Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.10.2002. Martin Walser darf Marcel Reich-Ranicki ruhig hassen, findet Imre Kertesz in der Zeit. Die NZZ denkt über den Popjournalismus nach. In der SZ grüßt die RAF. In der taz glaubt Richard Ford, dass Präsident Bush nicht den Mut zum Krieg gegen den Irak hat. "Baader"-Regisseur Christopher Roth erklärt in der FAZ das Wesentliche des Terrorismus. Und die FR findet: Castorf geht ans Herz.

Zeit, 17.10.2002

In einem recht unterhaltsam zu lesenden Interview mit Iris Radisch gesteht Imre Kertesz (mehr hier) seinem Kollegen Martin Walser das Recht zu, Marcel Reich-Ranicki in einer Romanfigur zu karikieren. "Herr Reich-Ranicki ist kein Adonis. Das ist wahr. Aber es gibt sehr schöne Juden. Warum soll es antisemitisch sein, wenn diese Romanfigur unansehnlich ist? Diese Figur ist unsympathisch, und zufällig ist sie Jude: Aber in erster Linie ist sie Kritiker. Und die meisten Juden sind keine Kritiker. Warum darf ein Autor seinen Kritiker nicht hassen?" Kertesz kritisiert auch Antisemitismus im deutschen Wahlkampf, findet ihn in seiner Heimat Ungarn aber noch schlimmer: "Es ist beinahe so ekelhaft wie in den dreißiger Jahren." Und schließlich macht er Pläne für seine Rede in Stockholm: "Sie können sicher sein, dass ich meine Nobelpreisrede nicht schreiben werde, ohne die von Camus nachgelesen zu haben. Die Postmoderne und ihre Relativierungen sind vorbei. Wir brauchen wieder Stellungnahmen." (Ein Dossier zum Streit um Walsers Roman "Tod eines Kritikers" finden Sie hier.)

Weitere Artikel: Thomas E. Schmidt erklärt im Aufmacher des Feuilletons "warum der Intellektuelle sich heute die Verachtung der Gegenwart nicht leisten kann." Thomas Assheuer betrachtet die Vergleiche von Terroranschlägen oder Serienverbrechen mit Büchern und Filmen, die man konsumiert hat, als Abwehr von Traumata: "Wir glauben immer noch an die dümmste aller Fabeln, wonach die Realität eine Erfindung der Medien sei." (Wir dagegen glauben, dass nur festangestellte Redakteure und Uni-Dozenten daran glauben.) Barbara Lehmann schickt eine Reportage aus Moskau, wo sie Wladimir Sorokin und Repräsentanten der Organisation "Gemeinsamer Weg" getroffen hat, die den Schriftsteller verfolgt, weil er Stalin und Putin nicht ausreichend respektiert. Hanno Rauterberg wundert sich über Yoga-Übungen in Museen - offensichtlich der neueste Schrei unter Kunstliebhabern - und andere Versuche, der Kunst therapeutische Wirkungen abzuringen.

Mirko Weber porträtiert den Regisseur Jossi Wieler. Fritz J. Raddatz gratuliert Günter Grass zum Fünfundsiebzigsten. Hanno Rauterberg interviewt das Architektenpaar Robert Venturi und Denise Scott-Brown, die einst mit dem Buch "Learning from Las Vegas" berühmt wurden und bis heute beteuern: "Unsere Vorliebe gilt dem Gewöhnlichen und dem Hässlichen."

Besprochen werden CDs des Jazzpianisten Brad Mehldau, Dom Rotheroes Film "My Brother Tom" und Christopher Roths Film "Baader", zu dem sich im Leben übrigens auch die Ex-Terroristin Astrid Proll äußert.

Im politischen Teil ist ferner auf einen Essay von Walter Laqueur hinzuweisen, der erklärt, warum er einen Krieg gegen den Irak befürwortet.

NZZ, 17.10.2002

Gleich zwei längere Artikel widmen sich heute dem Popjournalismus in seiner herkömmlichen Form. Weshalb das Pop-Interview wichtiger ist als die Pop-Kritik, versucht Ueli Bernays zu ergründen: "Im Vergleich zur Kunst, wo also das hohe Gericht des Feuilletons für Hierarchie und Ordnung sorgt, ist Pop demokratischer - wer viel verkauft, ist nicht unbedingt ein Genie, er gilt aber immerhin als Star. Deshalb sind Interviews und Interviewer so wichtig: Gut placiert, das wissen die Firma, der Star und der Journalist, sind sie dem Verkauf einer CD oft dienlicher als die Musik selbst." So einfach scheint das alles aber nicht zu sein. Hanspeter Künzler schildert seine durchaus amüsanten Erfahrung als Interviewer von Popstars, kommt aber zu dem Schluss, dass früher wieder einmal alles besser gewesen sei: "Jetzt dominiert die amerikanische Industrie, die auf Effizienz getrimmt und auf die amerikanischen Verhältnisse zugeschnitten ist. Das Musikbusiness gleicht immer mehr dem Filmbusiness: Wie hier wird es nun auch im Pop Usus, dass nur noch wenige ausgesuchte Journalisten mit den Stars unter vier Augen sprechen können." Nun müsse zwangsläufig wieder mehr Gewicht auf die Musik-Kritik fallen.

Es wird außerdem berichtet, dass der 63-jährigen peruanische Schriftsteller Alfredo Bryce Echenique (mehr hier) in Barcelona für seinen Roman "El huerto de mi amada" ("Der Gemüsegarten meiner Geliebten") mit dem Planeta-Literaturpreis ausgezeichnet worden ist.

Besprochen werden Frank Castorfs Inszenierung von Dostojewskis "Idiot" an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, zwei wiederaufgelegte Theaterstücke und Gedichte von Federico Garcia Lorca, Roberto Bolanos Roman über das 68er Massaker in Mexiko, der Roman "Nie mehr schlafen" von W. F. Hermans, ein Zeitgeistroman von Hallgrimur Helgasons sowie ein politisches Buch von Uwe Pörksen, Ingeborg Kaisers biografische Recherchen zu Rosa Luxemburg, und eine Shakespeare-Studie von Stephanie Nolens (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 17.10.2002

"Ich glaube, dass der Irak-Krieg noch abgewendet werden kann", sagt der amerikanische Schriftsteller Richard Ford (mehr hier) in einem taz-Interview. "Meine Intuition sagt mir, dass ... der Präsident nicht den Mut für einen Krieg gegen den Irak hat. Diese ganzen Kriegsvorbereitungen und diese Versuche, im Kongress einen Konsens herzustellen, dass Bush die Leute auf den Kopf schlägt, um sie auf Linie zu bringen - all das lässt mich vermuten, dass, wenn er die Leute erst einmal auf Linie gebracht hat, er dann den Krieg gegen den Irak überhaupt nicht mehr braucht..... Man gibt eine extrem polarisierende Sprache aus, doch in Wirklichkeit werden zwischen den Parteien längst Kompromisse ausgehandelt, finden geheime Treffen und Absprachen statt - doch das Volk soll nichts davon erfahren."

Sebastian Deterding beschreibt das Kino als einen der wenigen öffentlichen Orte, wo wir weinen dürfen und erklärt, warum sich die Zuschauer als Elendstouristen dort im Leid der anderen spüren. Auf der Internetseite stellt Dietmar Bartz die automatische Zeitung, ein neues Programm der Suchmaschine Google vor, das Nachrichten und Bilder anderer Medien filtert: die Redaktion ist ein Rechner, Redakteure sind nicht nötig.

Besprochen werden Frank Castorfs Dostojewski-Adaption "Der Idiot" in der Berliner Volksbühne, Yvan Attals Film "Meine Frau, die Schauspielerin" (mehr hier) und das neue Buch von Norbert Bolz "Das konsumistische Manifest" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 17.10.2002

Anläßlich von 25 Jahren Deutscher Herbst grüßt im SZ-Feuilleton heute aus ferner Zeit die RAF.

Sonja Zekri sagt uns, warum die Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zum Staat, welche die RAF so beunruhigend gestellt habe, keine Rolle mehr spielt: "Im Oktober 1977 besiegte die Bundesrepublik die RAF zweifach ... Der entscheidende Sieg aber war der politische, denn der linke Terrorismus erreichte das Gegenteil dessen, was er anstrebte: Die Bundesrepublik war im Frühling nach dem bleiernen Oktober stabiler und selbstbewusster als je zuvor. Der Terror hatte die Menschen dem Staat nähergebracht. Eine Umfrage 1978 ergab, dass die Deutschen der demokratischen Ordnung in ihrem Land so stark vertrauten wie die Bürger keines anderen Landes in Europa.

Weitere Artikel zum Komplex: Holger Liebs erklärt, warum die ästhetische Auseinandersetzung mit der RAF fröhliche Wiederkehr feiert, während die politische ruht. Franziska Augstein wundert sich, warum Otto Schily als Innenminister keines der Gesetze revidierte, die sich zu seiner Zeit als Anwalt von Gudrun Enslin mit seinem rechtsstaatlichen Verständnis so schlecht vertrugen. Rainer Gansera beschreibt, wie Christopher Roth in seinem Film "Baader" das Faszinosum der Titelfigur zunächst herausstellt, durch Ironisierung und simple Zuspitzungen aber gleich wieder zerbröseln lässt.

Weitere Themen: Angesichts von Schröders frisch ernannter Regierungsmanschaft macht sich Christopher Schmidt so seine Gedanken: "Notelf oder Perspektivteam", das ist hier die Frage. Schauspieler und Rockmusiker Robert Stadlober ("Sonnenallee", "Crazy") schreibt über "Flowerpornoes"-Bandleader Tom Liwa ("War das jetzt Hippie-Scheiße oder ließ sich das mit meiner damals offen zur Schau getragenen Deutschpunkignoranz vereinbaren?") auf dessen neuer Single "Funky Sexy" er jetzt einen Gastauftritt hat.

Besprochen werden eine Franz von Stuck-Ausstellung in der Münchner Villa Stuck, die in dem Jugendstilkünstler den Graphiker und Entwerfer der eigenen Künstlerexistenz entdeckt, Rob Cohens Action-Film "Triple X" (hier ein Interview mit dem Hauptdarsteller Vin Diesel) und Bücher, darunter Ralph Freedmanns Biografie über Rilke (mehr hier).


FR, 17.10.2002

"Pollesch gibt zu denken. Castorf geht ans Herz", schreibt Petra Kohse über die Doppelpremiere in der Berliner Volksbühne. In Rene Polleschs neuem Diskurstheaterstück "24 Stunden sind kein Tag. Escape from New York" hat sie zunächst den Diskurs langsam versiegen gesehen. In Frank Castorfs Dostojewski-Adaption "Der Idiot" - drei Tage später im selben Bühnenbild, Bert Neumanns Neustadt nämlich - konnte sie dann manchmal simultan beobachten, wie die Darsteller spielen, wie sie dabei gefilmt werden und wie sie auf der Leinwand wirken. "Dass sich dies, auch in den grotesken Zuspitzungen und ohne Aus-der-Rolle-Fallen, nach echtem Leben anfühlt, ist ein Rätsel dieser Schauspielkunst."

Weitere Themen: Gemma Pörzgen erinnert an die Kladovo-Tragödie vor sechzig Jahren, womit die gescheiterte Flucht von 1244 jüdischen Flüchtlingen überwiegend österreichischer Herkunft gemeint ist, die versuchten, illegal nach Palästina zu gelangen, doch im serbischen Donauhafen Kladovo landeten, den sie nicht mehr verlassen durften und deshalb 1941 dort der Wehrmacht in die Hände fielen. Ulrich Sonnenschein hat mit der Schweizer Edition Epoca eine Perle unter den Kleinverlagen entdeckt. Anneke Bokern berichtet von der Museumskrise in Amsterdam, die Kolumne Times Mager befasst sich mit der Krise des Fiat-Konzerns, und auf der Medienseite wird über die 16. Medientage in München berichtet, die ganz im Zeichen der Krise stehen.

Besprochen werden Christopher Roths Film "Baader", Rob Cohens Agententhriller "Triple X" (mehr hier) ("ein doofer 007-Wiederaufguss für die Videogame-Generation") und Bücher, darunter Walter Kempowskis kollektives Russlandfeldzug-Tagebuch "Das Echolot. Barbarossa 1941" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr)


FAZ, 17.10.2002

Hans-Peter Riese, Leiter des ARD-Gruppenstudios in Washington, erzählt, was die Terroranschläge am 11. September von den Anschlägen des Snipers unterscheidet. "Die Nation hat auch nach dem 11. September Angst vor einer unfassbaren und schwer zu bekämpfenden Gefahr gespürt. Aber das war eine kollektive Angst, die schnell verdrängt wurde, wobei die Politik mit ihrer Kriegsrhetorik viel zur Verdrängung beigetragen hat. Diese neue Erfahrung ist individuell, mit ihr muss jeder allein oder allenfalls in der Kleingruppe Familie fertig werden ... Die Angst vor dem anonymen Killer hat sich überall, in jeder Familie, jeder Gruppe, jedem Arbeitskollektiv und ohnehin in jedem einzelnen, festgesetzt, sie beginnt das Leben zu beeinflussen, abzuschnüren und selbst im täglichen Ablauf Spuren zu hinterlassen."

Auf der Filmseite erklärt der Regisseur Christopher Roth ("Baader") im Interview, was ihn an der ersten RAF-Generation so interessiert hat. "Das Interessante an der ersten Generation ist doch, dass sie auch von schnellen Autos, guter Kleidung und Musik, vom geilen Leben fasziniert waren. Die Leute fragen einen immer wieder: 'Glaubst du wirklich, dass Marxisten sich so für Lippenstift interessieren?' Auf jeden Fall!" Das "Wesentliche am Terrorismus", meint Roth, ist die Inszenierung, "dass man Bilder schafft, die die Leute in Bezug setzen und zugleich so unbegreiflich sind, dass man denkt, nichts ist mehr wie vorher." (Die Spätgeborenen können sich beim Deutschen Historischen Museum über Andreas Baader informieren.)

Weitere Artikel: Wolfgang Schneider war auf einer Tagung über Wolfgang Koeppen in München. E.B. berichtet, dass in Berlin ein verschollener Wandbildzyklus von Bernhard Heisig wieder aufgetaucht ist. Heike Schmoll gratuliert dem Alttestamentler Rudolf Smend zum Siebzigsten. Und auf der letzten Seite erzählt Josef Oehrlein, wie neue deutsche Stücke dem chilenischen Theater helfen, "Diktatur-Reste" zu schleifen.

Besprochen werden ein Konzert des amerikanischen Folksängers Dan Bern in Offenburg, Castorfs "Idiot" an der Berliner Volksbühne mit einer "souverän verstiegenen" Sophie Rois als Lisaweta Prokofjewna Jepantschina, Michael Hampes Inszenierung der "Frau ohne Schatten" in Athen, die erste Ausstellung zur Industriearchitektur von Fritz Schupp und Martin Kremmer in der Essener Zeche Zollverein und der Film "Meine Frau, die Schauspielerin".