Bücherbrief

Denker der Technik

04.10.2012. Clemens Setz spielt mit einer Bande Kopfschmerzen erzeugender Kinder, A. L. Kennedy mit einem Trickbetrüger und Antonio Ungar mit einem getöteten Politiker. Erstrangige Autoren mit funkelndem Intellekt widmen sich einer Globalgeschichte der Jahre 1870 bis 1945. Saul Friedländer sucht nach der sexuellen Andersartigkeit Kafkas. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Oktober.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, den Leseproben in Vorgeblättert, der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", den Büchern der Saison vom Frühjahr 2012 und unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2012.

Literatur

Clemens J. Setz
Indigo
Roman
Suhrkamp Verlag 2012, 479 Seiten, 22,95 Euro



Der 30jährige Österreicher Clemens J. Setz ist eine singuläre Erscheinung in der deutschsprachigen Literatur, darin sind sich die Rezensenten einig. Die einen sehen ihn in der Tradition von Franz Kafka und Robert Walser, die anderen wollen in ihm einen österreichischen David Foster Wallace oder Thomas Pynchon erkannt haben. Wie dem auch sei, sein fantastisch angehauchter Roman "Indigo" über Kinder, die bei jedem, der mehr als ein paar Sekunden in ihrer Nähe verbringt, Übelkeit, Kopfschmerzen und Schwindel auslösen, hat es auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis geschafft. Die Kritiker zeigen sich beeindruckt von der kunstvoll verrätselten Geschichte, den massenweise eingestreuten popkulturellen Bezügen und davon, wie Setz mit Horror-, Science Fiction- und Psychothriller-Elementen jongliert. Eva Behrendt gesteht in der taz, das Buch habe sich auf sie wie ein Indigo-Kind ausgewirkt, nämlich mit Schwindel und Kopfschmerz - und möchte dies ausdrücklich als Kompliment verstanden wissen. Jens Jessen zeigt in der Zeit-Beilage die gleichen Symptome, gibt aber auch zu, dass "Setz mit seiner Grausamkeit alle übrige deutsche Literatur des Herbstes der vollendeten Harmlosigkeit überführt". In der FAZ liegt Jan Wiele nach der Lektüre durchgerüttelt und erschöpft auf den Knien und fleht: Könnte der Mann bitte einen Literaturstreit auslösen?

A. L. Kennedy
Das blaue Buch
Roman
Carl Hanser Verlag 2012, 368 Seiten, 21,90 Euro



Wenn Betrüger Geschichten erzählen, muss man auf Täuschungen gefasst sein. A. L. Kennedys Roman "Das blaue Buch" ist so ein Fall. Darin begegnet die Erzählerin Elizabeth auf einer Kreuzfahrt mit ihrem angehenden Verlobten ihrer ehemaligen großen Liebe Arthur, der als Magier alten Damen das Geld aus der Tasche zieht. Elizabeths Vorsatz, dem Trickbetrügerleben den Rücken zu kehren, ist schnell dahin. Während die beiden als Totenbeschwörer schicksalsgebeutelte Witwen erleichtern, flammt ihre alte Liebe wieder auf. "Das blaue Buch" ist ein virtuoses Verwirrspiel mit unzuverlässigen Erzählern, rätselhaften Zahlencodes und sogar manipulierter Paginierung. Nur der Titel lügt nicht, stellt Hilal Sezgin in der Zeit angeregt fest: das Buch ist tatsächlich blau. Hubert Spiegel weist in der FAZ hingegen begeistert darauf hin, dass die Autorin bei aller Spielerei eine "schier atemberaubende emotionale Tiefe und Genauigkeit" an den Tag legt. (Leseprobe als pdf)

David Mitchell
Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
Roman
Rowohlt Verlag 2012, 714 Seiten, 19,95 Euro



Der britische Schriftsteller David Mitchell, dessen kühner Roman "Wolkenatlas" verfilmt wurde (im November in unseren Kinos), hat einen neuen Roman vorgelegt, von dem sich die Kritik beeindruckt zeigt: In "Die tausend Herbste des Jacob de Zoet" kommt ein niederländischer Handelsangestellter im Jahr 1799 nach Nagasaki in eine Sonderzone im ansonsten abgeschotteten Japan. Die höfischen Intrigen, die er dort erlebt, erinnern Katharina Teutsch in der FAZ an Shakespeare, während sie die postmoderne Selbstreflexivität an Umberto Eco denken lässt. Mitchell lasse "den Leser durch die gut 700 Seiten hindurchgleiten wie ein Handelsschiff, das von günstigen Winden über die Weltmeere getrieben wird", urteilt Cristina Nord in der taz, während Wieland Freund in der Welt durch die Wahl seiner Metaphern wohl das Moderne an diesem historischen Roman betonen möchte, wenn er schreibt, er sei "so schnell wie ein Glasfaserkabel" und das pessimistische Menschenbild wirke "wie eine Firewall, die die Erzählung vor allerlei Ethno-Kitsch schützt". Sein Fazit: "Ein Schmöker für das komplizierte 21. Jahrhundert".

Antonio Ungar
Drei weiße Särge
Roman
S. Fischer Verlag 2012, 288 Seiten, 19,99 Euro



Der lateinamerikanische Fantasiestaat Miranda, in dem Antonio Ungar seinen Roman "Drei weiße Särge" angesiedelt hat, entspricht zu großen Teilen seinem Heimatland Kolumbien, angereichert um Elemente, die auf Venezuela, Peru und Bolivien verweisen. Ein düsteres Szenario entfaltet sich dort um einen Taugenichts, der die Identität eines getöteten Oppositionspolitikers annimmt und in die korrupte politische Welt eindringt. Turbulent und rasant geht es dabei zu, berichtet ein angeregter Sebastian Schoepp in der SZ, wobei die Geschichte von einem Schelmenroman zu einem Politthriller wechsele und schließlich zu einer Satire werde - nicht nur auf die lateinamerikanische Politik (von der man im Übrigen, wie Schoepp versichert, nicht viel verstehen muss, um diesen Roman zu genießen), sondern auch auf die literarischen Genres, derer sich Ungar bedient. Der Autor wurde für das Buch mit dem Herralde-Preis ausgezeichnet - zu recht, findet die FAZ mit Verweis auf ein Zitat Jorge Herraldes: "Über das Tragische zu lachen ist sehr kolumbianisch."

Salman Rushdie
Joseph Anton
Die Autobiografie
C. Bertelsmann Verlag 2012, 720 Seiten, 24,99 Euro



Immer wenn Mohammed-Karikaturen oder Blödsinnsfilme Aufruhr in der islamischen Welt entfachen, merkt man, dass die Diskussion um die Fatwa des Ajatollah Chomeini gegen Salman Rushdie in ihrem Kern noch immer nicht ausgefochten ist. Denn auch wenn heute heute niemand mehr die Infamie des Mordaufrufs bestreiten würde, erinnert Salman Rushdie in seiner Autobiografie nicht von ungefähr daran, wie heftig auch im Westen seine "Satanische Verse" angegriffen wurden und was es bedeutete, zehn Jahre als Joseph Anton im Untergrund zu leben, wobei er lange Zeit nur auf eine Handvoll Freunde zählen konnte. In der FAZ freut sich Nils Minkmar sehr über das Buch und erkennt in ihm einen Beweis für das Scheitern der Islamisten. In der SZ würdigt Thomas Steinfeld, wie Rushdie Weltgeschichte mit seinem persönlichen Schicksal verbindet. Angela Schader meldet in der NZZ trotz eines positiven Gesamturteils Bedenken gegen das Namedropping an.


Sachbuch

Akira Iriye, Jürgen Osterhammel, Emily S. Rosenberg (Hrsg.)
Weltmärkte und Weltkriege 1870-1945
Geschichte der Welt: Band 5
C. H. Beck Verlag 2012, 1152 Seiten, 48 Euro



Eine solche Geschichte der Welt hat es noch nicht gegeben. In einer internationalen Koproduktion erzählen deutsche und amerikanische Historiker unter den Herausgebern Jürgen Osterhammel und Akira Iriye erstmals die Geschichte der Welt, nicht als Summe nationaler oder zivilisatorischer Geschichten, sondern als eine globale Geschichte. Im Zentrum des Interesses stehen nicht einzelne Ereignisse oder große Persönlichkeiten, sondern übergreifende Aspekte: die Entwicklung der modernen Staatlichkeit am Ende des 19. Jahrhunderts, die Befreiung von Sklaven und Leibeigenen, die großen Wanderungsbewegungen. Hier "präsentieren erstrangige Autoren den neuesten Kenntnisstand" zu einer Multiversalgeschichte im Marquardschen Sinne, lobt Dirk van Laak in der Zeit-Beilage. Welt-Kritiker Jacques Schuster stieß bei der Lektüre immer wieder auf Passagen "funkelnder Intellektualität". Er weist aber auch darauf hin, dass keiner der Historiker ein so guter Erzähler ist wie Golo Mann. In einem Interview mit Arno Widmann spricht Osterhammel in der FR über den veränderten Blick eines Globalhistorikers auf die geschichtliche Entwicklung: "Es gibt Fortschritt, es gibt Aufholjagden, aber es gibt auch Regression. Sie können nicht nur nacheinander auftreten, sondern auch gleichzeitig. Es gibt auch in der Moderne stillstehende Zeit, Stagnation."

Heinz Buschkowsky
Neukölln ist überall
Ullstein Verlag 2012, 400 Seiten, 19,99 Euro



Interessant zwiespältig lesen sich die Kritiken zum Buch des populären Bürgermeisters aus Neukölln. Es sei ja lebendig geschrieben, und mit Mutterwitz. Aber bei den Debatten um Integration fällt den Kritikern von SZ, FR und taz unisono natürlich erstmal Beelzebub Sarrazin ein, der Böse an sich. Dann müssen sie zwar konstatieren, dass Buschkowsky mit dessen problematischem Sozialdarwinismus gar nichts am Hut hat, dass er vielmehr aus der Praxis spricht und die Probleme beim Namen nennt. Aber was sie hören, gefällt den Kritikern trotzdem nicht, und so rücken sie Buschkowsky dann doch wieder in die Nähe von Sarrazin, schon damit alles wieder seine Ordnung hat. Anders sieht es Regina Mönch in der FAZ, die zum Beispiel Buschkowskys ursozialdemokratischen Glauben an Aufstieg durch Bildung herausstreicht. Und das liest sich dann doch etwas anders als Sarrazins Spekulationen über Genetik. In der Welt erklärt Necla Kelek, warum sie Buschkowsky schon seit Jahren schätzt.

Gilbert Simondon
Die Existenzweise technischer Objekte
Diaphanes Verlag 2012, 272 Seiten, 34,90 Euro



Gilbert Simondon ist ein Denker der Generation Foucaults und hat wie dieser an der hochelitären Ecole Normale Supérieure bei Georges Canguilhem Philosophieren gelernt. Und bei ihm selbst wiederum lernte Deleuze. Simondon ist ein Denker der Technik, der einmal nicht, wie Heidegger - so Henning Schmidgen in der FAZ -, angesichts des "Gestänges" in kulturkritische Klagen ausbricht, sondern versucht, "die Technik kulturell zu rehabilitieren". Das vorliegende Buch von 1958 gilt in Frankreich längst als ein Klassiker der Technikphilosophie. Interessant ist auch, so Schmidgen, dass Simondon sehr früh das Denken in Netzwerken thematisierte, das angesichts des Internets besonders aktuell sein mag. (Leseprobe als pdf)

Saul Friedländer
Franz Kafka
C. H. Beck Verlag 2012, 252 Seiten, 19,95 Euro



Saul Friedländer, Autor eines Standardwerks über die Judenvernichtung, wurde wie Kafka in einer deutschsprachigen Familie in Prag geboren und kann sich schon von daher wahrscheinlich wie kein anderer in diese untergegangene Kultur einfühlen. Allerdings ist sein Herangehen eigentlich kein besonders kulturelles, sondern ein psychologisches: Er sieht Kafka als Autor einer "Scham und Schuld", die sich kaum aus jüdischen Motiven, sondern eher aus einer sexuellen Andersartigkeit speise. Kafkas ewige Krise als sexuelle: Lothar Müller hat das in der SZ mit Interesse gelesen: Statt jüdische Heilige also homoerotische Fantasien. Müller folgt dem "Indizienprozess" mit Spannung, kann aber nicht übersehen, dass bei aller Akribie des Historikers immer eine Lücke bleibt, in der sich Zweifel einnisten und mögliches Missverstehen. Ähnlich sehen es Alexander Cammann in der Zeit und Tilman Krause in der Welt, wobei letzterer vermutet, dass Kafka generell eine "Abscheu vor der ausgelebten Sexualität" hatte. (Leseprobe als pdf)

Norbert Mappes-Niediek
Arme Roma, böse Zigeuner
Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt
Ch. Links Verlag 2012, 207 Seiten, 16,90 Euro



Seit zwanzig Jahren befasst sich Norbert Mappes-Niediek mit dem Balkan, und dass er sein neues Buch den Roma in Osteuropa widmet, begrüßen die Rezensenten sehr, wie Sabine Vogel in der FR und Rüdiger Rossig in der taz. Dabei schont Mappes-Niediek niemanden und kritisiert Vorurteile ebenso konsequent wie romantisierende Gypsy-Folklore. Soziologie statt Ethnologie, lautet seine Devise, Armutsbekämpfung statt Minderheitenpolitik. So erfahren die Kritiker etwa, dass Roma in Rumänien bis 1855 in Sklaverei gehalten wurden und anderswo kein Land besitzen durften, und wundern sich nicht mehr über mangelnde Arbeitsmoral, fehlenden Nationalstolz und Armutskriminalität.