Heute in den Feuilletons

Solche kleinen Details

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.08.2013. Kunden, die die Washington Post gekauft haben, interessieren sich auch für... Im Ernst: Jeff Bezos hat sich die Zeitung für 250 Millionen Dollar in die Privatschatulle gesteckt. Wir bringen erste Reaktionen von Spiegel Online, Gigaom, dem New Yorker und aus Blogs. Auf telepolis erzählt der junge Philosoph Markus Gabriel, warum er glaubt, dass Toleranz aus  Religion kommt. In der New Republic erzählt Orhan Pamuk, wie er für seine Romane recherchiert. In der FAZ gratuliert Ursula Krechel dem Literarischen Colloquium Berlin zum Fünfzigsten.

Aus den Blogs, 06.08.2013

David Remnick erzählt auf der Website des New Yorker wie Verleger Donald Graham den Mitarbeitern der Washington Post gestern Nachmittag um halb fünf Ostküstenzeit die Nachricht überbrachte, dass Amazon-Gründer Jeff Bezos die Zeitung gekauft hat: "It was a room full of reporters and editors, and yet, as one told me, 'we thought we were there to hear that the Grahams had sold the building.' In fact, Graham told them, in a voice so full of emotion that he had to stop a few times to gather himself, they were selling the Post and a handful of smaller papers-for two hundred and fifty million dollars, to Jeff Bezos... Graham asked the people there not to tweet, just to listen. The assembled were so stunned that when it came time for questions no one had any for a while; Graham had to urge them out of their silence."

Auch Jan Friedmann von Spiegel Online war dabei, als die Redaktion der Post den Schock verkraften mussten. Besonders bitter: Die Post hatte schon vieles umgesetzt, was andere Verlagen in der Welt noch als zukunftsträchtige Option ansehen: "Die Redakteure arbeiten sowohl für die Print- als auch für die Online-Ausgabe, beide Produkte werden von einer gemeinsamen Zentrale aus gesteuert. Die Zeitung hat eine Bezahlschranke für ihre Webseite eingerichtet, nach 20 Artikeln kostenloser Lektüre kostet der Zugang 9 Dollar 99 für den Rest des Monats."

Bei Gawker macht sich Nitasha Tiku die Mühe, ältere Interviewäußerungen von Bezos zusammenzustellen, um daraus kaffeesatzmäßig etwas über die Zukunft der Post herauszulesen. Etwa aus dieser Äußerung gegenüber der Berliner Zeitung im letzten Jahr: "Über eines bin ich mir sicher: In zwanzig Jahren wird es keine gedruckten Zeitungen mehr geben. Wenn doch, vielleicht als Luxus-Artikel, den sich bestimmte Hotels erlauben, als extravaganten Service für ihre Gäste. Gedruckte Tageszeitungen werden in zwanzig Jahren nicht mehr normal sein."

Und in seinem Brief an die Mitarbeiter der Washington Post deutet Jeff Bezos schon mal erste Ideen an: "There will, of course, be change at The Post over the coming years. That's essential and would have happened with or without new ownership. The Internet is transforming almost every element of the news business: shortening news cycles, eroding long-reliable revenue sources, and enabling new kinds of competition, some of which bear little or no news-gathering costs. There is no map, and charting a path ahead will not be easy."

Es kann sein, dass Jeff Bezos die Washington Post einfach so weiter führt wie bisher, spekuliert Ulrike Langer auf Medialdigital: "Oder aber, mit Bezos zeigt ein Innovator, der Print nicht verhaftet ist, dass guter Journalismus nichts mit dem Bedrucken von Papier zu tun hat. Wenn einer die Druckmaschinen abschalten und vorübergehende Reichweiten- und Anzeigenverluste in Kauf nehmen kann, dann Multimilliardär Bezos."

Matthew Ingram kommentiert auf Gigaom: "One aspect of the Washington Post deal that makes this shift even more obvious is the fact that Bezos is buying the paper personally, not in his capacity as CEO of Amazon. Presumably, if the Amazon founder thought that a newspaper was a good thing to buy from a financial point of view - as opposed to something he is doing out of a personal belief, or the broader social benefits that come from journalism, or just to have a plaything like a baseball team - he would have done the deal through Amazon."

Laurent Mauriac kommentiert auf dem Pariser Blog Rue89 eine nun schon fast vergessene traurige Mediennachricht: "Wenn es irgend eine Zahl gibt, die für sich genommen die Krise der Presse symbolisiert, dann diese: die Differenz zwischen dem Preis, für den die New York Times-Gruppe den Boston Globe an einen privaten Inverstor verkaufte - knapp 53 Millionen Euros - und dem Preis, zu dem sie ihn 1993 gekauft hatte - 1,1 Millarde Dollar."

TAZ, 06.08.2013

Anke Leweke huldigt dem Löwinnenbändiger George Cukor, dem das Filmfestival von Locarno in diesem Jahr seine Retrospektive widmet: "Den unhappy und auch den happy endings von Cukors Filmen mag etwas Spießiges, Eindimensionales innewohnen. Auf dem Weg dorthin toben sich seine Diven aber in jeder Hinsicht aus: Bei Champagner-Gelagen lassen sie sich herrlich gehen, bewaffnet mit messerscharfem Wortwitz ziehen sie in den Geschlechterkrieg, proben den Aufstand mit der List der Vernunft. Oder sie ziehen sich zurück, um eine Runde zu schmollen."

Außerdem erklärt die New Yorker Buch- und Performance-Künstlerin Elena Berriolo ihre Kunst, Piero Manzonis "Unendliche Linie" zu transkribieren: "Durch den Einsatz eines Fadens in der Nähmaschine kann ich eine wahre dreidimensionale Linie schaffen, die sich im Raum und durch die Fläche bewegt."

Weiteres: Micha Brumlik wirft für seine Kolumne einen Blick auf die Debatte über den Rassismus in den USA und wendet sich mit Grausen ab. Ralph Trommer liest Manuele Fiors Comic "Die Übertragung" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

Weitere Medien, 06.08.2013

In einem Interview mit Orhan Pamuk, das Pankaj Mishra im Mai für The New Republic mit ihm führte, wollte der türkische Nobelpreisträger nichts zum Protest auf dem Taksimplatz sagen: "Vor fünfzehn Jahren hätte ich das gemacht, aber ich will kein Journalist mehr sein. Vielleicht bin ich alt." Lieber spricht er über den Roman als blühende Kunst der Mittelklasse im allgemeinen und seinen neuen Roman im besonderen. Er handelt von der Immigration der ärmsten Türken nach Istanbul in den Sechzigern. "Im wesentlichen tue ich, was Stendhal in 'Rot und Schwarz' getan hat - ein armer junger Mann kommt in die Stadt und sucht den Erfolg - nur in vielen verschiedenen Formen. Was beweist, dass der Roman immense Kontinuität zeigt, weil er elastisch ist. Er kann Anthropologie benutzen oder Essays, New Journalism, Blogs, das Internet. Man kann aus allem einen Roman machen. Journalisten rufen an und sagen, 'Herr Pamuk, die Kunst des Romanschreibens stirbt'. Nein, tut sie nicht. Sie ist stark. Jeder schreibt Romane, jeder will Romane lesen. Wir interessieren uns vielleicht nicht so sehr für das, was in London passiert, aber wir interessieren uns für das, was in Zadie Smiths neuem Roman passiert." Über den sie hier Auskunft gibt.

Spiegel Online, 06.08.2013

Die Spiegel-Haupt-und-Staatsaktion zur Rettung der Tageszeitungen führt auf Spiegel Online zu ersten Ergebnissen. Elf Vorschläge macht Cordt Schnibben. Nummer 11: "Der Zeitungsleser muss sich zu dem bekennen, was ihn jahrzehntelang schlau gemacht und was ihn unterhalten hat, was ihn erregt und auch mal empört hat, er muss sich zu seiner Zeitung bekennen. Nur wenn er bezahlt, zukünftig auch im Netz, können Zeitungen überleben."

Welt, 06.08.2013

Auf der Meinungsseite erklärt Robert D. Kaplan, warum es richtig sei, dass Amerika nicht in Syrien interveniert: Die Außenpolitik unterliege immer auch anderen Grundsätzen als reiner Moral und Humanität, was ja auch für die Geheimdienste und viele andere Politikfelder gilt.

Im Feuilleton wendet sich Ulf Poschardt gegen Aufrufe von Intellektuellen wie Harald Welzer, die Bundestagswahlen zu boykottieren. Marko Martin besucht die Ausstellung "Effervescence" in Tel Aviv, die sich mit den israelischen Gründungsmythen befasst. Und Henryk Broder besucht die Stadt Berlin in New Jersey.

Besprochen werden die Salzburger "Meistersinger".

Tagesspiegel, 06.08.2013

Im Interview erklärt der ungarische Regisseur Benedek Fliegauf, wie die Kulturpolitik unter Viktor Orban funktioniert: Das Problem seien nicht politische oder nationalistische Vorgaben, sondern eher der Massengeschmack: "Die Politik hat natürlich Einfluss. Aber ich möchte betonen, dass die Kulturpolitik in Ungarn nicht von irgendeiner nationalistischen Ideologie bestimmt wird. Es ist hier viel chaotischer, als es im Ausland erscheinen mag. Von außen sieht die ungarische Politik wie eine zentralisierte Machtpyramide aus. Dabei geht es vielmehr um kleinkarierte geschäftliche Interessen. Dass die Fidesz-nahen Lobbyisten an eine Ideologie wie den Nationalstaat glauben, ist ein romantischer Gedanke. Sie sind Geschäftsleute, geleitet von einer messianischen Persönlichkeit, Viktor Orbán."

NZZ, 06.08.2013

Auf der Medienseite beklagt Valerie Zaslawski, dass Entwicklungsländer nach wie vor kaum eine Rolle spielen in der Weltinformationsordnung, die Kritik daran aber nahezu verstummt sei. Roman Bucheli annonciert, dass die Schweiz 2014 Gastland der Leipziger Buchmesse sein wird, man erwartet höchste Standards. Brigitte Kramer berichtet, dass in Spanien jetzt immer mehr Bibliotheken schließen müssen.

Besprochen werden Matthias Hartmanns Salzburger Inszenierung von Nestroys Welttheaterdrama "Der böse Geist Lumpazivagabundus", eine Retrospektive zu kanadischer Konzeptkunst im Badischen Kunstverein in Karlsruhe, Yang Lians Poem "Konzentrische Kreise" und John F. Kennedys Tagebücher und Briefe "Unter Deutschen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 06.08.2013

(via Jezebel) Das Blog messy nessy chic hat ein lang vergessenes Pinup wiederentdeckt: "Meet Hilda, the creation of illustrator Duane Bryers and pin-up art's best kept secret. Voluptuous in all the right places, a little clumsy but not at all shy about her figure, Hilda was one of the only atypical plus-sized pin-up queens to grace the pages of American calendars from the 1950s up until the early 1980s, and achieved moderate notoriety in the 1960s. 'She's a creation out of my head. I had various models over the years, but some of my best Hilda paintings I've ever done were done without a model,' veteran artist Duane told the online pin-up gallery Toil."

Selten gab es ein Phänomen wie Markus Gabriel. Er ist der jüngste deutsche Philosophie-Professor. Sein Buch "Warum es die Welt nicht gibt" steht nicht nur auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste des NDR, sondern auch auf der Spiegel-Bestsellerliste. Und seit neuestem ist er Kolumnist der FAZ am Sonntag. Im Interview mit Reinhard Jellen auf telepolis erklärt er seine religionsfreundliche Haltung. Toleranz habe sich aus den Religionen - besonders dem Christentum entwickelt: "In dem Buch spule ich nur um höchstens 200 Jahre zurück und behandle Schleiermacher. Das heißt, diese Toleranz war seit 1800 verbreitet. Ich glaube überdies, dass man, wenn man in der christlichen Theologiegeschichte weiter zurückgeht, feststellen wird, dass dies tatsächlich eine innerreligiöse Entwicklung ist, die durch den Gedanken des Urchristentums mitgeschleppt wurde. Das Christentum war ja erst einmal eine Minderheitenbewegung und Minderheitenoppositionen brauchen den Gedanken der Berechtigung anderer Meinungen, denn sie sind ja bereits die andere Meinung."

SZ, 06.08.2013

Warum eigentlich nicht Sachsen-Anhalt auflösen und damit enorme Kosten sparen, fragt sich Gustav Seibt angesichts der dramatischen Probleme des Landes zwischen rapide sinkenden Bevölkerungszahlen und rasant ansteigender Verschuldung: "Sachsen-Anhalt, ein Land mit einigen der überwältigendsten Kulturerbschaften der deutschen Kleinstaaterei, ist zu schwach, um diese fragilen Schätze allein in die Zukunft bringen zu können."

Weiteres: Tim Neshitov ärgert sich über das nahezu unwirksame Gesetz gegen den Handel mit Raubkunst, das Schmugglern und Hehlern einige Scheunentore zum Durchschlüpfen biete. Auf der Medienseite hält Claudia Tieschky den Deal zwischen Funke- und Springer-Verlag (mehr dazu in unserem Überblick), der unter anderem besagt, dass Springers Welt an die von Funke übernommenen Blätter Inhalte syndiziert, für so symptomatisch wie bedenklich.

Besprochen werden Gore Verbinskis Western-Blockbuster "Lone Ranger", eine Performance des Trockadero-Balletts, ein in Krefeld ausgestelltes Modell in Originalgröße eines Entwurfs von Mies van der Rohe und Bücher, darunter die deutsche Übersetzung von Jérôme Ferraris mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman "Predigt auf den Untergang" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 06.08.2013

Ursula Krechel erzählt in einem schönen Text Geschichte und Gegenwart des einst von der CIA-nahen Henry-Ford-Stiftung gegründeten Literarischen Colloquiums Berlin, das gerade seinen Fünfzigsten feiert: "Wie oft versammeln sich Autoren, Kritiker, Literaturwissenschaftler um einen runden Tisch im Literarischen Colloquium, wie oft kommen traumwandlerisch ausländische Stipendiaten die filmreife Treppe herunter, noch ganz in ihr Schreiben versunken. Wie oft lesen Autoren im großen Saal mit den gedrungenen Säulchen."

Weitere Artikel: In der Leitglosse amüsiert sich Dirk Schümer über "Buffotenor Berlusconi", der das Volk mit der "Unschuldsarie" begeistere. Im Gespräch mit Stefan Schulz betrachtet Soziologe Dirk Baecker den Prism-Skandal aus systemtheoretischer Sicht. Andreas Rossmann berichtet über das als Attrappe hingestellte "Golfclubhaus Krefeld" Mies van der Rohes in Krefeld - in Wirklichkeit waren seine Pläne für dieses verführerische Haus nie verwirklicht worden. Abgedruckt wird eine Rede Gerhard Stadelmaiers, mit der eine Ausstellung über Theodor Heuss und die Kunst im Kunstmuseum Hohenkarpfen bei Hausen eröffnet wurde. Harald Welzer erzählt eine weitere seiner Mutmachgeschichten - diesmal geht es um öffentliche Trinkwasserbrunnen. Auf der Medienseite stellt Gina Thomas eine launige BBC-Serie vor, die dem Nationalcharakter der Deutschen auf die Spur kommen will: "Wie schaffen es die Deutschen, den Briten wirtschaftlich überlegen zu sein und sie auch noch beim Fußball zu schlagen?", sei die Frage. Und die BBC gibt die ewige Antwort der Ignoranten: Es ist der deutsche Ordnungssinn. Freddy Langer schreibt zum Tod des Fotografen Robert Häusser.

Besprochen werden die Ausstellung "Raden Saleh - Ein javanischer Maler in Europa" im Lindenau-Museum, Altenburg, eine CD des Atostrios mit Werken der französischen Frühmoderne, und Bücher, darunter ein Buch Jeannie Mosers über die Geschichte von LSD (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).