Heute in den Feuilletons

Eines mit Teufeln drauf

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.11.2008. In Cargo durchlebt Ekkehard Knörer Rausch und Panik der Freiheit der Kritik im Netz. In der taz benennt Güner Balci das kommunikative Defizit zwischen Alt- und Neuneuköllnern. Die NZZ macht sich anhand von "Turm" und "Kinderhochzeit" Gedanken über den Stand der Erzählkunst. In der FAZ beschreibt Viktor Jerofejew, wie der Putinismus seinen Bürgern Loyalität abkauft, indem er ihnen Freiheit zur Gestaltung ihres Privatlebens einräumt.

TAZ, 22.11.2008

Fürs Dossier des taz mag hat sich Martin Reichert mit der ZDF-Journalistin Güner Balci über ihr Buch "Arabboy. Eine Jugend in Deutschland" unterhalten. Selbst da, wo "ureingeborene Deutsche" ihren Mitbürgern oder Nachbarn mit Migrationshintergrund begegnen, begegnet man sich, so Baci in dem sehr lesenswerten Gespräch, eigentlich nicht: "Die heute typischen Neuköllner haben Kontakt meist mit ihrer Familie und ihren Verwandten. Es gibt da nicht die Idee, dass man über die Familie hinaus einen Freundeskreis unterhält. Wenn da mal ein netter Deutscher reinkommt, dann redet man mal mit dem und stellt sich ein bisschen dar - die meisten von denen suchen ja ohnehin nur ein Stück Folklore. Die Leute im 'Freies Neukölln' machen sich nicht wirklich Gedanken, wie es wohl in den türkischen und arabischen Familien zugeht. Die fragen sich auch nie, warum man deren Töchter nie auf der Straße oder in den Cafes sieht. Die Sonne geht unter, die Frauen verschwinden."

Als echte Entdeckungsreise abseits des Mainstreams feiert Hajo Schiff im Kulturteil die Ausstellung mit Fotografien von Kiyoshi Suzuki in den Hamburger Deichtorhallen: "Menschen und Dinge sind ein wenig aus der Welt gefallen, ja sogar aus dem Bildausschnitt, der die traditionelle Ordnung der Fotografie nicht mehr beachtet. Kiyoshi Suzuki zieht in seinen radikal subjektiven Bildern die Außenseiter in seine Welt, macht sie mit viel Sympathie zu Akteuren seiner Lebensfantasie, in der auch eine kränkelnde Topfpflanze in einem alten Kochgeschirr Platz hat. Erst in der Zusammenführung als Buch oder in der eigenen subjektiven Zusammenschau erschließt sich die Möglichkeit einer Geschichte."

Weitere Artikel: Wie sich das New Yorker Goethe-Institut neu zu erfinden versucht, schildert Sebastian Moll. Dietmar Kammerer resümiert eine Berliner Tagung zum Thema "Filmkritik und Internet". Auf der "Themen des Tages"-Seite zählt Ambros Waibel die literarischen Texte auf, in denen vom nun geheimdienstlich bestätigten Niedergang der USA längst zu lesen war. Im tazmag ist die Erzählung "Punkte" von Johanna Wack abgedruckt, die beim diesjährigen "Open Mike"-Wettbewerb den Publikumspreis gewann.

Besprochen werden Christian Schwochows Film "Novemberkind", Julian Jarrolds Evelyn-Waugh-Verfilmung "Wiedersehen mit Brideshead" und Bücher, darunter John le Carres neuer Roman "Marionetten" (den Jörg Sundermeier ganz schwach findet) und Francois Dubets soziologische Studie über "Ungerechtigkeiten" am Arbeitsplatz (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 22.11.2008

Petra Ahne unterhält sich mit dem Autor David Sedaris, der gerade in Berlin weilt und seine Liebe zu einer Kunst bekennt, die zur Zeit vielleicht nicht gerade hipp ist: die alten Niederländer: "Ich mag Bilder, die eine Geschichte erzählen. Und bei den alten Flamen und Holländern sind das großartige Geschichten, von Tod, von Verlust, von Leiden. Ich habe eines mit Teufeln drauf, die arme Seelen in der Hölle foltern. Das ist hübsch, ich werde nicht müde, es anzusehen. Einem hämmern sie einen Nagel in den Rachen."
Stichwörter: Berlin, Folter

Welt, 22.11.2008

In der Literarischen Welt erinnert sich die Autorin Paula Fox an D.H. Lawrence und seine Frau Frieda, die sie noch kennenlernte: "Ich war die Erste auf dem Pfad zu Friedas Haus. Atemlos drückte ich gegen die Tür und spürte einen weichen Widerstand, so als ob Kissen hinter ihr gestapelt wären. Doch es war Friedas üppiges Hinterteil. In eben diesem Augenblick bückte sie sich zur Ofenklappe. Ich erspähte eine Pfanne voller verbrannter Cracker mit geschmolzenem Käse. 'Wenigstens', sagte sie zu mir, als sie sich, die Pfanne mit einem Küchentuch haltend, aufrichtete, 'ist Lawrence nicht da, um mich für meine Ungeschicklichkeit zu schelten' - und wies mit dem Kinn auf Käse und Cracker. Dann lachte sie, ein heiseres, reizendes Geräusch."

Außerdem: Vladimir Balzer besucht den Schriftsteller Artur Becker, der dieses Jahr mit dem Chamisso-Preis ausgezeichnet wird. Hermann Kurzke freut sich über die Neuauflage von Döblins Roman "November 1918". Andre Glucksmann fehlt eine Kassandra. Besprochen werden unter anderem Alison Luries Roman "Paare", Johannes Frieds Geschichte des Mittelalters, neue Kochbücher zur Wildküche, Jonathan Littells georgisches Reisetagebuch und Stanislaw Lems Briefe.

Im Feuilleton beschreibt Wieland Freund den Fehlstart der virtuellen Bibliothek Europeana, die unter dem Ansturm der Besuchermassen zusammenbrach und ab Mitte Dezember wieder im Netz sein soll. Alan Posener erinnert an das Weiße Album der Beatles, das vor vierzig Jahren erschien. T.s. gratuliert der Weltwoche zum Fünfundsiebzigsten. Hanns Georg Rodek ist beeindruckt von der Viertelstunde des 3D-Trickfilms "Monster", die er vorab sehen durfte.

Besprochen werden Mirko Hecktors Kulturgeschichte Münchens ("Ein Buch wie ein Jahr in München eben, selbstverliebt, pompös und protzig - vor allem aber heißer, als mancher es erwartet hätte", schreibt Johanna Schmeller) und Brahms-Konzerte mit den Berliner Philharmonikern und Simon Rattle.

FR, 22.11.2008

Daniel Kothenschulte stellt die ersten Filme der neuen Suhrkamp-DVD-Edition vor und geht dabei vor allem auf Alexander Kluges großes Projekt zu Karl Marx via Sergej Eisenstein ein: "Kluge rezitiert den Theoretiker mit samtener Stimme zur Piano-Begleitung oder inszeniert die rührenden Versuche junger DDR-Bürger, systemkonformen Sinn in sperrigem Textmaterial zu lesen. Helge Schneider spielt einen Arbeitslosen, der einen Marx-Kurs an der Volkshochschule absolviert, zu Bob Dylans 'Ain't Talking' wird Marx' zerbrochene Grabplatte aufgespürt."

Weitere Artikel: In ihrer Kolumne sucht und findet Marcia Pally den neuen George W. Bush - in Alaska natürlich. Ina Hartwig widmet dem schimpfenden Marcel Reich-Ranicki eine "Times Mager". Knut Krohn gratuliert dem polnischen Komponisten Krzystof Penderecki zum Fünfundsiebzigsten. Abgedruckt wird die von der Zeitschrift "Gramophone" ermittelte Weltrangliste der besten Orchester.

Besprochen werden das neue Forsythe-Stück "I Don't Believe in Outer Space", das Auftaktkonzert von Farin Urlaubs Tournee als Nicht-Arzt, eine Ausstellung mit Werken von Spiridon Neven DuMont in der Bielefelder Galerie Samuelis Baumgarte, eine Frankfurter Veranstaltung, bei der Elisabeth Trissenaar und Karlheinz Böhm aus dem Briefwechsel von Lola Montez und Ludwig I. lasen und John Le Carres neuer Roman "Marionetten" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 22.11.2008

Roman Bucheli macht sich anhand einiger Neuerscheinungen wie Uwe Tellkamps "Der Turm" und Adolf Muschgs "Kinderhochzeit" Gedanken über den aktuellen Stand der Erzählkunst und bekennt ein Misstrauen gegenüber dem panoramatischen Erzählen des ersteren. "Keinerlei Zweifel und Anfechtungen schwächen hier das Vertrauen in die sinnstiftende Darstellungskraft der (historischen) Erzählung und in die prinzipielle Darstellbarkeit der Geschichte. Hingegen hat Adolf Muschg in seinem jüngsten Roman, 'Kinderhochzeit', den Typus des Historikers vorgeführt, dem mit anderen Gewissheiten auch der sichere Boden seiner Wissenschaft unter den Füßen schwindet."

In Literatur und Kunst gratuliert Uwe Justus Wenzel außerdem Claude Levi-Strauss zum bevorstehenden Hundertsten (toi toi toi, dass er's trotz des vorzeitigen Zuprostens noch so weit bringt!) Abgedruckt wird die Rede des Wissenschaftshistorikers Michael Hagner zum Erhalt des Sigmund-Freud-Preises. Der Schriftsteller Michel Mettler denkt über "die Erfahrung des Wörtlichen" in Hermann Burgers "Schilten" nach. Und Roger Friedrich beklagt, dass der Kanton Tessin nichts mit dem Mythos des Monte Verita anzufangen weiß.

Fürs Feuilleton besucht Sabine Riedel Mecklenburg-Vorpommern, wo durch Zuzug von Polen eine Ahnung von wirtschaftlichem Aufschwung entsteht. Erwin Schaar gratuliert Herbert Achternbusch zum Siebzigsten. Besprochen werden die Ausstellungen zum "Kult des Künstlers" in Berlin und Bücher, darunter Heere Heeresmas Erzählung "Ein Junge aus Amsterdam" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 22.11.2008

Der bemerkenswerteste Samstagsessay steht heute bei Cargo. Cargo? So heißt eine neue Filmzeitschrift, die auch online Ambitionen hat. Hier schreibt Ekkehard Knörer, auch bekannt aus dem Perlentaucher, einen Essay über Filmkritik (und beileibe nicht nur diese) im Zeitalter des Netzes, der es auch verdiente, von den Feuilletons diskutiert zu werden: "Man kann, als Kritikerin im Netz, ganz auf sich und die kommende Leserschaft gestellt, also wirklich buchstäblich schreiben, wie und worüber man will. Die Frage ist: Tut das dem Schreiben gut? Darauf gibt es ganz sicher keine eindeutige Antwort, aber: Die Erfahrung kann durchaus bestürzend sein. Eine Kritik, wie sie in Zeitungen steht, hat bei aller Variabilität doch einer ganzen Menge Konventionen zu gehorchen. Die Freiheit, die man als Blogger hat, kann selbstverständlich auch lähmen. Man muss sehr wohl seine Stimme erst finden. Man muss sie verlieren und lernen, sie wieder zu finden." Knörer hat den Text auf einem Symposion vorgetragen, über das Bert Rebhandl heute auch in der Berliner Zeitung berichtet.
Stichwörter: Zeitungen

FAZ, 22.11.2008

Der Putinismus hat seinen Bürgern Loyalität abgekauft, indem er ihnen weitgehende Freiheit zur Gestaltung ihres Pirvatlebens einräumte, analysiert Viktor Jerofejew in Bilder und Zeiten: "Wir können unseren Kindern praktisch alles, was wir wollen, beibringen, sie zu Christen oder Buddhisten erziehen - noch frei nach unserer Wahl. Letztlich können wir, je nach Kaufkraft, nach Italien oder auch auf die Osterinseln reisen. So etwas nennt man wohl Autoritarismus mit menschlichem Antlitz." Allerdings zieht Jerofejew daraus auch die paradoxe Hoffnung, dass sich die bürgerlichen Werte gewissermaßen durch die Hintertür einschleichen: "Das private Leben ist für Russland die Rettung."

Henning Ritter schreibt zum bevorstehenden 100. Geburtstag Claude Levi-Strauss'. Der Autor Sasa Stanisic schildert seine Selbstversuche als Frau in "World of Warcraft". Auf der Literaturseite geht's um neue Romane von Gilbert Adair und Tom Drury. Und auf der letzten Seite unterhält sich Niklas Maak mit dem Schauspieler Pierre Richard, der wegen eines neuen Films zum Interview in ein Berliner Hotelzimmer lud.

Im Aufmacher des Feuilletons schreibt Jürg Altwegg über die Rückkehr der Franzosen in die Behaglichkeit ihrer Staatsideologie. Andreas Rossmann kommentiert das Intendantenkarussell zwischen Bochum und Essen. Edo Reents berichtet über den Streit zwischen München und Lübeck um die Benennung ihrer Literaturpreise nach Thomas Mann. Jürgen Dollase besucht für seine Gastrokolumne den Koch Thorsten Probost im österreichischen Oberlech und rühmt ihn für seine puristische Arbeit mit Kräutern. Andreas Kilb unterhält sich mit Bundesbauminister Tiefensee und dem Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Parzinger über die unmittelbar bevorstehende Entscheidung des Architektenwettbewerbs für das wiederaufzubauende Stadtschloss in Berlin - die Eröffnung wird für 2015 in Aussicht gestellt. Martin Lhotzky schlendert über die neue Wiener Buchmesse. Auf der letzten Seite porträtiert Matthias Hannemann die berühmten Orgelbauer Hans Gerd und Philipp Klais.

Besprochen werden Peter Truschners Stück "Kampfgesellschaft" in Karlsruhe, eine Choreografie von William Forsythe in Frankfurt, ein Auftritt Tracy Chapmans in Berlin.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um ein Porträt des Countertenors Andreas Scholl auf DVD, um neue CDs von Calexico und Giants Sands, um eine CD der Jazzsängerin Caroline Henderson (die Klassiker wie das von Fred Astaire unsterblich gemachte "I Concentrate on You" neu interpretiert), um Bachkonzerte auf modernem Flügel mit David Fray (Video), um neue Einspielungen des Komponisten Salvatore Sciarrino und um Barber-Lieder mit Gerald Finley (mehr hier).

Für die Frankfurter Anthologie liest Hans Christian Kosler ein Gedicht Ingeborg Bachmanns:

"Wenn einer fortgeht:

Wenn einer fortgeht, muss er den Hut
mit den Muscheln, die er sommerüber
gesammelt hat, ins Meer werfen (...)"

SZ, 22.11.2008

Maike Albath beschreibt, wie Roberto Saviano mit seinem Bestseller "Gomorrha" unser Bild Süditaliens einschneidend in Richtung Realismus verschoben hat: "Erst Saviano hat die Camorra auf nationaler und vor allem internationaler Ebene zum Thema gemacht: Auf den Plakaten für die Verfilmung von 'Gomorrha' erinnert die Landschaft bei Neapel an die Bilder von Balkankriegen. Süditalien sieht auf einmal anders aus. Das hat vor Saviano keiner geschafft, obwohl in Neapel jeder Polizeireporter Bescheid wusste und die Regionalpresse offen berichtet."

Weitere Artikel: Ijoma Mangold erklärt, warum Marcel Reich-Ranickis Beschimpfung von Ulla Berkewicz als "böse Frau" der beiden Privatsache ist - so privat offenkundig, dass sie als solche auf Seite eins des SZ-Feuilletons auch dargestellt werden muss. In einem Münchner Vortrag, den Johan Schloemann resümiert, erklärt der Jura-Professor und Doch-Nicht-Verfassungsrichter Horst Dreier, wie sich die Ewigkeitsgarantie von Artikel 1 bis 20 des Grundgesetzes mit dessen in Artikel 146 ebenfalls festgestellter Abschaffbarkeit verträgt. (Kurze Antwort: gut.) Hans Schifferle bereitet auf die große David-Lean-Retrospektive (Programm als pdf) des Münchner Filmmuseums vor. Von einer Pariser Tagung zum Thema "Leugnung des Holocaust" berichtet Franziska Brüning. Zur Meldung, dass Anselm Weber als Intendant von Essen nach Bochum wechselt, gesellt die Redaktion ein Interview mit Weber über seine Pläne für die neue Stätte der Wirkung. Christine Dössel gratuliert dem bayerischen "Gesamtkunstwerk" Herbert Achternbusch zum Siebzigsten.

Besprochen werden die Frankfurter Aufführung des neuen Forsythe-Tanzstücks "I Don't Believe in Outer Space" und die Mulitple-Ausstellung "Made in Munich" im Münchner Haus der Kunst.

Christian Zaschke resümiert seinen Aufmacher zur SZ am Wochenende, der dem Geburtstagskind Boris Becker gewidmet ist, mit den nicht gänzlich unbedrohlichen Worten: "Er ist immer noch er, und er wird immer der bleiben, der er war." Tanja Schwarzenbach schreibt über Mütter, die als US-Soldatinnen in den Irakkrieg zogen. Antje Wewer hat Tracy Chapman besucht. Auf der Historienseite erinnert Birgit Weidinger an den Widerstand der "Edelweißpiraten" gegen die Nazis. Willi Winkler spricht mit dem Ex-Model und Ex-Sänger und Schauspieler Mark Wahlberg über "Vergebung".