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Die Glaubwürdigkeit der Sneakers

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
20.05.2022. Wolfgang Ullrich konstatiert in seinem jüngsten Buch sicher zurecht die Krise der autonomen Kunst. Kritisiert er aber auch jene Künstler zurecht, die sich noch als autonome Künstler durchschlagen wollen? Sind sie, die laut Ullrich "mit aggressiv-selbstherrlichen Parolen gegen ihren Statusverlust protestieren", wirklich das Problem? Oder nicht doch eher ein nach politischen Parolen glattgebürsteter und verbeamteter Kulturbetrieb?
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Gemessen an den Reaktionen der LeserInnen besteht eine Qualität von Fotolot darin, etablierte Personen und angesagte Positionen zu hinterfragen und wieder in den Raum ergebnisoffener Kritik zu überführen. Manchmal fällt das nicht schwer wie bei den Vorgängen um das geplante deutsche Fotoinstitut. Ab und an muss man einem künstlich aufgeblasenen Event wie der Ausstellung von Lars Eidingers Fotos in der Kunsthalle Hamburg die heiße Luft rauslassen.

In seltenen Fällen ist man leider gezwungen, Kritik an den Erzeugnissen von Personen zu üben, die man schätzt. Ein solcher Fall liegt aktuell mit Wolfgang Ullrichs neuem Buch "Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie" vor, in dem es um einen Paradigmenwechsel in der Kunst geht, dessen Konsequenzen über die Kunst hinausreichen.

Das bisher vorherrschende Ideal autonomer Kunst ist Ullrich zufolge am Ende. Unterscheidungen zwischen Kunst und Kommerz lösen sich für ihn ebenso auf wie fest umrissene Werkgrenzen und Rollenklischees. Durch Globalisierung und Digitalisierung werden auf westlicher Kunstgeschichte basierende Parameter ebenso hinfällig wie die Grenzen zwischen Kunst und Kommerz, Aktivismus und Profit, Tafelbild und Design.

Aus all dem ergibt sich ein Bild von Kunst als einem volatilen Konglomerat, das sich aus unterschiedlichen Quellen speist, teils widersprüchliche Anliegen in sich vereint, und dadurch einerseits weniger greifbar wird, andererseits mehr Kriterien zu genügen hat als jemals zuvor.

Besonderes Augenmerk widmet Ullrich der Politisierung der Kunst, die Forderungen nach Inklusion, Nachhaltigkeit und Diversität nachkommen soll und will, was zu Formaten im Zeichen von Bewegungen wie #blacklivesmatter führt, die von Ullrich ausdrücklich begrüßt werden.

Warum Ullrichs These einerseits zutrifft, andererseits die Verhältnisse im deutschsprachigen Raum in entscheidenden Punkten verfehlt, soll im Folgenden ausführlicher besprochen werden, weil es - changierend zwischen Documenta 15 und VOGUE - symptomatisch ist für eine Art und Weise, aktuell über Kunst zu sprechen: voller blinder Flecken und affirmativer (Selbst-)Zuschreibungen.

Ullrich ist einer der versiertesten Denker auf dem Gebiet der Kunst und ihres Betriebs. Ohne falsche Scheu vor traditionell als zu profan angesehenen Bereichen wie Mode oder Werbung wollte er der Kunst das Abgehobene nehmen, die Kunstwerke "tiefer hängen" (so der Titel seines Buches aus dem Jahre 2003) und das Nachdenken darüber nüchterner gestalten - eine Haltung, die angesichts des sich erhitzenden Kunstmarktes und der Preise für die auftrumpfende, neoliberale Kunst der Nullerjahre à la Koons oder Eliasson angemessen war und 2016 im Buch "Siegerkunst" kulminierte, dessen Titel geradezu sprichwörtlich wurde.

Ullrichs neues Buch beginnt mit einem Bekenntnis: "Wenn ich auf  die heutige Kunstwelt blicke, kommt es mir vor, als hätte ich einen Filmriss gehabt (...). Auf einmal wirken die Ideen und Ansprüche und Ideen autonomer Kunst fremd (...), Also versuche ich mich in dieser neuen Welt zurecht zu finden."

Das Bescheidene, das dieses Bekenntnis prägt, ist leider im darauf folgenden Text nicht mehr aufzufinden. Was auch damit zu tun hat, dass diese Selbstauskunft zu einem Gutteil kokett ist - ist es doch schon lange Ullrichs Agenda, traditionelle Parameter wie "Werk", "Genie" und das historische Fundament, auf dem sie stehen, zu hinterfragen.

"Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie" ist über weite Strecken weniger Analyse als Datensammlung über die Mannigfaltigkeit des Gebrauchs, der gegenwärtig von der Kunst gemacht wird.

Khin, eine burmesische Straßenhändlerin in Bangkok 2011 © P. T.


Die afroamerikanische Künstlerin Faith Ringold hat für das MoMA Sneakers entworfen, deren Design einen Bezug zu ihren "Diskriminierungserfahrungen als Schwarze Frau" hat. Durch den Erwerb der Sneakers kann man sich "zum Ziel einer diskriminierungsfreien Gesellschaft bekennen", zugleich bieten sie "Anlass zu starken Gefühlen". Dumm nur "dass die Glaubwürdigkeit der Sneakers dadurch geschwächt wird, dass der Hersteller 'Vans' mit der Skater-Szene assoziiert wird, der lange ausschließlich Weiße angehörten". Das "weckt den Verdacht", es "könnte sich um ein Marketing-Manöver der Schuhmarke handeln, das vom Museum gar noch darin unterstützt wird", so Ullrich in seinem Buch.

Der schwarze, homosexuelle Sänger Lil Nas X brachte eine auf 666 Exemplare limitierte und in Anspielung auf eine Stelle im Lukas-Evangelium 1018 Dollar teure Edition von Sneakers namens "Satan Shoes" heraus, deren Luftpolsterung einen Tropfen Blut enthalten soll. Zudem hat Lil Nas X bewusst das Design eines  Klassikers von Nike raubkopiert, deren Geschäftsführung so humorlos war, genau das zu tun, worauf Lil Nas X gehofft hatte: ihn zu verklagen.

Faith Ringold hätte das von Ullrich als  eine "Form des Gelingens postautonomer Kunst" beschriebene Team von Forensic Architecture um Hilfe bitten sollen, "Vans" vorher zu durchleuchten. Sie konnten - neben ihrer wertvollen forensischen Arbeit für Institutionen wie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - einen Aufsichtsrat des Whitney Museums als Produzenten von Tränengas outen. (Bis dahin dachte man ja, die CEOs börsennotierter US-Unternehmen und Geldinstitute wären zu ihrer Kunstsammlung gekommen, indem sie in luftigen, pfirsichfarbenen Gewändern über sonnenüberflutete Almwiesen tanzten.)

Später ist noch von Handtaschen die Rede sowie von Versteigerungen eines Tyrannosaurus Rex und des Ferraris von Michael Schumacher als Artefakte der Gegenwartskunst bei Christie's.

Danach kommt Ullrich auf den "überstrapazierten und entleerten Kunstbegriff" zu sprechen. Zuerst  behandelt er (wie schon 2007 in "Gesucht: Kunst!") das schwerblütige Erbe der Romantiker wie Moritz, Schiller oder Schleiermacher, die eine "kunstreligiöse Sehnsucht" bedienten, "die gerade in säkularen Gesellschaften fortlebt".

Irgendwann leierte dieser quasi-religiöse Anspruch aus, spätestens, als moderne Avantgardisten Strategien einer Anti-Kunst entwickelten, was jedoch eine zunehmende Wahl- und Kriterienlosigkeit beförderte. Eine Reaktion darauf war institutionelle Pragmatik: Kunst war, was in Museen und Galerien, Messen und Auktionshäusern als solche präsentiert wurde - eine Sache, die unmittelbar mit Geld und Macht zusammenhängt, weshalb Ullrich vom "Recht des Stärkeren" in der Kunst spricht. Danach wurde "durch die Globalisierung die rein westliche Perspektive auf das Kunstgeschehen aufgegeben", was zu einer "Abkehr von der Kunstgeschichte" geführt hat.

Einst "verhalf der gesellschaftliche Status von Auftraggebern Hofkünstlern wie Velazquez zu Autorität". Heute kann Kunst Ullrich zufolge dadurch Autorität gewinnen, "wenn sie auf ein gesellschaftspolitisches Anliegen ausgerichtet ist" und "große Themen" im Fokus hat wie "ökologische Probleme, Gewalt, Unterdrückung, sexuelle und rassifizierte Hierarchien, patriarchalen Kolonialismus".

Positionierungen dieser Art operieren erfahrungsgemäß nicht selten mit einem Feindbild. Allgemein ist es der alte, weiße, heterosexuelle Cis-Mann - darüber braucht in unseren Breitengraden auf Kunsthochschulen und im Kulturjournalismus nicht mehr diskutiert werden. Bei Ullrich gerinnt das zur Figur des autonomen, weißen, heterosexuellen, überwiegend männlichen Künstlers als die Wurzel allen Übels.

"Trotz der prägenden Macht der globalisierten Kunstinstitutionen gibt es aber nach wie vor KünstlerInnen, die der Idee autonomer Kunst folgen. (...) Sie werden es von Jahr schwerer haben, Aufmerksamkeit zu erzielen. Welche KuratorInnen stellen sie noch aus? Welche Sammlungen, die auf Thrill, Status und Rendite bedacht sind, interessieren sich noch für sie?" Schließlich "werden sie nicht nur übersehen", sondern der "Ignoranz und Bequemlichkeit" beschuldigt, als "egozentrisch, weltfremd, unreflektiert, privilegiert, antiquiert, borniert, (...), voller blinder Flecken und Ausschlussmechanismen".

Das Böse kommt nicht in Form von Vampiren oder Körperfressern in die Welt, sondern von autonomen KünstlerInnen, die auf "ihrer gesellschaftlichen Sonderstellung und (...) uneingeschränkten Freiheit" beharren. Die Feindseligkeit, mit der man ihnen gegenübertritt, haben sich die KünstlerInnen redlich verdient, wenn sie "rücksichtslos und verschroben (...) mit aggressiv-selbstherrlichen Parolen gegen ihren Statusverlust protestieren".

Immer wieder kommt Ullrich im Buch auf Facetten seiner offensichtlichen Abneigung gegen autonome Kunst zu sprechen: "Die Gunst, ja, Gnade des Kunstwerks hatte man sich immer erst zu verdienen, man hatte sich gut zu benehmen, abzuwarten, interpretationswillig zu sein, bevor man darauf hoffen durfte, einen Moment der Erleichterung oder Erlösung zu erleben (...) Als Schöpfung eines gottbegnadeten Genies bewies das Kunstwerk seine Überlegenheit gegenüber allen, die es deuten wollten. (...) Wie vergleichbare Denkfiguren in anderen Bereichen als patriarchal dekonstruiert wurden, könnte dies auch dem Werkbegriff widerfahren". Er "könnte als Spielart von Machismo eingeschätzt werden". Dabei "müsste das nicht sein", weiß Ullrich. "Etwas anderes als ein bisschen mehr Reflektiertheit wird von KünstlerInnen überhaupt nicht verlangt".

Wie immer darf, nachdem man sich (einigermaßen skurril) am Feindbild abgearbeitet hat, die Immunisierung gegen Kritik nicht fehlen. Ullrich: "Diese Kritik kommt von denjenigen, die sich in ihrer männlichen Autonomieherrlichkeit angegriffen fühlen. Sie bezeichnen ihre GegnerInnen am liebsten als 'woke', womit sie einen Begriff vereinnahmen, der ursprünglich aus der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung stammt und diejenige würdigen soll, die wach gegen Diskriminierungen sind (...). Wer 'Wokeness 'als Ausdruck für eine selbstgerechte, hochmütige Form von Aufgeklärtheit verwendet, will das ursprüngliche Streben nach sozialer Gerechtigkeit diskreditieren."

Sarath, ein singhalesischer Koch in Kandy, Sri Lanka 2014 © P. T.



Ullrich kommt natürlich nicht von der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, sondern aus der Tiefe des deutschen Hochschul-Milieus. Nach Dozenturen und Gastprofessuren war er ab 2006 Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, 2015 legte er sein Amt nieder und reüssiert seither als freier Autor. Was Ullrich von seinen akademischen Jahren geblieben ist: ein stabiles Netzwerk, heute weit vor aller Begabung das Um und Auf im Kunstbetrieb.

Ullrichs Kollaborationen allein während der für viele autonome KünstlerInnen von ausbleibenden Aufträgen und Honoraren geprägten Corona-Zeit: ZKM Karlsruhe, Hamburger Kunsthalle, Alfred Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung, Landesbüro für Bildende Kunst NRW, Kunsthaus Wiesbaden, Leipziger Buchmesse, Deutschlandfunk Kultur, Museum der Bildenden Künste Leipzig, Friedrich Ebert Stiftung, Bayrischer Rundfunk, TU Dresden, Art Cologne, Muthesius Kunsthochschule, Kulturpolitische Gesellschaft E. V. Nicht zu vergessen das mehrheitliche Fundament dieser Aktivitäten: die Bundeskulturstiftung, das Auswärtige Amt, die Ministerien und Senate für Kultur und Wissenschaft der jeweiligen Länder und Städte, Neustart Kultur und so weiter.

Apropos ausbleibende Honorare: Werfen wir einen Blick auf die "gesellschaftliche Sonderstellung" und die "Statusprivilegien", die zu verteidigen autonome KünstlerInnen sich Ullrich zufolge anschicken könnten, da sie ihnen "in der Moderne oft dazu dienten, sich rücksichtslos dessen zu bemächtigen, was außerhalb ihrer Welt lag".

Als ein Beleg unter unzähligen mag der Kunstbericht des Österreichischen Kunstministeriums 2019 dienen, den der Standard wie folgt zusammenfasst: "Das durchschnittliche Nettoeinkommen von Kunstschaffenden [im Jahr!] beträgt 11.400 Euro. Der Anteil der künstlerischen Tätigkeit liegt jedoch nur bei 5000 Euro, der Rest wird durch Nebenerwerb erwirtschaftet. Besonders prekär ist die Lage bei Bildenden KünstlerInnen. Hier liegt das Durchschnittseinkommen aus künstlerischer Tätigkeit bei 3.600 Euro. (...) Kunstschaffende nehmen bei der Prekarisierung der selbständigen Berufe eine führende Rolle ein, vierzig Prozent sind nicht durchgängig sozial- und krankenversichert."

Interessant auch die Aussagen der Vorsitzenden des Österreichischen Kulturrats, Maria Anna Kollmann: "Dadurch, dass viele Mittel an öffentliche Kultureinrichtungen gebunden sind, sind es gerade die Förderungen für autonome Kultureinrichtungen und Kunstschaffende, die weniger oder gestrichen werden. Zudem sind diese Förderungen oftmals intransparent."

Man kann sich vorstellen, zu welch egozentrischen und aggressiv-selbstherrlichen Exzessen derart "privilegierte" Einkommensverhältnisse verführen!

Zum Vergleich: Die Direktorin des Kunsthistorischen Museums Wien, Sabine Haag, verdiente 311.900 Euro, der Direktor der Wiener Albertina, Klaus Albrecht Schröder, 310.700 Euro. Verhältnisse, die 1:1 auf Deutschland übertragbar sind und Ullrichs Bild autonomer Kunstschaffender im Jahr 2022 als Absurdität erscheinen lassen.

Ma,eine burmesische Frau im Zug nach Mawlamyaing, Myanmar 2013 © P. T


In Wahrheit sind nicht die einkommens- und netzwerkschwachen sowie wenig geförderten autonomen Kunstschaffenden das Problem der deutschen Kunst, gleich, welcher Sparte, sondern deren totale Verbeamtung und Verschulung und ein daraus hervorgehendes Cliquen- und Seilschaftswesen.

StaatskunstbeamtInnen und StaatskunstgewerblerInnen in Film,Theater, Oper, klassischem Orchesterbetrieb, Museum und Hochschule arbeiten auf Basis einer vom Souverän bestenfalls monatlich ausbezahlten Staats-Alimentation, nicht selten auf Lebenszeit. In die Gehälter und Renten dieser Männer und Frauen und ihrer MitarbeiterInnen sowie in die Erbauung, Erhaltung und Erweiterung der angeschlossenen, von fest angestelltem Personal besachwalteten Gebäude fließen neunzig Prozent der Kulturförderungen der Bundesrepublik Deutschland und Österreich.

Wie ist Ullrichs Buch unter diesem Aspekt zu bewerten?

Eine diversere, jüngere Generation besetzt allmählich die Plätze, die vorher von eher kulturkonservativen Männern besetzt waren, da kann man ohne eindeutiges Bekenntnis rasch den Kürzeren ziehen, wie der gruselige Bericht von Anne Applebaum aus den USA zeigt, wo "die neuen Puritaner" (Applebaum) gezielt missverständliche Worte und Gesten, die teils in die Jugendzeit zurück reichen, dazu nutzen, KonkurrentInnen zu denunzieren und karrieretechnisch aus dem Weg zu räumen.

Das internationale Kunstbetriebsmilieu der akademisch geprägten Upper (Middle) Class diversifiziert sich, und alle wollen so gut es geht, weiter ihr Stück vom Kuchen abbekommen - auch Wolfgang Ullrich, der mit diesem Buch "Self Design" betreibt, wie der Philosoph Harry Lehmann das nennt.

"J", ein burmesischer Fahrrad-Taxifahrer in Rangun, Myanmar 2015 © P. T.


Lehmann hat in Lettre International Nr. 135 unter dem Titel "Kunst. Moral. Freiheit" Ullrichs Positionierung dezidiert kritisiert: "Wenn man sich im Kunstsystem vorschreiben lässt, was es für ein Kunstwerk heißt, 'frei von Diskriminierung' zu sein, dann werden damit zwangsläufig interne Zensurprozesse getriggert, die dazu führen, dass bestimmte Zeichen, Symbole und Aussagen vermieden werden oder ihr kritisches Potenzial verlieren. (...) Es ist eine historische Errungenschaft liberaler Demokratien, dass sie sich eine fiktionale Kommunikationssphäre geschaffen haben, wo es keine Darstellungsverbote gibt und alles, was dargestellt wird, auch negiert, dekonstruiert und ironisiert werden kann, und zwar unabhängig, was einzelne Personen oder gesellschaftliche Gruppen oder die Mehrheit der Gesellschaft davon halten. (...) Wenn Politik in der Kunst definiert, was rassistisch oder sexistisch ist, dann sind diese Themen für die Kunst verloren, weil sie sich dann nur noch eindeutig und ambivalenzfrei - also unkünstlerisch - darstellen lassen. Und wozu braucht man noch Kunst, wenn sie nur zeigt, was eh jeder schon weiß."

Ullrich macht in seiner Replik mit Lehmann kurzen Prozess, indem er behauptet, Lehmann befördere "einen exzessiven Liberalismus" unter dem Zeichen des "Rechts des Stärkeren", was "in Konsequenz jede Art von Rücksichtslosigkeit gestattet". Es bleibt durchs ganze Buch hindurch ein Rätsel, wieso Ullrich immer wieder in diesen abschätzigen Ton verfällt, nicht zuletzt, wo es in seinem Buch doch um positive Veränderungen für einst Marginalisierte und Minderheiten im Kunstbetrieb geht.

Wahrscheinlich hatte Niklas Luhmann Fälle wie diesen vor Augen, als er einst trocken feststellte: "Empirisch gesehen ist moralische Kommunikation nahe am Streit und damit in der Nähe von Gewalt angesiedelt. Sie führt im Bezeugen von Achtung oder Missachtung zu einem Überengagement der Beteiligten."

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de

P.S. Ich habe diesem Beitrag Fotos von meinen Aufenthalten in (gemessen an üblichen statistischen Größen) armen Regionen Südostasiens beigefügt - mögen sie einen positiven Beitrag zur Wahrnehmung des Anderen und des Wohlwollens füreinander darstellen.



Wolfgang Ullrich: Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie. 192 Seiten, 14 x 22 cm, Softcover. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021, 22 Euro. ISBN: 3803151902 (Kaufen bei eichendorff21)