Vorgeblättert

Dmitrij Prigow: Lebt in Moskau!, Teil 1

Boris Leonidowitsch Pasternak hatte zum Beispiel eine Reihe von Bekannten, deren Namen weder vor noch nach meinen Erinnerungen irgendwo genannt wurden. Selbst Pasternak, dem gegenüber sie viel später einmal in einem Gespräch erwähnt wurden, schien von diesen Menschen weder gehört noch sie je gesehen zu haben, er kannte sie einfach nicht. Weder an Namen noch an irgendwelche Merkmale, an Wohnort oder sonstige Details ihrer "gemeinsamen" Vergangenheit konnte er sich erinnern. So etwas kommt vor. Trotzdem existierten diese Menschen. Irgendwie erfuhr man von ihnen. Oder auch nicht. Ich auf jeden Fall kenne sie und weiß - zumindest im Rahmen dieser Erzählung - einiges über sie.

Der Dichter kam häufig zu ihnen auf Besuch. Er nahm dann an einem bescheidenen Tisch Platz, auf dem für jene schweren Zeiten jedoch durchaus reichhaltig serviert wurde: Kartoffeln, Makrelen, diverse Salate, Sülze, manchmal Tomaten, Salzgurken und Wodka. Gar nicht schlecht. Sie saßen, tranken, unterhielten sich, aßen noch immer. Sie diskutierten ernsthafte Dinge und Fragen. Zu Scherzen war damals keiner aufgelegt. Später ging der angeheiterte Dichter allein durch das dunkle, kalte, hungrige, unfreundliche, halb zerstörte, zerfallende, mit Schnee bedeckte und von allen Seiten her beschossene Moskau wieder nach Hause, an das entgegengesetzte Ende der riesigen Stadt. Öffentliche Verkehrsmittel fuhren natürlich nicht mehr, damals funktionierten sie auch untertags nicht. Überhaupt nichts ging mehr. Was damals ging oder vielmehr herumhastete und herumstolperte, waren Menschen, die noch rasch versuchten, ihr Glück zu erhaschen oder den Zufall zu überlisten. Es gab keine Autos. Die Pferde waren gestorben. Und außerdem begann jeweils um sieben Uhr abends die von den Behörden zur Bekämpfung von Diebstahl und Banditismus ausgerufene Ausgangssperre. Mit den Patrouillen, das wissen Sie selbst, ist nicht zu scherzen: Ein Warnschuß in den Kopf, und schon ist alles aus!

Boris Leonidowitsch, der im Grunde immer zum Spiel mit dem Feuer aufgelegt war, überdies zu höchst riskanten Versexperimenten neigte, zog es in diesem Fall vor, nicht zu scherzen. Wenn er aufbrechen wollte, versuchten ihn seine freundlichen Gastgeber umzustimmen:

"Wohin wollen Sie zu so später Stunde, Boris Leonidowitsch? Sie werden sich noch eine Kugel einfangen."

"Was soll ich einfangen?" wunderte sich der Dichter voll kindlicher Naivität.

"Aber es sind doch Patrouillen unterwegs, und die schießen. Sie können ohne alle böse Absicht, einfach so, aus Zufall, jemandem einen Kopfschuß verpassen."

"Tatsächlich?" wunderte sich Pasternak.

"Na klar! Die sehen doch nicht, daß Sie ein großer Dichter sind!"

"Sie verstehen das nicht?"

"Das verstehen die nicht."

Sie waren Boris Leonidowitsch aufrichtig verbunden und schätzten seine Fähigkeiten über alles.

"Sie sehen das nicht", wiederholte der Dichter langsam und nachdenklich, er wollte noch immer nicht glauben, daß eine russische Patrouille seine außergewöhnlichen dichterischen Gaben möglicherweise nicht erkennen würde. Schließlich sah er es doch ein und schüttelte den Kopf.

Teil 2.