnen, die zwischen 1850 und 1921 geboren wurden, versammelt dieser von FAZ-Feuilleton-Leiterin Sandra Kegel herausgegebene Band auf mehr als neunhundert Seiten. Für ihre SZ-Kollegin Maike Albath ist diese weibliche Literaturgeschichte der Moderne ein Ereignis. Üppig zitiert sie aus den Texten, die so viele Themen wie Herkunftsländer abdecken: Ghana ist ebenso vertreten wie der Iran, die USA oder Österreich, die Erzählungen handeln von Geburten und Abtreibungen, Armut und Prostitution, aber auch von Vergnügen, Parties und Alkohol. Eine editorische Großtat, meint Albath, wenngleich sie sich gewünscht hätte, dass deutlicher gemacht worden wäre, dass der Band nicht nur Kurzgeschichten, sondern vereinzelt auch Romanauszüge enthält. In der Berliner Zeitung macht Sabine Rohlf zwischen Texten von Virginia Woolf, Simone de Beauvoir, Agatha Christie, Colette, Tania Blixen, Simone de Beauvoir oder Djuna Barnes die ein oder andere neue Entdeckung. Die Auswahlkriterien werden ihr zwar nicht ganz klar, aber zahlreiche Anregungen zum Weiterlesen verdankt sie dem Band in jedem Fall.


Sachbuch

Harold James
Schockmomente
Eine Weltgeschichte von Inflation und Globalsierung 1850 bis heute
Herder Verlag. 544 Seiten. 35 Euro

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Das muss man erstmal schaffen: Eine Geschichte der großen Wirtschaftskrisen von 1840 bis heute erzählen, die optimistisch endet. Aber die Kritiker schöpfen nicht nur Hoffnung aus dieser Weltgeschichte der Inflation und Globalisierung des in Princeton lehrenden Historikers Harold James, sondern lernen auch eine Menge dazu. James blickt auf die vergangenen 180 Jahre zunehmender Globalisierung zurück und deutet die großen Krisen als heilsame Schockmomente, aus denen die globalisierte Wirtschaft gestärkt hervorging. Dass er dabei zwischen Angebots- und Nachfrageschocks unterscheidet, wobei erstere ein "Denken in Preisen", letztere ein "Denken in Mengen" nach sich zögen, findet der FAZ-Kritiker Stefan Kolev sinnvoll. Dass die Globalisierung der Wirtschaft nach den aktuellen Krisen voranschreiten und auch einen geopolitisch erzwungenen Protektionismus überwinden wird, hält James laut Kolev für selbstverständlich und für wünschenswert. Ein hochaktuelles Buch, das ein wenig Vorwissen voraussetzt und sicher nicht immer einfach zu lesen ist, aber mit vielen Einsichten entschädigt, empfiehlt SZ-Kritiker Nikolaus Piper. Auch er lernt hier, dass immer nur die Nationen in Krisen profitierten, die auf Globalisierung setzten. In der NZZ bespricht Thomas Fuster das Buch.

Adom Getachew
Die Welt nach den Imperien
Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung
Suhrkamp Verlag. 448 Seiten. 34 Euro

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"Wegweisend" und wertvoll nennen die Kritiker dieses Buch der äthiopisch-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Adom Getachew über die Vordenker des Anti-Kolonialismus. Dem in der Zeit rezensierenden Afrikanisten Andreas Eckert legt die Autorin "eindringlich" dar, wie eine Gruppe von sechs Intellektuellen und Staatsmännern, darunter W.E.B. Dubois und Eric Williams nach 1945 ihre Idee eines antikolonialen Nationalismus verfolgten: Sie gingen gegen Sklaverei vor, forderten ökonomische Gerechtigkeit für die Opfer, vor allem aber definierten sie den Nationalstaat als System, das schwarzen Menschen die Möglichkeit gab, an der internationalen Staatenwelt teilzuhaben, resümiert der Kritiker. Die Kritik, das Projekt sei zu wenig kosmopolitisch und zu nationalistisch, könne Getachew entkräften. Insbesondere aber verdankt Eckert ihrem Buch eine Korrektur der "eurozentrischen" Ansicht, der antikoloniale Nationalismus sei lediglich die "Reproduktion einer westlich-liberalen normativen Idee" gewesen. Im Dlf begrüßt Michael Wolf, dass Getachew zwar über den Kolonialismus im 19. Jahrhundert schreibt, aber die Haltung Europas im 20. Jahrhundert miteinbezieht: Freiheit im Sinne von Nicht-Beherrschung war für die neuen Staaten nicht möglich in einer Welt, in der die vom Kolonialismus geschaffenen Abhängigkeiten und und Ungleichheiten Bestand hatten. Der Neoliberalismus machte den Vorstellungen von einer gerechteren Welt dann endgültig den Garaus: Auch das hat Wolf als Aufruf an die Verantwortlichkeit mächtiger Staaten für die Entwicklung des globalen Südens mitgenommen.

Jerry Z. Muller
Professor der Apokalypse
Die vielen Leben des Jacob Taubes
Jüdischer Verlag. 972 Seiten. 58 Euro

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Jacob Taubes war nicht nur Rabbiner, bedeutender jüdischer Gelehrter und Denker, sondern auch eine schillernde, mindestens zwiespältige Figur. So viel ist für die Kritiker nach dieser knapp tausendseitigen Biografie sicher. Und trotzdem - oder gerade deshalb - empfehlen sie das Buch des amerikanischen Historikers Jerry Z. Muller, der das bewegte, unruhige Leben Taubes' detailreich und in sorgfältiger Recherche nachzeichnet. Von Grenzüberschreitungen in seinen Beziehungen zu Frauen - zwei Ehefrauen nahmen sich das Leben - , aber auch hinsichtlich seiner politischen Einordnung und Psyche liest taz-Kritiker Jörg Später hier ebenso wie von den spannenden und unterschiedlichen Kontakten des Intellektuellen, die von Gershom Sholem über Susan Sontag bis hin zu Carl Schmitt reichten. Für Später ist das Buch ein "kritisches Denkmal". In der FR empfiehlt Arno Widmann das Buch all jenen, die sich für den Umsturz der Verhältnisse erwärmen können. Und dass der Autor angesichts von Taubes und seinem verqueren Genie nicht hämisch wird, gefällt Widmann. Während Dlf-Kultur-Kritikerin Andrea Roedig dem Leben des Rabbiners, Wissenschaftlers, Hochstaplers und bipolaren Schürzenjägers mit angehaltenem Atem folgt, hat Taubes bei FAZ-Kritiker Jürgen Kaube längst alle Sympathien verspielt. Immerhin: Ein stattliches Adressbuch hatte Taubes, muss Kaube gestehen.

Norbert Miller
Die künstlichen Paradiese
Literarische Schöpfungen aus Traum, Phantasie und Droge
Wallstein Verlag. 888 Seiten. 48 Euro

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Ein wenig Weltflucht scheint uns dieser Band des Literaturwissenschaftlers Norbert Miller zu versprechen, der elf Dichter begleitet, die auf verschiedene Weise literarische Paradiese schufen: Restif de la Bretonnes Kuriositäten-Reportagen und Eduard Mörikes Kinderfantasie eines fernen Inselreichs untersucht Miller ebenso wie Thomas de Quinceys Niederschrift seiner Bekenntnisse eines Opiumessers, verrät uns der Klappentext. Schlicht "großartig" findet SZ-Kritiker Jens Malte Fischer den in zwei Kapitel unterteilten Band:  Im ersten finden sich die Essays, die Charles Baudelaire über berühmte Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts und deren Drogenkonsum geschrieben hat. Im zweiten begibt sich Miller in seinem "Resumée eines Gelehrtenlebens" in das 18. Jahrhundert und beschreibt, wie der romantisierte Orient in die Nächte Europas kam und nicht nur Jean Paul und Walter Benjamin beeinflusste, resümiert Fischer. Das Traumhafte im Werk von E.T.A Hoffmann, Edgar Allen Poe oder Orson Welles auf den Punkt gebracht zu haben, ist für den Kritiker ein großer Wurf. Eine "meisterliche Studie", die durch "Klarheit des Stils und den Verzicht auf Theoriejargon" besticht, empfiehlt Paul Michael Lützeler im Tagesspiegel.

Thomas Blubacher
Weimar unter Palmen - Pacific Palisades
Die Erfindung Hollywoods und das Erbe des Exils
Piper Verlag. 272 Seiten. 24 Euro

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Um Hollywood geht es in diesem Buch des Schweizer Theaterregisseurs Thomas Blubacher nur bedingt, erfahren wir von FAZ-Kritiker Bert Rebhandl. Dennoch empfiehlt er das Buch als "kurzweilige" Geschichte nicht nur über prominente Exilierte, sondern auch als Erinnerung an vergessene wie Eric Braeden oder Martin Kosleck. Einen großen Mehrwert erkennt Rebhandl darin, dass Blubacher, einst Stipendiat der Villa Aurora - in die sich Jahrzehnte vorher Lion Feuchtwanger und seine Frau Marta aus Deutschland geflüchtet hatten - persönliche Erinnerungen mit der Lokalhistorie von Pacific Palisades verknüpft. Auch NZZ-Rezensent Oliver Pfohlmann folgt Blubacher gern ins "Weimar unter Palmen", um auf Thomas Mann, Marlene Dietrich oder Friedrich Wilhelm Murnau zu treffen. Ein "schillerndes" Porträt, das schon aufgrund der sorgfältigen Beschreibungen der legendären Domizile oder der Rekonstruktion all der Freund- und Feindschaften an der Westküste lesenswert ist, meint er.