Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.08.2002. Die FAZ möchte Bayreuth mit Wagner revolutionieren. Die NZZ befasst sich mit mutigen Neuinterpretationen des Melkstuhls. Die SZ sieht einen neuen Boom der Minimalarchitektur auf uns zu eilen. In der taz schildert Jochen Schmidt die unsäglichen Leiden der DDR-Jugend an ihrem modischen Elend. Die FR feiert die Kleinfamilie.

FAZ, 05.08.2002

Wolfgang Sandner misstraut all jenen Neuerern, die in Bayreuth andere Komponisten als Wagner aufgeführt sehen möchten. Er plädiert eher für eine Erneuerung der Wagner-Aufführungen durch Quellenstudien: "Vielleicht liegt die sinnvolle Erneuerung von Bayreuth ja eher in Wagners Musik selbst und in ihrer gründlichen Ausdeutung statt in der pauschalen, selbst schon wieder zum Klischee gewordenen, weil perpetuierenden Aufforderung zum Umsturz."

Auf der Medienseite fürchtet Michael Hanfeld angesichts der empörten Reaktionen des Presserats und des Deutschen Journalistenverbandes auf die Bonusmeilen-Berichterstattung der Bild, dass die "Standesvertreter der sogenannten vierten Gewalt offenbar von allen guten Geistern verlassen" sind. Und die Bundesregierung greift gar "zu Mitteln, die eines Franz Josef Strauß würdig wären: Franz Müntefering, der einem Landesverband der SPD vorsteht, bei dem man langsam den Überblick verliert, welche führenden Funktionäre der Korruption verdächtigt werden und einsitzen und welche nicht, stellt Strafanzeige gegen die Bild wegen Verstoßes gegen den Datenschutz." Na ja, mit dem richtigen Datenschutz wäre der Kölner Skandal ja gar nicht aufgeflogen. (Übrigens steht Franz Müntefering seit Dezember 2001 keinem Landesverband der SPD mehr vor.)

Weiteres: Gerhard Stadelmaier lobt Igor Bauersimas Inszenierung von Neil LaButes Stück "Maß der Dinge" in Salzburg als die "erste, ein bisschen weltläufige, festspielwürdige Schauspielproduktion". Joachim Müller-Jung meldet die genetische Entzifferung der Maus. In der Reihe von Antworten auf Hofmannsthals "Chandos"-Brief ist heute Jenny Erpenbeck ("Tand") dran. Andreas Rossmann protestiert gegen Pläne der Regierung von NRW, die Dortmunder Musikhochschule zu schließen. In der Wahlkampfserie "Im Milieu" begleitet Markus Reiter den Grünen-Politiker Rezzo Schlauch zum Christopher Street Day nach Freiburg. Im Gespräch mit Andreas Rossmann protestiert die Künstlerin Rosemarie Trockel gegen den Abriss des Josef-Haubrich-Forums in Köln, das einem neuen Museumszentrum weichen soll. Michael Allmaier resümiert das Festival von Locarno. Hans-Peter Riese berichtet von der Stiftung von 86 Gemälden moderner amerikanischer Kunst an das Whitney Museum in New York, das damit zu einer immer wichtigeren Konkurrenz für das Moma werde.

Auf der letzten Seite schreibt Dietmar Dath ein kleines Porträt über Alyson Hannigan, die man aus den "American Pie"-Filmen kennt. Katja Gelinsky berichtet, dass die "Mount Vernon Ladies' Association", die das zur Gedenkstätte umgeweihte Landhaus George Washingtons betreut, nun auch die Jugend durch ein neues Orientierungszentrum anziehen will. Und Ellen Kohlhaas schickt eine Reportage vom Opernfestival im ungarischen Miskolc, das zum "Salzburg des Ostens" werden will.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Aquarellen von Thomas Girtin in London, eine Ausstellung über Jacques Tati in Paris (dazu gehört die erfreuliche Nachricht, dass Tatis Filme in neuen Kopien zirkulieren), die Ausstellung "Die Hand des Architekten" im Alten Museum Berlin, mit der der Kurator Josef Paul Kleihues seine Absicht untermauert, die Schinkelsche Bauakademie wiederzuerrichten.

TAZ, 05.08.2002

Sabine Zurmühl schickt einen Zwischenbericht aus Bayreuth. Sie will bemerkt haben, dass, wenn auch Brigitte Hamanns Bestseller "Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth" noch nicht auf warme Zustimmung des Hauses Wagner stoßen dürfte, die Luft auf dem Grünen Hügel insgesamt etwas freier geworden ist. Ein Beispiel dafür ist ihr, dass die Theaterwissenschaftlerin Susanne Vill zu diesen Festspielen Studenten aus Tel Aviv, junge israelische Regisseure und Bühnenbildner eingeladen hat, für die Wolfgang Wagner Karten und koscheres Büfett spendierte. 

Jochen Schmidt liefert eine (gar nicht so) kurze Geschichte über seine Leiden als Jugendlicher in der DDR: "Ich weiß noch, welche physischen Krämpfe mir Schlaghosen verursachten. Ich wachte nachts auf und vor meiner Nase lag auf einem Stuhl eines dieser Ungetüme. Mit großen runden Lederflicken auf den Knien. Die Hosenbeine waren mit Stoffbändern verlängert worden, die es im Intershop gab und auf denen "Jeans" stand. Ich konnte nicht mehr einschlafen vor Kummer und hatte Angst vor der Zukunft. Aber ich fand ein Gegenmittel: Gummilitze!"

Weitere Artikel: Katrin Bettina Müller widmet sich der auf der Dokumenta gezeigten Videoinstallation "The House" der finnischen Künstlerin Eija-Liisa Ahtilas. Gabriele Lesser erinnert an den polnischen Schriftsteller und Reformpädagogen Janusz Korczak. In der Rubrik "personal der wahl" gefällt Cristina Nord, wie Guido Westerwelle mit seiner Homosexualität umgeht. Und Harald Fricke erfindet zu Marilyn Monroes 40. Todestag das fantastische Wort der "Glitterkleiderkassenbrillenhochzeitsdiamantenbestefreundinukuleleblondine".

Und schließlich Tom.

FR, 05.08.2002

Mageres Montags-Sommer-Feuilletons heute: Helmut Höge denkt über das Kunststück Kleinfamilie nach und meint, dass man "die Kleinfamilie als den Ort bezeichnen" könne, "wo Natur in Kultur überführt" werde. "Es sind riesige gesellschaftliche Maschinen, die da zur Entstehung und Stabilisierung der Kleinfamilie, sowie nach deren Auseinanderbrechen in Kraft treten. Und es werden immer mehr: Schon gibt es bewaffnete Schulpolizisten, eine spezielle Schul-Sicherheitstechnik, dann immer wieder Kampagnen wie 'Jugend forscht' und 'Jugend gegen Drogen in die Sportvereine', Väter-Stammtische, Häuser für geschlagene Frauen oder Männer, elektronische Babysitter, Tauschbörsen für Kinderbekleidung, Kinderwagen, Kinder-Sorgentelefone, Kinder-Auffangheime, Babyklappen..."

Besprochen werden Igor Bauersima Inszenierung von Neil LaButes Stück "Das Maß der Dinge" in Salzburg, Harald Szeemanns Ausstellung über "Geld und Wert - das letzte Tabu" im schweizerischen Biel, an der sich offenbar mit Sinn für Ironie auch die Schweizerische Nationalbank beteiligt hat (mehr hier), und politische Bücher, darunter der Sammelband "Des Kaisers neue Kleider" über das Imaginäre politischer Herrschaft, der Bericht eines Bundeswehrarztes aus Afghanistan "Tee mit dem Teufel" und die Studie "Die Tat als Bild" zu Fotografien des Holocaust.

NZZ, 05.08.2002

Über eine aufsehenerregende Ausstellung berichtet Andrea Eschbach aus Lausanne. Das dortige Musee de design lud namhafte Designer, aber auch Studenten ein, den Melkstuhl, ein heute nur mehr wenig genutztes Utensil, neu zu interpretieren: "Eine schwierige Aufgabe: Denn der Melkstuhl, diese Kombination aus Holzscheibe, einzelnem Bein und Lederriemen, lässt sich kaum weiter vereinfachen. Form follows function, dies gilt auch hier. Gerade darum erstaunt die Bandbreite der ausgestellten Arbeiten."

Joachim Güntner greift ein Wort Dieter Schormanns vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels auf, wonach Kinderbücher "Zugang zu der Sprache und den Bildern, den Problemen und Lösungsansätzen der Zeit" geben sollten und hält Cornelia Funkes Buch "Herr der Diebe" dagegen, das im Ausland fast so gut läuft wie "Harry Potter": "Mit Relevanzliteratur hat Cornelia Funke wenig im Sinn... Spannung und Frische eines Textes sind auf seine Realitätstüchtigkeit nicht zu reduzieren."

Weiteres: Susanne Ayoub schildert in einer längeren Reportage das angeblich lebendige Kunsttreiben in Bagdad (in das sie allerdings die Propagangdakunst umstandslos einreiht). Urs Steiner resümiert die Kunstaktivitäten der Schweizer Expo 02. Sibylle Birrer stellt die neuen Ausgaben der Schweizer Literaturzeitschriften Drehpunkt und Zwischen den Zeilen vor. Besprochen wird Igor Bauersimas Inszenierung von Neil LaButes "Maß der Dinge" in Salzburg.

SZ, 05.08.2002

Man wolle ja niemanden verdächtigen, aber... Andrian Kreye befürchtet, das US-Präsident George Bush und sein Justizminister Ashcroft aus dem Land der Freiheit einen Spitzel-Staat machen wollen. Helfen sollen dabei das Citizen corps und das Terrorism Information and Prevention System, "besser berüchtigt als Operation Tips", wie Kreye schreibt. "Dafür sollen noch im August in zehn Großstädten rund eine Million Amerikaner als Informanten rekrutiert werden. Angesprochen werden Postboten, Lastwagenfahrer, Schaffner, Handwerker, Angestellte der Telefon-, Strom- und Gasgesellschaften, kurz: alle, die entweder Zugang zu Privatwohnungen haben oder die rund fünfhunderttausend Meilen Highways und Schienenwege der Nation im Auge haben. Was ihnen verdächtig vorkommt, sollen sie künftig rund um die Uhr unter einer zentralen Telefonnummer melden. Brian Doherty von der Monatszeitschrift Reason bemerkte daraufhin süffisant, wenn man die Zahl der ersten Informanten auf die 24 Millionen Einwohner der Teststädte umrechne, käme man auf eine höhere Spitzelquote als bei der ostdeutschen Stasi."

Holger Liebs sieht die Zukunft in der XS-Architektur wohnen: "Ein neuer Boom der Minimalarchitektur, ein Trend zum schmucken Kabäuschen in extremer Topografie ist zu beobachten. Wie in der großen Wirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre, als die Menschen ihre Stadtwohnungen aufgaben, um sich in Laubenpieper-Kolonien einzurichten, treiben immer exorbitantere City-Mieten und schrumpfende Konten die neuen Zwangs-Eremiten zur Flucht in flächen- und kostensparende Wohnkabinen auf billigem Baugrund." Und in der SZ-Debatte über die "Zukunft der Architektur" fordert heute Wolfgang Bachmann, Chefredakteur der Zeitschrift Baumeister weniger Stars und besseres Mittelmaß.

Weitere Artikel: Knut Hornbogen berichtet von Mauscheleien im Essener Design-Zentrum in der Zeche Zollverein. Peter Richter erinnert an den norwegischen Mathematiker Niels Hendrik Abel (mehr hier), zu dessen zweihundertstem Geburtag nun auch die Mathematik so etwas wie einen Nobelpreis erhält: den Abel-Preis. Gottfried Knapp verabschiedet sich schon einmal - "mit Tränen in den Augen" - von Wolfgang Wagner, dessen letzte Bayreuth-Inszenierung, die "Meistersinger" mit Christian Thielemann, er noch einmal für einen "großen Erfolg" hält.

Auf der Medien-Seite macht der Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz den Zeitungen Mut: Wenn sie es schaffen, die Wunden zu heilen, die die neuen Medien schlagen, werden sie sich auch in Zukunft ganz gut halten können.

Besprochen werden Igor Bauersima Inszenierung von Neil LaButes "The Shape of Things" bei den Salzburger Festspielen, das neue Primal Scream-Album von Bobby Gillespie (mehr hier, sofern man sehr viel Geduld hat), dem "letzten großen britischen Drogenmusiker", und Bücher, darunter zwei politische Bücher, zwei neue Bände über Marilyn Monroe, eine Untersuchung zu Jean-Jacques Rousseaus "Gesellschaftsvertrag", ein Gedichtband von Johannes Kühn oder eine neue Exegese des Alten Testaments (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).