Heute in den Feuilletons

Hausgemachte Schande

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.11.2008. In der taz wittert Adam Krzeminski niedere Motive hinter der Berichterstattung über Milan Kunderas möglichen Verrat an Miroslav Dvorecek. Der Freitag sieht das ganz anders. Die Welt zitiert Hayek gegen Marx. Die NZZ spricht futuristically mit den Rapperinnen von Yo Majesty. Die SZ kommentiert das Urteil des BGH zur Frage, ob man Kraftwerk sampeln darf.

TAZ, 21.11.2008

Adam Krzeminski wittert auf der Meinungsseite niedere Motive hinter der Berichterstattung über Milan Kunderas möglichen Verrat an einem jungen Kurier des amerikanischen Geheimdienstes im Jahr 1950 (mehr hier): "Nun mag man sagen, wer sich in die Öffentlichkeit begibt, der kann auch von ihr hingerichtet, verhöhnt oder schmählich ignoriert werden. Doch Das heutige Wühlen in den Biografien berühmter Autoren gleicht mehr einem Wettlauf von Spürhunden. (...) Das 20. Jahrhundert war eine Epoche totalitärer Ideologien und Staaten, die Einzelbiografien bis tief ins Private geprägt haben. Die Verstrickung war so engmaschig, dass nur sehr wenige eine unbefleckte Weste davontragen konnten. So hat jedes Land, das mit einem totalitären Regime - gleich ob einem faschistischen oder stalinistischen - in Berührung kam, seine eigene 'hausgemachte Schande'." (Und mit seiner persönlichen Verantwortung muss man sich darum gar nicht auseinandersetzen?)

Das Feuilleton der taz hat Joanna Itzek eine Reise nach Israel spendiert, um die Solitour des Pirmasenser Rappers Massiv durch Palästina zu verfolgen. Aus einem Gespräch mit einem Studenten erfährt sie, dass diese Tour auch dem Sprachprogramm des Goethe-Instituts zugutekam: "Der Student ist mit einem Pulk von Freunden vor allem wegen Massiv gekommen und besucht seit zwei Wochen einen Deutschkurs, um die Texte seines Lieblingsrappers eines Tages doch noch zu verstehen."

Weitere Artikel: Dieter Pohl schreibt zum Tod des Holocausthistorikers Wolfgang Scheffler. Besprochen wird eine CD von David Byrne und Brian Eno.

Und Tom.

Freitag, 21.11.2008

Richard Szklorz erinnert daran, dass Miroslav Dvoracek nach dem Verrat von 1950 immerhin die Todesstrafe drohte (die dann zu 14 Jahrn Zwangsarbeit in der Uranmine abgemildert wurde) und schließt mit Blick auf Milan Kundera: "Nun, eingeholt von der Vergangenheit, der Enge seiner böhmischen Heimat und gedrängt vom geschärften Langzeitgedächtnis des beinah Achtzigjährigen wird er uns, gleichgültig, was er 1950 tat oder nicht tat, vielleicht doch noch einmal alles erklären müssen."

Welt, 21.11.2008

In der Welt wendet sich Jacques Schuster gegen die neomarxologischen Bocksgesänge Frank Schirrmachers und anderer Feuilletonkollegen und zitiert aus Friedrich Hayeks "Der Weg zur Knechtschaft": "Die wirtschaftliche Freiheit, die die Vorbedingung für jede andere Freiheit ist, kann nicht die Befreiung von wirtschaftlicher Sorge sein, die die Sozialisten uns versprechen und die man nur dadurch erreichen kann, dass man gleichzeitig dem Individuum die Notwendigkeit und die Möglichkeit der freien Wahl abnimmt. Es muss vielmehr die Freiheit unserer Wirtschaftsbetätigung sein, die uns zwar das Recht der Wahl gibt, aber uns notwendigerweise das Risiko und die Verantwortung für dieses Recht aufbürdet."

Im Feuilleton sagt Friedrich Pohl seine deutliche Meinung zu den neu erstandenen Guns'n Roses: "Schon die Live-Konzerte der vergangenen Jahre bewiesen, dass Guns N' Roses eine erbärmliche Karikatur ihrer selbst sind, eine schlechte Coverband mit einem geistig verfetteten Frontmann."

Weitere Artikel: Tilman Krause meldet, dass Marcel Reich-Ranicki einen weiteren Streit vom Zaune brach, diesmal mit Suhrkamp-Verlegerin Unseld-Berkewicz, die nicht einfach aus einem Buchvertrag aussteigen wollte. Manuel Brug kommentiert das neueste Intendantenkarussell in Essen. Peter Beddies erklärt, warum "Harry Potter 6", obwohl längst fertig, nicht zu Weihnachten in die Kinos kommt, es hat mit Spätfolgen des Autorenstreiks in Hollywood zu tun. Manuel Brug erzählt vom traurigen Niedergang des einst gefeierten Opernmäzens Alberto Vilar, der mit elektronischer Fußfessel unterwegs ist, weil ihm vorgeworfen wird, 20 Millionen Dollar veruntreut zu haben. Brug porträtiert auch den jungen Stardirigenten Yannick Nezet-Seguin, der heute in Berlin debütiert. Gemeldet wird, dass der BGH die Klage der Gruppe Kraftwerk gegen das Sampling eines zweitaktigen Musikfragments vorerst abwies.

Besprochen werden: die Ausstellung "Strahlungen - Atom, und Literatur" in Marbach und die Ausstellung "Paradiese der Südsee - Mythos und Wirklichkeit" in Hildesheim.

FR, 21.11.2008

Auf der Medienseite berichtet Thomas Magenheim über die Sparpläne der SZ, die in den "Ohren des Personals dramatisch bis bedrohlich" klingen. "Bei einer Betriebsversammlung in dieser Woche wollte die Belegschaft erfahren, was Sache ist. "500 Leute waren da, so viele wie im Höhepunkt der Medienkrise 2002 nicht", erzählt ein Beteiligter. Details habe SV-Geschäftsführer Karl Ulrich aber hartnäckig verweigert. Klar sei nur, dass auf Geheiß der Südwestdeutschen Medienholding (SWMH), die den Münchner Verlag Ende 2007 übernommen hat, gespart werden muss. Die dazu kursierenden Zahlen habe Ulrich als übertriebene Spekulation bezeichnet, aber mit der Wahrheit nicht herausrücken wollen, sagt ein an der Versammlung Beteiligter."

Im Feuilleton berichtet Harry Nutt über eine Tagung im Berliner Liebermann-Haus zur Feier der Wiedergründung des deutschen PEN vor sechzig Jahren. Als der heutige PEN-Präsident Johano Strasser in seinem Vortrag gegen die theoretische Postmoderne zu Felde zog, erntete er heftigen Widerspruch erst von Sibylle Lewitscharoff und dann auch von anderen Autoren: "Was als Podiumsdiskussion unter dem Titel 'Die Politik des Textes' als Verständigungsdiskurs angelegt war, wurde plötzlich zu einer vehementen Zurückweisung der versammelten Autoren, ihr Schreiben durch ein überkommenes Politikverständnis vereinnahmt zu sehen. Der in Ost-Berlin aufgewachsene Sherko Fatah verwies darauf, dass politisches Engagement nicht zuletzt auch die Begabung der Zurückhaltung bedürfe. Die Tatsache, dass die Generation der mittleren und jungen Autoren keine politischen Klassensprecher hervorgebracht hat, darauf beharrten Lewitscharoff, Peltzer, Fatah ebenso wie Moderator Burkhard Spinnen, sage nichts über das politische Selbstverständnis der Autoren aus."

Weiteres: In Times Mager fordert Peter Michalzik, die Wirtschaftskrise als Chance zu begreifen. Besprochen werden das neue Album von Guns N'Roses, Konzerte beim Drumsummit in Bonn, eine Ausstellung früher Niederländer im Frankfurter Städel, eine Ausstellung mit Zeugnissen der freundschaftlichen Beziehung zwischen Brentano und Schinkel in der Alten Nationalgalerie in Berlin und ein Konzert der Sängerin Annette Dasch mit Mozart, Haydn, Weber in Berlin.

Aus den Blogs, 21.11.2008

Marcel Reich-Ranicki ist in einen anderen Aggregatzustand übergegangen, meint Burkhard Müller-Ullrich auf der Achse des Guten anlässlich seines allerneuesten Streits mit Ulla Unseld-Berkewicz: "In verschärfender Anlehnung an Stefan Raab entwickelt sich Reich zu einem ganz neuartigen publizistischen Format unter dem Titel 'RR total'; so überkommt uns jede Nachricht, IHN betreffend, auf jegliche Weise: als Fernsehsondersendung oder als Zeitungsartikel, als Agenturmeldung, als Interview, als Werbespot, vielleicht bald auch als Oper oder als Parfüm."

NZZ, 21.11.2008

Als Speerspitze einer neuen Musikbewegung stellt Jonathan Fischer das lesbische Rapperinnen-Duo Yo Majesty aus Florida vor: "Wenn Jewl B auf der Bühne ihr übergroßes T-Shirt lupft, dann hat das nichts mit der erotischen Anmache zu tun, wie sie Idealmaß-geklonte Bikini-Schönheiten in tausendundeinem Rap-Video zelebrieren. 'Ich habe Orangenhaut, bin fett und außer Form', erklärt die Rapperin trotzig. 'Aber Gott hat mich eben genau so geschaffen - und ich kann damit leben. Was ich meinen Zuschauern sagen will: Du musst nicht glamourös aussehen, um andere zu inspirieren.' - Eine gewagte Botschaft in dem vom Körperkult beherrschten schwarzen Pop."

Weitere Artikel: Jeannette Villachica porträtiert die irische Schriftstellerin Anne Enright, deren gerade auf deutsch veröffentlichter Roman "Das Familientreffen" (Leseprobe) letztes Jahr mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde. Urs Schoettli berichtet über eine Debatte in Japan, die von einem offenbar geschichtsrevisionistischen Essay des Generals Toshio Tamogami über die Beurteilung von Japans Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg ausgelöst wurde. Holl. stellt das vor wenigen Tagen eröffneten Kunstmuseum von Herzog & de Meuron in Santa Cruz de Tenerife vor.

Besprochen werden Julian Jarrolds Verfilmung von "Brideshead Revisited" und die neue CD von Marianne Faithfull.

Auf der Medienseite berichtet zit. über die Entwicklung des Figaro nach dessen Übernahme durch den Flugzeughersteller Serge Dassault 2004. Heribert Seifert stellt ein amerikanisches Buch über die Redefreiheit vor: Anthony Lewis' "Freedom for the Thought That We Hate. A Biography of the First Amendment".

FAZ, 21.11.2008

Jordan Mejias zählt Veränderungen auf, die die Rezession erfahrungsgemäß so mit sich bringt und hält fest: "Warum rezessionsgeplagte Menschen gesünder sind und länger leben? Weil sie weniger rauchen, weniger trinken, weniger Berufsstress sowie die daraus sich ergebenden Herzanfälle und mehr Zeit zum häuslichen Kochen haben. Aber nur weil sie gesünder sind, empfinden sie sich offenbar nicht als glücklicher. Es gibt mehr Suizide."

Weitere Artikel: Christian Geyer erzählt die Geschichte eines Arztes, der bei einem Komakranken die Beatmung abstellte und nach einer Selbstanzeige seinen Job verlor und sieht sie als ein Beispiel für eine zwar absurde,aber nicht zu vermeidende Verrechtlichung des Sterbens. Cord Riechelmann geht anlässlich des Bremer Verbots von Tierversuchen mit Menschenaffen mit großer Gründlichkeit der Frage nach der biologischen und historischen Differenz von Menschen und Affen nach. Im Interview mit Irene Bazinger spricht Katharina Thalbach vor allem über Ost- und West-Fragen. Oliver Jungen gräbt wg. Flick teils lang vergangene Grabraubgeschichten aus. In der Glosse berichtet Gina Thomas von der Bestürzung, die der Abschied des ehemaligen politischen Korrespondenten John Sargeant aus einer Fernsehtanzsendung in Großbritannien auslöst. Andreas Rossmann annonciert einen Erweiterungsbau fürs Duisburger Museum. Jordan Mejias berichtet, dass der Ex-US-Großsponsor Alberto Vilar eine Gefängnisstrafe zu gewärtigen hat. Alfred Gottwaldt schreibt zum Tod des Historikers Wolfgang Schefflers.

Besprochen werden ein chinesische Theaterversion von Fassbinders "Die Liebe ist kälter als der Tod", das in London aufgeführte Warschauer-Ghetto-Musical "Imagine This", ein Kanye-West-Konzert in Oberhausen, Christian Schwochows Film "Novemberkind" und Bücher, darunter Kinky Friedmans neuer Krimi "Der Gefangene der Vandam Street" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 21.11.2008

Gesampelt wurde in der Kunst schon immer, gibt Jens-Christian Rabe in einem Artikel über den Urheberrechts-Streitfall Kraftwerk gegen Pelham zu. Genau dieses Sampeln ist laut BGH in bestimmten Fällen verboten. "Die verbreitete Sorge allerdings, die Rechtsprechung mache Stück für Stück die 'Kulturentwicklung' im Pop unmöglich, dürfte dennoch unbegründet sein. Erstens ist es niemandem benommen, für die Verwendung von Samples um Erlaubnis zu fragen; dies ist nicht nur im Mainstream, der nach wie vor vielfach mit Versatzstücken aus fremdem Material arbeitet, sogar längst selbstverständlich. Und zweitens wurde dort, wo der Pop immer wieder neu erfunden wird, wo immer weiter gepuzzelt wird, noch nie Rücksicht auf Urheberrechte genommen."

Weitere Artikel: Gerhard Matzig informiert, dass das neue Gebäude des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag voraussichtlich nach einem Entwurf des Architekten Christoph Ingenhoven, der die Arbeit für despotische Systeme kategorisch verweigert, errichtet werden wird. Vom in München stattfindenden "Internationalen Filmschulfest" berichtet Gansera - und zeigt sich nicht von den Dokumentar-, aber von den Spielfilmen, die bisher liefen, eher enttäuscht. Jörg Häntzschel meldet, dass der kalifornische Milliardär Eli Broad in Beverly Hills ein eigenes Museum für zeitgenössische Kunst eröffnen will. Sehr aufregen muss sich Tobias Lehmkuhl über eine Broschüre der Bundeszentrale für politische Bildung, die sich als Überblick über "Kunst und Gesellschaft von A bis Z" ausgibt: "Jeder Eintrag bei Wikipedia ist weniger fehlerhaft." Gunnar Herrmann freut sich, dass das Thorvaldsen Museum das Briefarchiv des Bildhauers Bertel Thorvaldsen ins Internet zu stellen begonnen hat - und zwar, das verrät Herrmann den Lesern freilich nicht, hier. In der Serie zu Kaisers 80. Geburtstag wird heute eine Sartre-Rezension nachgedruckt. Ganz kurz - im Netz ein bisschen ausführlicher - gemeldet wird noch, dass Marcel Reich-Ranicki mit Suhrkamp, genauer gesagt mit Ulla Berkewicz, beleidigt ist und deshalb mit einer Reihe über große Autoren zu Hoffmann und Campe wechselt. Auf der Medienseite spricht Christopher Keil mit dem Gruner-und-Jahr-Zeitschriftenvorstand Bernd Buchholz über die einschneidenden Sparmaßnahmen des Verlags.

Besprochen werden eine Zürcher Aufführung von Bohuslav Martinus Oper "The Greek Passion", die Ausstellung "Goldener Drache - Weißer Adler" im Residenzschloss zu Dresden, die Marbacher "Strahlungen"-Ausstellung und Bücher, darunter der bisher nur in englischer Sprache erschienene Debütroman "All in My Mind" des Ex-Blair-Beraters Alastair Campbell.