Vorgeblättert

Calixthe Beyala: Wilde Liebschaften. Teil 1

06.08.2004.
Wieder einmal versuche ich, alles der Reihe nach zu erzählen. Und wieder einmal zweifle ich, ob eine solche Beichte wirklich notwendig ist. Manchmal denke ich an diese Jahre zurück, in denen ich noch Ideen hatte, Gewissheiten und den Glauben. Heute sehe ich in jeder Wahrheit einen Widerspruch. Jede Sicherheit ist für mich Wahnsinn. Jede Überzeugung Fanatismus. Die Extremisten werden mich für verrückt erklären, die Radikalen für dumm.
Damals war ich wie viele andere Frauen auch, manche streiten es ab, manche geben es zu: Nachdem ich von einem Mann zum nächsten gewandert war, die große Liebe kennen gelernt hatte, das leere Bett am frühen Morgen und die Tränen, verfiel ich in Bars, in denen gescheiterte Sängerinnen das Publikum mit heiseren Stimmen am Schlaf hinderten, der Leidenschaft für raschelnde Scheine, klimpernde Münzen und knisternde Seidenspitzen. Und als sich die Falten auf meinem Gesicht bedrohlich auszubreiten begannen, befand ich, es sei an der Zeit, etwas zu unternehmen.
Seit meiner Ankunft aus Afrika hatte eine Enttäuschung die andere abgelöst, bis ich schließlich völlig abgebrannt vor Monsieur Trente pour Cent stand, einem untersetzten schmerbäuchigen Franzosen, der auf alles dreißig Prozent einkassierte: dreißig Prozent auf die Getränke, dreißig Prozent auf die Zigaretten, dreißig Prozent auf die Einnahmen der Huren und dreißig Prozent für die Zimmer, die er vermietete!
Plethore war Künstler-Schriftsteller. Er verkehrte mit Prostituierten und Zuhältern. "Sie wenigstens kennen das wahre Leben!", verkündete er. Im ersten Morgengrauen kreuzte er bei den Schönen Pariserinnen auf, wo ich meinem Broterwerb nachging: "Alles klar, Mädchen?" Wild gestikulierend liebkoste er uns mit seinem dichten roten Intellektuellenbart und setzte sich an einen der hinteren Tische: "Ein Bier!" Er trank, rauchte Gitanes und schrieb Gedichte. Wir kannten uns seit über zehn Jahren, ohne dass mein Mieder oder die Aufsehen erregenden Brüste Lolitas oder die skandalösen Strümpfe Glorias seine Eier übermäßig in Wallung gebracht hätten. "Meinst du, dass der hierherum normal ist?", fragte mich Jeanne-d?Arc, unsere Folterspezialistin, und zeigte mit dem Finger zwischen ihre Beine. Inmitten des Balletts von Mädchen und Kunden, die über die Treppe kamen und gingen, inmitten der stummen Begierden, vorgetäuschten Leidenschaften und Ekel erregenden Küsse schwollen unsere Wangen an, und wir prusteten los. "Die Bücher sind schuld", sagte ich. "So was frisst einen Mann auf!" Von meinem Platz aus konnte ich Plethores Haare sehen, die in V-Form seinen kürbisrunden Schädel zierten, seine kleinen grünen Augen, sein Kinn, das derart vorstand, dass es ihm stets einen Schritt vorausging. Manchmal blickte er von seinen Blättern auf, schaute verdutzt und dümmlich um sich und fragte: "Geht?s gut, Eve-Marie?"
Ich nickte, streckte mein ausladendes, in einen kurzen Rock gezwängtes Gesäß nach hinten, den Busen nach vorne heraus und stöckelte auf meinen hohen Absätzen davon zum Anbaggern. Ab und zu erschien er mitten unter uns, breitete seine Arme aus wie im Theater und deklamierte: 

Die Haare der Mädchen gleichen der Morgenröte,
Jene der Frauen dem Frühling
Jene der Kinder dem Sommer,
Ist es ein Wunder, dass jene der Alten mir wie ein strenger Winter scheinen!
 

Dann brach er ab, wie eine Rose, die zu Boden fällt: Lastwagenfahrer mit schmierigen Witzen lächelten dümmlich; Bauern, die nach Eisenbahn rochen und sich mit der Pariser Halbwelt gemein machten, setzten den Hut ab und redeten mit der Sanftheit von Dorfidioten; Führungskräfte vom Typ Anzug-Krawatte-Aktenmappe, auf der Flucht vor den ausgetrockneten Mösen ihrer Ehefrauen, drückten ihre Nase in ihren Gin Tonic. Monsieur Trente pour Cent trocknete seine Gläser ab. Plethore riss sich aus seinen Halluzinationen und fragte: "Na?" Er bettelte: "Hat es euch gefallen?" Er flehte: "Sagt mir die Wahrheit!" Die Leute zuckten die Schultern: "Nicht schlecht!" Sie hatten andere Sorgen, als ihre Gehirnmuskeln zu trainieren.
Plethore sank, lang wie er war, in sich zusammen. Seine goldgesprenkelten grünen Augen wurden rot. Dann zog er sich beschämt, mit gebeugtem Rücken, unter dem anschwellenden Stimmengewirr zurück. Die Männer gaben geschraubte politische Kommentare zum Besten. Die Mädchen sprachen vom Heiraten, obwohl keine von uns wusste, was das war. Ich gab zu allem meine Kommentare ab, die Augen auf Plethores Stift geheftet, der übers Papier glitt, halb hypnotisiert, merkwürdig besänftigt. "Er ist ein großer verkannter Schriftsteller!", sagte ich mir, weil der Ausdruck mich bestach und ich ihn mit Obdachlosen und Nutten in Verbindung brachte. "Ein großer, verkannter Künstler", wiederholte ich für mich, denn er war der Verteidiger all dessen, was die Gesellschaft mit Verachtung strafte. "An die Arbeit, Mädchen!", rief Monsieur Trente pour Cent.
Wir ließen von unseren törichten Träumereien und Sehnsüchten ab und strichen um die Männer herum. Ich bot meinen enormen Negerhintern zu bescheidenem Preis feil und wurde überall Mademoiselle Bonne Surprise genannt. Wenn keine Kunden da waren, flanierte ich durch die Straßen des Faubourg Saint-Honore, dessen Geschäfte so von Luxus strotzten, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie man hier einkaufen konnte. Die anderen Frauen schienen mein Gefühl allerdings nicht zu teilen. Verkäuferinnen, wie Stewardessen gekleidet, öffneten ihnen die Tür. Sie traten ein, als wären sie hier zu Hause. Meine Brauen zogen sich zusammen, und ich musste an mein afrikanisches Dorf denken, inmitten der großen Hügel, hinter denen die Sonne versank; ich sah seine dunklen, mit Bananenbäumen überzogenen Berge, seine Mangobäume mit ihren großen roten Früchten. Tausende von diebischen Affen sprangen schreiend von Ast zu Ast. Üppige Sträucher tauchten ihre Zweige in den Fluss, der unsere Stadt durchquerte und alte Zinntöpfe, Plastikfetzen und Ölteppiche von den fernen Raffinerien mit sich führte. Beim Anblick dieser Dinge wurde ich in lichte Träume entführt, und so kehrte ich meinem Land eines Tages den Rücken, weil Gott sich in Europa großzügiger gezeigt hatte. Ich trällerte melancholische Lieder vor mich hin, und gut gekleidete Passanten warfen mir Blicke zu, so kalt wie Glas. Im Parc Monceau wurden bereits die ersten Tannenbäume geschmückt, obwohl die herbstlichen Bäume noch voller Blätter standen. Als ich aus meinen Erinnerungen wieder auftauchte, fiel mein Blick auf Kinderfrauen, in deren Wagen die Babyköpfe auf den aufgeschüttelten Kissen wie Orchideen blühten. Die Hauswände aus behauenem Stein waren makellos glatt, und vor den Fenstern prangten Blumenbalkone. Selbst die Tauben waren fett und in Sicherheit. Ich kam mir lächerlich vor in meinem Jerseyrock und meinen zerknitterten Strümpfen. Ich stampfte mit dem Fuß auf: "Irgendwann", sagte ich mir ... und schluckte meine Wut hinunter.
Mit kurzen Schritten ging ich zurück nach Belleville, wo die Straßen schmutzig, eng und hässlich waren. Der Duft von Maronen und gegrilltem Mais aus den Läden der Neger erfüllte die Luft. Ich war glücklich, diese Menschen zu sehen, die mich kannten. "Wie geht?s, Eve-Marie?", fragten sie. Meine Lider wurden schwer unter den Tränen der Dankbarkeit. Ich hörte Grillen in den Straßenlaternen zirpen und das Flattern der Blutschnabelweber, die schamlos kackten. Später erklärte mir Plethore, dass die Umweltverschmutzung sämtliche Grillen vernichtet und ich das Zischen des Abwassers in der Kanalisation gehört hatte.
Monsieur Michel Dellacqua, der französische Lebensmittelhändler mit schwerem Atem, rief mir zu: "Willst du einen Apfel, Bonne Surprise?" Er rollte die Augen, schnitt schmachtende Grimassen. Sein Portemonee war leer, und er glaubte, mich wie die Schlange im Paradies mit einem Apfel verführen zu können. Er verachtete Neger genauso wie Araber und Juden. Mit meinen riesigen flaumig weichen Brüsten, meiner Mitternachtshaut und meiner dichten Mähne war ich die Ausnahme, die die Regel bestätigte. Ich schnappte mir den Apfel, und Monsieur Dellacqua fuhr seinen feinsten Akzent auf und rief ekstatisch: "Was ich brauche, sind ein Paar fette Arschbacken!" Sein rundes Gesicht verwandelte sich: "Lässt du mich irgendwann mal ran?" Ich klatschte in die Hand: "Und deine Frau Rosa, mein Freund?" Er zuckte die Schultern, seine Wangen fielen ein: "Das ist nicht dasselbe, meine Liebe!" Wie ein Schulmädchen ergriff ich die Flucht.

Teil 2