Heute in den Feuilletons

Warmes Hinschauen und kühles Nachdenken

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.06.2013. Die Zeit erklärt, warum die Abhörmethoden der NSA schlimmer als Orwell sind. in einem Chat des Guardian dementiert Google so gut es geht. Die NZZ lässt sich Tomas Venclovas Gedichte von diesem selbst erklären und findet sie seitdem noch besser. In der Welt ruft Zülfü Livaneli die protestierende türkische Jugend auf, sich politisch zu organisieren. Die FAZ gewinnt bei einer Filmretro das Vertrauen in die totgeglaubte materialästhetische Avantgarde zurück. Zum frühen Tod des "Sopranos"-Helden James Gandolfini bringen wir einige Videos.

Aus den Blogs, 20.06.2013

James Gandolfini, der Held der "Sopranos", ist im Alter von nur 51 Jahren gestorben. Hier ein ausführliches "Best of" der "Sopranos".



David Remnick bringt im New Yorker weitere Ausschnitte aus den "Sopranos".

Auf die Selbstergänzungen der Suchmaschinen ist doch Verlass, hat Megan Garber im Atlantic herausgefunden:


NZZ, 20.06.2013

Marko Martin lässt sich von dem litauischen Exildichter Tomas Venclova, der sich zurzeit als Gast des Künstlerprogramms des DAAD in Berlin aufhält, den biografischen Gehalt seiner Gedichte erläutern und stellt fest: "Es nimmt Venclovas bereits von Czeslaw Milosz hochgelobten Gedichten nichts von ihrem unbestreitbaren Rang, wenn man einen Verständniszugewinn konstatiert, sobald entscheidende persönliche Prägungen sichtbar werden." (Hier ein paar Hör- und Lesebeispiele bei Lyrikline.)

Ansonsten gibt es Besprechungen: von den Filmen "Paradies: Hoffnung" von Ulrich Seidl (den Christoph Egger als einen "ärgerlichen und wiederholt leicht schmierigen Film" bezeichnet) und "The Place Beyond the Pines" von Derek Cianfrance (an dem Susanne Ostwald die "raffinierte, sehr elaborierte Dramaturgie" schätzt), von einer Frankfurter Inszenierung von Giuseppe Verdis "Les Vêpres siciliennes" sowie von Büchern, darunter Gustav Ernsts neuer Roman "Grundlsee" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 20.06.2013

Ingo Arend hat schon genaue Vorstellungen, was Rein Wolfs als neuer Intendant der Bonner Bundeskunsthalle tun sollte: "nicht nur den 'geistigen und kulturellen Reichtum der Bundesrepublik Deutschland angemessen darstellen' ..., wie es in einer Selbstbeschreibung der Halle heißt. Stattdessen sollte sie eine Wende der Kulturpolitik befördern helfen - Föderalismus und Europa, das müssten die Stichwörter der Stunde sein."

Weitere Artikel: Ralf Sotschek meldet, dass Großbritannien Internetprovider zum Einbau von Pornofiltern zwingen will. Ophelia Abeler besucht zwei Ausstellungen in New York: die Triennale "A Different Kind of Order" im International Center of Photography und die "Expo 1" im MoMA PS1 in Queens. Klaus Bittermann schreibt den Nachruf auf den französischen Schriftsteller und Verleger Maurice Nadeau.

Besprochen werden Sylvie Verheydes Kostümfilm "Confession", Gus Van Sants Umweltthriller "Promised Land" und ein Sammelband über transnationale, organisierte Kriminalität (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Weitere Medien, 20.06.2013

In einem Chat des Guardian spricht Google-Justiziar David Drummond in Sachen "Prism" das angeblich bisher klarste Dementi aus: "I'm not sure I can say this more clearly: we're not in cahoots with the NSA and there is no government program that Google participates in that allows the kind of access that the media originally reported. Note that I say 'originally' because you'll see that many of those original sources corrected their articles after it became clear that the PRISM slides were not accurate." Und er versichert: "There is no free-for-all, no direct access, no indirect access, no back door, no drop box."

John Koetsier kommentiert dieses Statement auf Venturebeat: "This is much, much clearer and more specific than any of the company denials from Apple, Microsoft, Facebook, AOL, Yahoo, and other companies accused of indiscriminately sharing data with the NSA."

(Via Oliver M. Piecha in der Jungle World) FAZ-Korrespondent Rainer Hermann hat neulich ein Haupt- und Staatsinterview mit dem syrischen Präsidenten Bashar al-Assad geführt. Die staatliche syrische Nachrichtenagentur Sana fand es so instruktiv und objektiv, dass sie es gleich auf Englisch ins Netz stellte. Aber kann es sein, dass eine Passage im Deutschen unterdrückt wurde? "Interviewer: Mr President, thank you very much. I have been greatly influenced by your personality and your vision; I hope Europe and the West will benefit from this interview and look at you and your country differently.
President Assad: Thank you very much and welcome again to Syria."

Suhrkamp-Gesellschaft Hans Barlach will vorerst auf seine Forderung nach Gewinnausschüttung verzichten, die den Verlag veranlasste, ein Schutzschirmverfahren zu beantragen, meldet Spiegel Online.

Welt, 20.06.2013

Der Autor Zülfü Livaneli ruft im Gespräch mit Iris Alanyali die demonstrierende Jugend in der Türkei dazu auf, sich politisch zu organisieren und Ministerpräsident Edogan bei Wahlen zu schlagen. Im Verhältnis zur EU strebt er eine "privilegierte Partnerschaft" seines Landes an: "Es ist wichtiger, Teil der europäischen Zivilgesellschaft zu sein als Teil der EU. Im 21. Jahrhundert will ich kein Land sehen, das sich auf religiöse Werte beruft statt auf universelle Menschenrechte."

Weitere Artikel: Jan Küveler kommentiert Angela Merkels #Neuland-Patzer ("hatte man als Zuhörer den Eindruck, als wäre gerade der Funkkontakt zu einer Drohne abgerissen"). Hanns Georg Rodek porträtiert den jungen Animationsfilmer Saschka Unseld, dessen "Blauer Regenschirm" als Vorfilm zu dem neuen Pixar-Film "Die Monster-Uni" läuft.

Besprochen werden ein Konzert der Band Portishead in Berlin und Filme, darunter Gus van Sants Anti-Fracking-Film "Promised Land" mit Matt Damon.

Perlentaucher, 20.06.2013

"Es sind vielleicht die verquersten Bilder, die das Blockbusterkino in diesem Jahr bislang zutage gebracht hat", schreibt Thomas Groh in unserer Kinokolumne über die 9/11-Motivik in Zack Snyders neuen "Superman"-Film: "Nachdem man ausgiebig im Bilderkanon der frühesten Katastrophe des 21. Jahrhunderts gebadet hat, wird diese allumfassende Zerstörung noch zum historischen Sieg umgedeutet. Es hat den Anschein, als gelangt mit 'Man of Steel' ein weiteres Kapitel der US-amerikanischen Traumabewältigung im Kino an ihr logisches Ende."

Zeit, 20.06.2013

Auch in dieser Woche ist der NSA-Skandal das prägende Thema: Khuê Pham rekonstruiert die Begegnung zwischen dem Informanten Edward Snowden und dem Guardian-Reporter Ewen MacEskill in einem Hongkonger Hotel. Der Journalist und NSA-Experte James Bamford illustriert im Interview den Ernst der Lage: "Wenn jemand Zugang zu den Google-Suchanfragen von Menschen hat, kennt er ihre Gedanken. Als George Orwell '1984' schrieb, entwarf er eine Welt, in der die Regierung die Bürger dabei beobachten kann, wie sie miteinander sprechen. Aber die NSA hat Zugriff nicht nur zu den Gesprächen der Menschen, sondern zu ihren Gedanken. Das ist ein noch viel massiverer Eingriff."

Das Verfahren, aus Datenbanken Verhaltensmuster abzuleiten, um Verbrechen vorauszuberechnen, macht jeden Menschen zum Verdächtigen, meint Kai Biermann im Wirtschaftsteil: "Es ist unmöglich, so zu leben, dass man dem Staat und seiner Neugier sicher aus dem Weg geht." Heike Buchter beschreibt, wie das Prism-Programm das Vertrauen ins Cloud Computing erschüttert (mehr hier). Und im Feuilleton geißelt Noam Chomsky im Interview mit Thomas Assheuer die Überwachungswut der amerikanischen Behörden. Von chinesischen Zuständen will er allerdings nicht sprechen: "Amerika ist eine Demokratie, und China ist eben keine Demokratie." Außerdem wisse man "doch noch gar nicht, was die US-Regierung mit den Massen an Informationen anfangen kann... Mit Orwell hat das nichts zu tun."

Weitere Artikel: Thomas E. Schmidt und Adam Soboczynski beleuchten das unternehmerische Wirken Hans Barlachs im Suhrkamp-Verlag und stellen fest: "Barlach gerät in Zeitnot, und die Frage stellt sich, wie lange er noch liquide ist oder frisches Geld, etwa für Anwaltskosten, in den Schlamassel nachzuschießen bereit ist." Ijoma Mangold erlebt mit dem türkischen Schriftsteller Murathan Mungan im Gezi-Park eine "kommunikative Eruption". Michael Thumann beklagt die einseitige Berichterstattung der türkischen Mainstream-Medien: "Die großen Medien-Tycoons bauen für Erdoğan Kraftwerke, Brücken, Häfen in Istanbul. Keiner will sich mit dem rachsüchtigen Premier anlegen." Angesichts eines gigantischen Fälscherskandals um Werke im Stil von Malewitsch, Popowa, Puni und anderen bedauert Tobias Timm: "Man kann die Bilder der russischen Avantgarde kaum mehr ansehen, ohne sofort zu fragen, welcher dunklen Quelle sie entstammen." Peter Kümmel interpretiert ein Foto, das beim Interview des FAZ-Reporters Rainer Hermann mit Baschar al-Assad entstanden ist. Julia Spinola unterhält sich aus Anlass seines 80. Geburtstags mit Claudio Abbado.

Besprochen werden die Filme "World War Z" von Marc Forster (der für Georg Klein "ein warmes Hinschauen und ein kühles Nachdenken wert" ist) und "Promised Land" von Gus van Sant (den Christiane Grefe als "so unverstellt, poetisch und rebellisch wie ein Song von Bruce Springsteen" würdigt) sowie Bücher, darunter "Die neue Liebesordnung" der israelischen Soziologin Eva Illouz (mehr in unserer Bücherschau heute um 14 Uhr).

SZ, 20.06.2013

Der türkische Historiker Ilber Ortayli ist im Gespräch mit Tim Neshitov sehr verärgert darüber, dass Ministerpräsident Tayyip Erdogan sich zwar in der Tradition der osmanischen Geschichte verortet, aber eigentlich ein ziemlicher Kretin ist: "Er will anstelle eines beliebten Parks eine osmanische Kaserne wiederaufbauen. Das nennt er Geschichtspflege. Dann sollte er auch das Dolmabahce-Palasttheater wieder errichten lassen und anstelle des Swiss Hotels das alte orientalische Kaffeehaus."

Außerdem: Catrin Lorch erklärt, warum so wenig geprellte Kunstfälscher-Kunden bei den Ermittlungen mithelfen: Solange man die erworbenen Bilder "nicht als falsch abschreiben muss, kann man sich noch in der Illusion wiegen, man habe ein echtes Werk erworben." Gus van Sant gibt Anke Sterneborg Auskunft über seinen neuen Anti-Fracking-Film "Promised Land", den Andrian Kreye bespricht. Peter Richter besucht die Geburtstagsfeierlichkeiten der 70 Jahre alt werdenden Folksängerin Joni Mitchell. Isabell Pfaff informiert über einen Streit zwischen dem Münchner Volkskundemuseum und Prinz Kum'a Ndumbe III., der eine dort ausgestellte Schnitzarbeit für Raubkunst hält.

Besprochen werden Bücher, darunter die Studie der Medizinerin Shereen El Feki über das Liebesleben in der arabischen Welt (Leseprobe beim Perlentaucher, mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 20.06.2013

Mit großer Begeisterung verfolgt Bert Rebhandl das Jubiläumsprogramm "Living Archive" zum 50jährigen Bestehens des Berliner Kinos Arsenal, das dafür von Kuratoren den eigenen Archivbestand erforschen und originell remixen lässt. Sogar neue Arbeiten entstehen: "Das Ergebnis dieser Bemühungen ist derzeit in einer Ausstellung in den Berliner KunstWerken zu sehen. Florian Zeyfangs 'Splice Film', in dem er Klebestellen einstmals gerissener Filmkopien filmte und aneinanderreihte, ist ein gutes Beispiel dafür, dass die totgeglaubte materialästhetische Avantgarde immer noch neue Facetten an dem gerade anachronistisch werdenden Trägermedium Film entdeckt."

Edo Reents hat offenbar während des Obama-Besuchs in Berlin pausenlos Spiegel online gelesen und ärgert sich jetzt grün und blau über den Echtzeitjournalismus, der in beeindruckender Menge Schnickschnack-Meldungen verbreitete: "Das Problem sind nicht die Informationen als solche, sondern, dass sie zu den politischen Nachrichten, die es ja auch gibt, in kein Verhältnis mehr gesetzt und nicht mehr hierarchisiert werden." (Wie gut, dass wir faz.net haben, wo wir unter der Überschrift "Ein Amerikaner im Herzen Europas" und mit der Bilderstrecke "Abflug: Obama geht wieder" ordentlich hierarchisiert informiert werden.)

Weitere Artikel: Hartmut Ellrich informiert über den Verfall des thüringischen Schloss Reinhardsbrunn. Dieter Bartetzko ärgert sich über die neue Seilbahn zum Schloss Ehrenbreitstein, die Sommerrodelbahn auf der Loreley, Massentourismus und Windräder. Kerstin Holm hörte sensationelle Musik beim Diaghilew-Festival in Perm. Gina Thomas war dabei, als John Le Carré bei der "Deutsch-Olympiade" in Oxford ein Loblied auf die deutsche Sprache sang. "Schade, dass Sternschnuppen so schnell verglühen", seufzt Tomasz Kurianowicz nach dem Berliner Konzert von Austra.

Besprochen werden der neue Superman-Film "Man of Steel", eine Ausstellung mit Fotografien von Philip-Lorca DiCorcia in der Frankfurter Schirn und Bücher, darunter gesammelte Reiseberichte von Robert Gernhardt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).