Vorgeblättert

Inka Parei: Was Dunkelheit war. Teil 1

18.08.2005.
Das Haus lag am westlichen Stadtrand von Frankfurt, in der Nähe eines Flusses, der Nidda. Der alte Mann hatte nicht damit gerechnet, daß er es erben würde, er hatte einen Schreck bekommen, als er davon erfuhr. Im ersten Moment hatte er sich an den früheren Besitzer nicht mehr erinnern können.
     Es hatte eine Nachkriegsfassade, schmutzig und ausdruckslos. Wahrscheinlich war es Ende der fünfziger Jahre das letzte Mal gestrichen worden. Der Putz an der Vorderfront bestand aus rauhen, wurmförmigen Kerben, in denen sich der Dreck der Jahrzehnte eingelagert und schwarze Rillen gebildet hatte. Es war ein Eckhaus mit einer Gaststätte und einem Metzgerladen im Erdgeschoß, und die Straße Alt-Rödelheim, in der es stand, war eng und gewunden. Tagsüber fuhr in zehnminütigen Abständen eine sehr laute Straßenbahn mit der Aufschrift "23 Röderbergweg" vorbei. Er mochte das Geräusch, es war ihm schon nach kurzer Zeit vertraut, in den Nächten kam ihm die Stille wie etwas Künstliches vor.

Er hatte sich an seine neue Umgebung nicht richtig gewöhnt, wie viele Leute in seinem Alter, die noch mal umzogen, ein Teil von ihm lebte noch in Berlin. Wenn er müde war oder wenn er ein paar Gläser zuviel getrunken hatte, kam es manchmal vor, daß er sein Bett nicht auf Anhieb finden konnte, oder er ertappte sich dabei, die Türen auf der falschen Seite zu suchen.
     Bei seinem Umzug hatte er nicht mehr viel mitnehmen wollen. Seine Schrankwand hatte er zurückgelassen und seine Bücher an einen Nachbarn verschenkt, der am Wochenende auf einer Grundstücksbrache in der Nähe der Kreuzberger Möckernbrücke Trödel verkaufte. Der Händler hatte ihm die langen Holzkästen gezeigt, in denen der Nachlaß Verstorbener verhökert wurde, ihre Briefe und Familienbilder und persönlichen Dokumente, und daraufhin hatte er die Fotos, die noch in seinem Besitz gewesen waren, verbrannt.
     In seinem neuen Wohnzimmer gab es nur noch zwei Sessel und einen Tisch und einen alten Vitrinenschrank. Der Tisch war meistens leer bis auf eine farblose Decke und eine Dose aus Tropenholz, die für Besucher gedacht war und steinalte Zigaretten enthielt.

Als er am Abend des sechsten September aufwachte, war es bereits dunkel. Er war am Fenster eingedöst und mit dem Ohr gegen die Scheibe gestoßen. Er schrak hoch und rieb sich die ausgekühlte Seite seines Gesichts. Draußen war Nacht, aber er hatte die Dunkelheit nicht kommen sehen, auch nicht den Regen. Der Regen hatte überhaupt kein Geräusch.
     Einen Moment lang war ihm nicht klar, wo er sich befand. Er hatte einen schlechten Traum gehabt. Die Scheibe vor ihm war beschlagen, und dahinter sah alles verschwommen aus und war ohne Tiefe. Er wischte mit dem Hemdsärmel über das Glas. Unter ihm lag eine dicke Asphaltkurve, die sich lautlos verfärbte, sie wand sich wie der Rücken eines Tieres um die Häuser und mündete nach ein paar Metern in eine Hofeinfahrt. Er sah parkende Autos und etwas weiter entfernt das Licht einer Straßenlaterne, das auf den schon feuchten Teilen des Pflasters trübe und grobkörnig glitzerte. Die Fassade des Gebäudes gegenüber war nur wenige Schritte entfernt, sie neigte sich nach vorn, eine Wand aus Schieferplatten, wie riesige Reptilschuppen aneinandergeschichtet.
     Worum es in dem Traum gegangen war, hatte er wieder vergessen, nur daß es kalt gewesen war, wußte er noch. Es hatte nach Schnee gerochen, und er hatte Birkenstämme gesehen, die sah er in letzter Zeit oft; dicht beieinander stehende Birken, mit Spuren von Streifschüssen.

Ein paar Minuten lang achtete er nur auf seinen Atem. Es war eine mondlose Nacht, schon kühl. Die Kinder vom Wirt heulten. Sie hatten noch Licht an. Lärm drang sehr laut zu ihm herauf, der Hof, zu dem er jetzt immer öfter, bei Tag und Nacht, hinaussah, war wie ein Schacht, in dem die Geräusche sich sammelten, auch ein Flüstern.
     Er zog sein Fernglas hinter der Heizung hervor und richtete es auf die gegenüberliegende Hauswand.
     Er hatte noch nie etwas Größeres besessen, nicht mal ein eigenes Auto. Natürlich bekam er jetzt wesentlich mehr Geld als früher, aber diese Einnahmen bedeuteten ihm nicht viel. Er hatte nächtelang über den Papieren gesessen, die man ihm übergeben hatte, besonders die Versicherungen, die für das Haus abgeschlossen waren, hatten ihn beschäftigt, er hatte sich sämtliche Bestimmungen durchgelesen, die mit ihnen verbunden waren, sich aber eingestehen müssen, daß er sie nicht alle begriff. Er wußte nicht, gegen welche Katastrophen das Haus wirklich geschützt war, er war jetzt immer wachsam.
     Über den Parkplätzen lag die Wohnung eines Ehepaares, das Dörr hieß, sie waren die ältesten Mieter im Haus. Ihre Wohnung war auch im Sommer überheizt, in der Küche tropfte Kondenswasser von den Scheiben. Die Frau saß am Tisch und strickte, er sah einen Teil ihrer Beine und Knie und eine mit Wollbällen gefüllte Plastikschüssel. Der Sohn der Dörrs stand daneben am Herd, ein pickliger Junge mit Schnauzbart. Er rührte in einem Topf und warf, ohne hinzusehen, eine leere Konservendose in den Abfalleimer.
     Das Kinderzimmer befand sich ein Stockwerk höher, es war meistens unaufgeräumt, ihm kam es verwahrlost vor. Die Schranktüren standen offen, eine schwankende Lampe warf trübes, von Bastfäden durchbrochenes Licht durchs Zimmer.
     Es waren Mädchen, er verstand nicht, warum sie keine Nachthemden trugen. Sie saßen auf dem oberen Bett, ein Knäuel aus mageren Armen und Beinen in Schlafanzügen aus Frottee. Auf den ersten Blick konnte er nicht erkennen, ob die beiden kämpften oder beieinander Schutz suchten, dann sah er jedoch, daß sie stritten. Ihre Haare waren zerzaust, die Ältere drückte ihre Schultern an den Bauch der Jüngeren, die ihr die Hände von hinten um den Hals krallte.
     Als die Kinder sahen, daß jemand kam, trennten sie sich und schrien laut durcheinander. Eine Männerhand kam ins Bild, eine Faust, in die zwei Zahnbürsten eingeschlossen waren. Oben ragten die Bürstenköpfe heraus. Der Wirt war ein kräftiger, schwarzhaariger Mann, ungefähr Mitte Fünfzig, unter seinen Augen hingen auffallend dicke Tränensäcke. Er deutete auf herumliegende Gegenstände im Zimmer und schrie etwas und dann trat er ans Bett der Kinder und öffnete seine Gürtelschnalle.

Teil 2