Vorgeblättert

Leseprobe zu Alina Bronsky: Scherbenpark, Teil 3

Jetzt laufe ich immer an dieser Stelle vorbei, der Löwenzahn ist längst verdorrt und vom Winde verweht, und immer schiele ich zur Seite und frage mich, wie es dort unter der Erde wohl gerade aussieht.
     Jedes Mal kämpfe ich gegen den abartigen Wunsch, den Hamster auszugraben und nachzusehen. Jedes Mal sage ich mir auch, dass er vielleicht gar nicht mehr hier liegt, weil ihn längst ein Hund oder ein Fuchs gefunden hat.
     Und einmal gebe ich nach und wühle mit dem Stock in der Erde.
     Ich denke noch, dass es vielleicht die falsche Stelle ist, als sich plötzlich ein Loch auftut, und es übertrifft alle meine Erwartungen.
     Es ist voller dicker weißer Maden, Dutzende, Hunderte davon, sie bewegen sich, eine schmutzig-helle, wimmelnde Masse, es sieht richtig fürchterlich aus, aber ich spüre einen merkwürdigen Triumph.
     Ich muss nämlich nicht kotzen, und das macht mich sehr glücklich.
     Und da ich genug gesehen habe, schiebe ich die Erde wieder darüber, werfe den Stock in die Büsche und laufe weiter.
     In der Unterführung sehe ich sie stehen.
     Ich erkenne Peter sofort. Er ist einfach der Größte. Seine zwei Kumpels sind so groß wie ich. Ich kenne sie nicht. Sie flankieren ihn wie kleinwüchsige Bodyguards.
     »Siamkätzchen«, sagen sie unisono, als sie sich mir in den Weg stellen. Es klingt fast, als hätten sie geübt.
     »Lasst mich durch«, sage ich. Da sie sich nicht rühren, schiebe ich mich entschieden zwischen sie. Sie stehen eng, und ich fühle ihre verschwitzten Körper an meinen nackten Oberarmen. Dann spüre ich ihre Finger, die mich zurückhalten.
     »Pfoten weg«, sage ich. »Wascht sie vorher, bevor ihr mich anrührt.«
     Einer beginnt zu lachen, es klingt ganz schön besoffen. Das ist der, der eigentlich schon kaum stehen kann.
     »Ein bissiges Mädchen«, sagt der andere zu Peter. »Ich liebe bissige Mädchen.«
     »Fick dich ins Knie«, sage ich. »Und nimm vorher deine Scheißpfote weg.«
     »Angst?« fragt Peter und lächelt mir ins Gesicht. Eigentlich ziemlich freundlich. »Nimm die Pfote weg«, sagt er zu dem, der noch gut aufrecht ist. »Es ist ein sauberes Mädchen.«
     Der Typ lässt mich los.
     Aber Peter stellt sich mir in den Weg. Ich mache einen Schritt nach rechts und er ebenso. Ich mache einen Schritt nach links, und er folgt wie ein Spiegelbild. Dabei hört er nicht auf zu lächeln. Seine Schultern glänzen, als wären sie eingeölt.
     »Warum bist du nicht in den Scherbenpark gekommen?« fragt er. »Ich habe dich doch eingeladen.«
     »Weil es mir dort zu sehr stinkt«, sage ich. »Alles.«
     »Ich auch?« fragt Peter und geht ganz nah an mich ran. Ich rümpfe die Nase. Er benutzt anscheinend das gleiche billige Parfum wie Maria. Ein Viertelliter pro Anwendung. Der Solitär-Duft.
     »Und du«, sage ich, »stinkst am meisten.«
     Ich bücke mich gerade noch rechtzeitig, um seinem Schlag auszuweichen. Einer seiner Kumpels setzt sich ins Gras. Der andere lacht kurz auf.
     »Frauen schlagen«, sage ich. »Sehr tapfer.«
     »Solche wie dich«, sagt er und atmet schwer, »muss man einfach schlagen. Und solche wie deine Mutter. Ich finde es rasend blöd, dass du überhaupt keine Angst hast. Ich glaube, das müssen wir ändern.«
     Er macht seinem Kumpel, dem Stehenden, ein Zeichen. Der bewegt sich lautlos. Plötzlich ist er hinter meinem Rücken und atmet in meinen Hals hinein. Und eine heiße Hand rutscht unter meine Joggingjacke, dass es mich vor Ekel durchzuckt.
     Ich ramme ihm den Ellbogen unter die Rippen, reiße mich los, springe zur Seite und bücke mich wieder. Ich habe sie sofort da glänzen sehen, eine braune, leere Bierflasche, ich greife sie mir und hebe sie über meinen Kopf.
     Der Typ, der im Gras sitzt, pfeift kurz.
     »Komm schon«, sagt Peter, um einen lässigen Tonfall bemüht, was ihm mit zusammengebissenen Zähnen nicht sehr überzeugend gelingt. »Mach keine Spielchen. Du bist doch nicht doof. Du siehst doch, dass du keine Chance hast. Komm, nur einmal, dann darfst du gehen. Nur mit mir. So ein reicher Daddy ist auf die Dauer doch auch ein bisschen öde. Wenn du willst, können die beiden hier in der Zeit spazieren gehen. Das ist ein einmaliges Angebot.«
     »Warum ich?« frage ich. »Wo sind deine Blondinen mit den Riesentitten? Hast du sie alle schon flachgelegt?«
     »Fast alle«, sagt er. »Der Mensch braucht auch mal Abwechslung. Du gefällst mir irgendwie.«
     »Ich kann nur mit Männern, die lesen können«, presse ich zwischen den Zähnen hervor. Wahrscheinlich reitet mich gerade der Teufel. »Daran wird es scheitern, Peterchen. Hartz IV und gebrochenes Deutsch machen mich einfach nicht an. Da habe ich Orgasmus-Probleme.«
     Sein Mund ist plötzlich ganz schmal. Es ist ganz leise, nur auf der Wiese zirpt es.
     Er macht einen Schritt nach vorn, und ich drücke mich mit dem Rücken gegen die Mauer und umklammere fester den Flaschenhals.
     »Du hast ganz schön Schiss«, sagt er.
     »Nee, eher du. Ich mache es, Peter. Ich schlitze jedem die Fresse auf, der mir so kommt.«
     »Ich mach dir das Leben zur Hölle, das verspreche ich dir«, sagt er leise.
     »Zu spät«, sage ich. »Is? schon. Lass mich durch, du Affenarsch.«
     Er streckt die Arme aus, und ich schlage mit der Flasche in sein Gesicht.
     Aber ich habe mich verschätzt.
     Die Flasche zerbricht nicht. Sie bleibt heil. Und sie fliegt mir davon, ausgerutscht aus den feuchten Fingern. Ich habe Peter fast gar nicht verletzt. Er röhrt nur auf, drückt kurz die Hand aufs Gesicht und stürzt sich dann auf mich. Ich schlage mir den Kopf an der Mauer an, zurückgeworfen von der Wucht seines Körpers.
     Und da beginne ich zu schreien. Ich verstehe selber nicht gleich, was ich schreie. Es ist immer nur ein Wort. Es ist ein Name.
     Ich schreie nach Volker.

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