Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.10.2002. Die Zeitungen spekulieren heute ausgiebig, wer das Gerücht in die Welt gesetzt hat, die FAZ wolle ihre fünf Herausgeber entmachten. Außerdem: In der FR schwärmt Falk Richter von einem Arturo Ui mit Al Pacino. Die taz sinniert über die Macht des Trivialen in den Medien. Die NZZ stellt Jekaterina Djogot, die Theoretikerin der Sowjetkunst vor. In der SZ erklärt Wolf Lepenies die Verwandtschaft zwischen amerikanischem Imperialismus und französischem Messianismus.

SZ, 30.10.2002

Auf der Medienseite widmet sich Hans Leyendecker dem Streitfall FAZ versus Welt-Chefredakteur Wolfram Weimer. Die Frage ist: "Wie gelangte die Spekulation, bei der FAZ solle das fünfköpfige Herausgebergremium abgelöst und durch den derzeitigen Welt-Chefredakteur Wolfram Weimer ersetzt werden, in den Frankfurter Platow-Brief?" Laut Leyendecker vermutet Weimar, "der Platow-Dienst wurde auf die falsche Spur gebracht, um in dem dann entstehenden Durcheinander eine Bestandsgarantie" für die Herausgeber zu bekommen.

Im Feuilleton erklärt Wolf Lepenies die Verwandtschaft zwischen amerikanischem Imperialismus und französischem Messianismus. Die Ähnlichkeit dieser beiden Haltungen mache klar, warum die USA so befremdet auf den französischen Widerstand reagieren: Denn "es waren nicht die Amerikaner, es waren Franzosen, die als Erste zur Überzeugung gelangten, notfalls müssten sozialer Fortschritt, Freiheit und Zivilisation auch mit Gewalt durchgesetzt werden. Nach 1792 erfasste die französischen Revolutionäre ein missionarischer Furor, der im Krieg nach außen die notwendige Fortsetzung der Revolution im Inneren sah. Die Demokratie wurde kriegerisch und sie wurde es mit bestem Gewissen. Dass die Welt auf die Dauer nur dann zu Sicherheit und Stabilität finden wird, wenn man überall, und notfalls auch mit Gewalt, die Demokratie und die Menschenrechte durchsetzt, ist eine zutiefst französische Idee. Diese Idee hat ihren Einfluss auf die amerikanische Politik nicht verfehlt."

Susan Vahabzadeh hat es geschafft, sich mit dem bekanntlich schwierigen Interview-Partner Anthony Hopkins über Schauspielunterricht zu unterhalten. Holger Liebs erklärt, warum jetzt die Zeiten des Luxus erst anfangen. Dazu gestellt sind elf Skizzen zu elf Dingen, die uns teuer sind, wie etwa zum Strand, zum Feuilleton, zur Wahrheit oder zum Becker. "Jby zeigt sich skeptisch gegenüber der deutschen kulturpolitischen Selbstzufriedenheit. Florian Welle war auf der dialogarmen Bonner Tagung des "Forums der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland" zum Thema Luft. Patrick Illinger fragt sich, wie sinnvoll Computer im Klassenzimmer sind. Verena Auffermann applaudiert zum 100. Druck der Friedenauer Presse. Und gemeldet wird, dass das Moskauer Musical "Nord-Ost" die Geiselnahme voraussichtlich nicht überleben wird.

Besprochen werden Filme - "Roter Drache", die erste Folge von Brett Ratners Hannibal-Lecter-Trilogie und Maria von Helands Film "Große Mädchen weinen nicht" -, Harry Kupfers "Carmen"-Inszenierung in der Gläsernen Manufaktur in Dresden, zwei Fotografie-Ausstellungen in Hamburg und Bücher: darunter Harald Hartungs neuer Gedichtband "Langsamer träumen", und Sachbücher, etwa über Brechts frühe Lyrik oder den Einfluss der Missionare in Madagaskar (siehe auch die Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 30.10.2002

Auf der Medienseite druckt die FR den Brief des Welt-Chefredakteur Wolfram Weimer, in dem er bestreitet, die Meldung über die Abschaffung des Herausgebergremiums der FAZ lanciert habe: "Ich für meinen Teil", heißt es darin, "bin sehr verärgert, aus schierem Zufall mitten in die offenen Kabalen der FAZ-Interna geraten zu sein. Die Entmachtungsphantasien einiger Herausgeber und ihre Furcht vor Sanierern entlarven sich selbst."

Außerdem wird gemeldet, dass neben der WAZ jetzt auch Holtzbrinck für die Süddeutsche Zeitung bietet.

Der Theaterregisseur und Autor Falk Richter berichtet von einer New Yorker Aufführung des "Arturo Ui" mit Al Pacino, bei der unmissverständlich der amerikanische Präsident ins Visier gerät. Und so atmet er erleichtert auf: "Endlich! ... Die Lähmung, in die Künstler und Intellektuelle gefallen sind, scheint vorbei. Bislang schützte sich das System Bush weltweit gegen Kritik, wer Bushs Politik kritisierte, wurde als antiamerikanisch beschimpft und war ein Freund der Terroristen." Doch im Gespräch mit dem Soziologen Richard Sennett, den Richter am Nachmittag vor der Aufführung getroffen hat, zeigt sich, wieviel tiefgreifender die Kritik sein müsste. So erklärt Sennett: "Bush hat das Ende der Narration eingeleitet, er hat die Soap Opera zu CNN gebracht. Amerika hat keine Geschichte mehr, im rauschenden Konsens vergessen wir alles, was vor dem 11. September passiert ist, 'das Böse' taucht plötzlich auf wie eine Comicfigur und muss von 'dem Guten' bekämpft werden. Die Soap Opera ist die Dramaturgie des Stillstandes: Das Gute bleibt das Gute, egal, wie es handelt. Diese Lebenslüge verhindert die Lösung aller jetzt anstehenden Konflikte des neuen Jahrtausends."

Weitere Artikel: Gabriela Vitiello berichtet, dass in Italien der Protest gegen Berlusconi weiter zunimmt, und erklärt, was ihm im Wege steht. Times mager seufzt über Claudia Schiffers Engagement. Daniel Kothenschulte erklärt anlässlich der Viennale, warum wir Österreich um seine Filmkultur beneiden müssen. Elke Buhr schreibt über das Revival der Punkband "Fehlfarben". Der Verleger und Kunstsammler Lothar Schirmer ruft zur Protest-Aktion "Kakteen für den Kanzler" auf. Christoph Schröder war im Frankfurter Literaturhaus, wo sich koreanische Autoren vorgestellt haben.

Gemeldet wird, dass der Vatikan die Quellen über die Deutschlandpolitik von Papst Pius XII. freigeben will und dass Steven Spielbergs Archiv jüdischer Dokumentarfilme ins Internet gestellt wird.

FAZ, 30.10.2002

Die FAZ hat, um den Gerüchten über eine Abschaffung ihres Herausgebergremiums zu begegnen, ein Interview mit Wolfgang Bernhardt, dem designierten Aufsichtsratsvorsitzenden der FAZ GmbH beantragt. Dieser gibt folgendes zu Protokoll: Am Herausgeberstatut der FAZ wird nicht gerüttelt. FAZ-Börsenradio und die Buchverlage werden verkauft. Die Online-Redaktion von FAZ.net wird aufgelöst und FAZ.net mit FAZ.de zusammengehen. Zur Zukunft der FAZ Sonntagszeitung heißt es unkonkret: "Wir alle haben Freude daran, dass sie sich so gut entwickelt." Schließlich prophezeit Herr Bernhardt, dass die FAZ GmbH das Jahr 2002 ohne Bankschulden abschließen wird. Und wie das in der deutschen Wirtschaft so üblich ist, liegt die Schuld an der Krise nie am eigenen Management: "Was von außen auf uns eindringt, ist zum Teil Konjunktur, aber es ist mehr als das. Es ist auch die Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik, die sich unmittelbar und negativ auf unser Anzeigenaufkommen und auf die gesamte - ohnehin gedrückte - Stimmung in der Wirtschaft auswirkt."

Weitere Artikel: Paul Ingendaay beschreibt die begeisterten Reaktionen der spanischen Kritik auf Javier Marias' neuen Roman "Tu rostro manana". Jürgen Kaube fasst Schröders Regierungserklärung mit dem Satz "Vollkasko oder Barbarei" zusammen. Jürg Altwegg wirft einen Blick in französische Zeitschriften, die Napoleon als Vater Europas feiern. Wolfgang Burgdorf war auf einer Tagung über "Fürst und geistliche Herrschaft im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit" in München.

Auf der letzten Seite erinnert sich Joachim Hoppe, Offizier der Internationalen Schutztruppe ISAF, an Begegnungen in Afghanistan. Und Heinrich Wefing porträtiert den kalifornischen Autor und Kritiker Dana Gioia.

Besprochen werden Brett Rattners Hannibal-Lecter-Film "Roter Drache" mit Anthony Hopkins ("Einst sollte einem das Lachen im Hals stecken bleiben - nun darf man sich mit dem Menschenfresser voll und ganz identifizieren", schreibt Michael Althen, der sich dennoch unterhalten hat.), Christine Mielitz' Inszenierung der "Meistersinger" in Dortmund, Stefanie Sycholts Spielfilmdebüt "Malunde", eine Ausstellung mit Werken von Daniel Richter im Düsseldorfer K21, der Ballettabend "baRock" an der Komischen Oper Berlin, eine Stephan-von-Huene-Retrospektive im Münchner Haus der Kunst und Bücher, darunter Johannes Hösles Erinnerungen, zwei Bücher zur Embryonendebatte und politische Bücher (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 30.10.2002

Im Schlagloch sinniert Klaus Kreimeier über die Macht des Trivialen in den Medien. Die "vermischten Nachrichten" machten unsere Welt immer mehr zu einer grausamen "Scherbenwelt", die nur noch das Triviale "kitten" kann. Doch gewisse Vorurteile den Medien gegenüber seien einfach veraltet: "Der 'terroristische Weltkrieg', wie der Spiegel wortbombastisch, aber sprachlos die aktuelle globale Lage beschreibt, stellt neue Ansprüche an die traditionellen Muster der Komplexitätsreduktion. Der altlinke Verdacht, mediale Berichterstattung sei nichts als ein Gebräu aus Sentiment und Sensation und verschleiere die 'Zusammenhänge', sticht nicht mehr."

Weitere Artikel: Sven von Reden meint, dass die Stärke der Viennale in der Retrospektive liegt. Tobi Müller prophezeit, dass Christoph Marthalers Verbleib am Zürcher Schauspielhaus keineswegs die Wogen glätten wird. Anne Huffschmid porträtiert die indianische Sängerin Lila Downs. Hans Nieswandt schreibt über die DJ-Diktatur im Nachtleben, und Christian Broecking stellt den Allround-Musiker George Lewis vor, der diese Woche auf dem Berliner Jazzfest auftritt.

Auf der Medienseite zeigt sich Alf Ihle beeindruckt von Gerd Kroskes TV-Porträt des schweigsamen "Boxerprinzen" Norbert Grupe, und Sascha Tegtmeier berichtet, dass die arbeitlosen Redakteure des "Jetzt"-Magazins der SZ im neubegründeten politischen Bundesjugendmagazin "Fluter" eine Bleibe gefunden haben.

Und schließlich TOM.

NZZ, 30.10.2002

Maja Turowskaja stellt in der Reihe "Russland persönlich" die Kunstwissenschaftlerin und Kritikerin Jekaterina Djogot vor, die sich vor allem durch ihre geistige Unabhängigkeit auszeichne: "Jekaterina Djogot hatte Glück. Sie absolvierte vor unserer kapitalistischen Revolution ein kunstwissenschaftliches Studium an der Moskauer Universität und hatte, um Suchowo-Kobylin zu paraphrasieren, noch 'die fröhlichen Breschnew-Zeiten' miterlebt. Die neue postsowjetische Welt nahm sie gleich voll und ganz in Anspruch. Das Wichtigste aber war die Überschreitung der Zeitgrenze, denn dieser Akt gab ihrer 'Kreativität' die Richtung vor (oder ihrem 'Schöpfertum', wie man früher gesagt hätte). Sie wurde Kritikerin und Theoretikerin der Sowjetkunst, im weiteren Sinne der Kunst des 20. Jahrhunderts. Jedenfalls dessen, was aus ihrer Sicht für Kunst gelten kann. Mit Ästhetik hat das wenig zu tun"

Weitere Artikel: Christian Wildhagen würdigt den Dirigenten Eugen Jochum zu dessen Hundertsten, da dieser "einen vordersten Platz unter den Sachwaltern der Musik" einnimmt. Neben dessen persönlicher Integrität, auch unter den Nationalsozialisten, habe sich Jochum sowohl duch den Aufbau des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks Verdienste erworben als auch als Bruckner-Interpret. Trotzdem schien "der erklärte Diener der Musik vor allem ein Opfer seiner eigenen Bescheidenheit geworden zu sein".

Besprochen werden die Architektur-Ausstellung über "Latente Utopien" in Graz, das Festival für Musikfilme im Louvre, die Aufführung von "Amerika" in Luzern, eine neue Einspielung von Verdis "Troubadour" und Bücher, darunter Dan Diners Buch über den deutschen Antiamerikanismus (siehe auch unsere Bücherschau um 14 Uhr).