Vorgeblättert

Leseprobe zu Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit. Teil 3

13.09.2010.

(S. 331-336)


Befähigung, Abhängigkeit und Einmischung


Manche Autoren halten die Begriffe Freiheit und Selbstbestimmung für austauschbar und verwenden sie als Synonyme. In Rawls? Argumenten für die Priorität der Freiheit findet sich jedoch eine besondere Sorge um das Recht auf Unabhängigkeit im persönlichen Leben, vor allem den Schutz vor unerwünschter Einmischung anderer, auch des Staates. Rawls prüft nicht nur, was Menschen - alles in allem - wirklich tun können, sondern untersucht auch, wie wichtig es ist.dass Menschen die Freiheit haben, ein Leben nach ihren eigenen Wünschen zu führen, in dem andere nicht herumpfuschen. Und das ist natürlich das klassische Thema von Stuart Mills bahnbrechendem Werk On Liberty.
     In der "republikanischen" oder "neo-römischen" Freiheitstheorie zum Beispiel wird Freiheit nicht nur als das definiert, was eine Person in einem bestimmten Bereich zu tun vermag, sondern zur Definition gehört auch, dass andere dieses Vermögen der Person nicht beschneiden können, selbst wenn sie das wollten. So gesehen, muss es nicht zum Einschreiten einer willkürlichen Macht kommen, sondern die persönliche Freiheit wäre schon dadurch beeinträchtigt dass eine solche Macht existiert, die die Handlungsfreiheit der Person einschränken könnte.
     Philip Pettit hat im Zusammenhang mit seiner republikanischen Theorie Argumente gegen die Auffassung von Freiheit als Befähigung vorgebracht: Ein Mensch könne die Befähigung haben, viele Dinge zu tun, die abhängig von "der Gunst anderer" sind, und solange seine tatsächlichen Wahlmöglichkeiten (oder Verwirklichungen) in dieser Weise abhängig sind, sei er nicht wirklich frei. Pettit erklärt: "Stellen Sie sich vor, Sie hätten die Neigung, eine vom Inhalt unabhängige Entscheidung zwischen A und B zu treffen, aber ob Sie dieser Präferenz folgen dürfen, würde vom Wohlwollen Ihrer Umgebung abhängen. Dann kann man sagen, Sie haben Entscheidungspräferenzen, aber die Entscheidung ist von Gunst abhängig." Sicherlich ist die substantielle Freiheit, etwas unabhängig von anderen zu tun (so dass keine Rolle spielt, was diese anderen wollen), robuster als die Handlungsfreiheit, die entweder von der Hilfe - oder der Toleranz - anderer abhängig ist oder Ergebnis einer bloß zufälligen Übereinstimmung zwischen dem Vorhaben des Handelnden und den Plänen anderer Leute, die ihn an der Ausführung hätten hindern können. Ein extremes Beispiel dafür: Man kann sicherlich behaupten, dass versklavte Menschen Sklaven bleiben, auch wenn ihre Entscheidungen nie dem Willen ihres Herrn widersprechen.
     Zweifellos ist der republikanische Freiheitsbegriff wichtig, und er entspricht einem Aspekt unserer intuitiven Erwartungen an Freiheit. Ich bin jedoch nicht einverstanden mit der Behauptung, dass die republikanische Idee der Freiheit an die Stelle der Verknüpfung von Freiheit und Befähigung treten könne. Es gibt genug Raum für beide Ideen, und das Nebeneinander erzeugt nicht notwendig Spannungen, es sei denn, wir bestehen darauf, dass die Idee der Freiheit einen einzigen Brennpunkt haben muss; meine Argumente dagegen habe ich bereits vorgebracht.
Betrachten wir drei alternative Situationen einer behinderten Person A, die bestimmte Dinge nicht allein und ohne Hilfe tun kann.

Fall 1: A hat keine Hilfe von anderen und kann deshalb nicht aus dem Haus gehen.

Fall 2: A hat immer Hilfe von anderen, die entweder von einem Sozialfürsorgedienst in ihrer Wohngegend organisiert wird (oder alternativ von wohlmeinenden Freiwilligen), und kann folglich, wann immer sie will, aus dem Haus gehen und sich frei bewegen.

Fall 3: A hat gut bezahlte Dienstboten, die ihrem Befehl gehorchen - und gehorchen müssen -, und kann, wann immer sie will, aus dem Haus gehen und sich frei bewegen.

Gemäß der "capability", wie im Befähigungsansatz definiert, sind die Fälle 2 und 3 für die behinderte Person weitgehend gleichartig (hier geht es nur um ihre Freiheit, nicht um die der Dienstboten, das wäre ein anderes Thema), und beide stehen im Gegensatz zu Fall 1, in dem sie die fragliche Befähigung nicht hat. Der Kontrast zwischen der Fähigkeit und der Unfähigkeit, etwas zu tun, ist ohne Frage entscheidend, denn es geht darum, was eine Person tatsächlich tun kann.
     Der republikanische Ansatz würde die behinderte Person jedoch im Fall 1 wie im Fall 2 als unfrei bezeichnen: im Fall 1 deshalb, weil sie nicht tun kann, was sie möchte (aus dem Haus kommen), und im Fall 2 deshalb, weil ihre Fähigkeit, zu tun, was sie möchte (aus dem Haus gehen), "kontextbedingt" ist - sie ist auf das Funktionieren eines bestimmten Sozialhilfesystems angewiesen - und sogar "abhängig von einer Gunst", vom guten Willen und der Großzügigkeit anderer sein könnte (diese Unterscheidungen trifft Pettit). Man kann sicherlich sagen, dass A im Fall 3 auf eine Weise frei ist wie im Fall 2 nicht. Der republikanische Ansatz erfasst diesen Unterschied und besitzt damit ein besonderes Differenzierungsvermögen, das dem Befähigungsansatz abgeht.
     Aber die Wichtigkeit der Unterscheidung, auf die der Befähigungsansatz zentriert ist, wird damit nicht wegdiskutiert: Kann die Person diese Dinge tatsächlich tun oder nicht? Zwischen Fall 1 und den Fällen 2 und 3 besteht ein extrem wichtiger Unterschied. Im ersten Fall hat A nicht die Befähigung, aus dem Haus zu kommen, und ist in dieser Hinsicht unfrei, in den Fällen 2 und 3 dagegen hat sie die Befähigung und die Freiheit, das Haus zu verlassen, wann immer sie will. Diesen Unterschied versucht der Befähigungsansatz zu erfassen, und dass man ihn anerkennt, ist folgenschwer sowohl im Allgemeinen wie für politische Maßnahmen im Besonderen. Wollten wir die Fälle 1 und 2 ohne weiteres in die gleiche Schublade namens Nicht-Freiheit stecken, würden wir damit auf die Ansicht zusteuern, dass die Einrichtung von Sozialfürsorge oder eine hilfreiche Gesellschaft keinen Unterschied für die Freiheit eines Menschen im Umgang mit seinen Behinderungen oder Handikaps machen kann. Für eine Theorie der Gerechtigkeit wäre das eine ungeheure Lücke.
     Es gibt viele Aufgaben, für die es besonders wichtig ist, zu wissen, ob eine Person wirklich fähig ist, die Dinge zu tun, für die sie sich mit guten Gründen entscheiden würde. Zum Beispiel sind einzelne Eltern vielleicht nicht in der Lage, eine eigene Schule für ihre Kinder einzurichten, und deshalb abhängig von öffentlichen Maßnahmen, die von zahlreichen Einflüssen, etwa nationaler oder lokaler Politik, bestimmt sein mögen. Und trotzdem kann man die Einrichtung einer Schule in dieser Region durchaus begründet als Freiheitsgewinn für die Kinder ansehen, die dort unterrichtet werden sollen. Bestritte man das, würde man womöglich eine wichtige Gelegenheit für die Erkenntnis versäumen, dass Freiheit auf Vernunft und Praxis beruht. Dieser Fall steht in hartem Gegensatz zu einem Fall, in dem keine Schule in der Region und keine Freiheit, Schulbildung zu erhalten, vorhanden sind. Der Unterschied zwischen beiden Fällen ist gewichtig genug, und darauf konzentriert sich der Befähigungsansatz, auch wenn eine Einzelperson Schulunterricht weder im einen noch im anderen Fall unabhängig von staatlicher Unterstützung oder anderer Hilfe organisieren kann. Wir leben in einer Welt, in der es besonders von der Hilfe schwer sein mag, sich vollkommen unabhängig und dem Wohlwollen anderer zu machen, und in der diese Unabhängigkeit manchmal vielleicht nicht einmal das wichtigste Ziel ist.
     Die Spannung zwischen den Freiheitsbegriffen im Befähigungsansatz und in der republikanischen Theorie entsteht genau dann, wenn wir nur Raum für "höchstens eine Idee" haben. Sie entsteht, wenn wir nach einem auf einen Punkt zentrierten Verständnis von Freiheit Ausschau halten, obwohl sie als Idee eine nicht reduzierbare Vielfalt von Elementen enthält. Meiner Meinung nach ergänzt die republikanische Auffassung von Freiheit den Gesichtspunkt des Befähigungsansatzes, statt ihn zunichte zu machen.
     Damit endet die Pluralität jedoch noch nicht. Auch für die Konzentration auf die Frage, ob einer Person Befähigung fehlt aufgrund der Intervention anderer - das Thema wurde bereits angerissen - sind Unterscheidungen wichtig. Wir konzentrieren uns hier nicht auf die Macht zum wirksamen Eingreifen, unabhängig davon, ob diese Macht genutzt wird - das wäre ein republikanisches Interesse -, sondern auf die tatsächliche Intervention. Der Unterschied zwischen potentieller und faktischer Einmischung ist wichtig und beschäftigte offenkundig schon Thomas Hobbes, den Pionier modernen politischen Denkens. Auch wenn Hobbes in seinen frühen Werken eine gewisse Sympathie für die "republikanische" oder "neo-römische" Sichtweise gezeigt haben mag (in der englischen politischen Philosophie seiner Zeit war sie ganz üblich), verfestigte sich doch sein Freiheitsbegriff später zu einer nicht-republikanischen Sicht mit der Konzentration auf die Frage, ob tatsächliche Einmischung besteht oder nicht. Das weist Quentin Skinner überzeugend nach. Also war es Hobbes? Idee, dass die Einmischung anderer entscheidend für die Negation von Freiheit ist.
     Man kann ohne Mühe mehrere unterschiedliche Eigenschaften in der Idee der Freiheit unterbringen und abwechselnd Befähigung oder Unabhängigkeit oder fehlende Einmischung in den Blickpunkt rücken. Wer ein einziges kanonisches Verständnis der "wahren" Natur der Freiheit wünscht, unterschätzt womöglich, auf wie vielen sehr verschiedenen Wegen Vorstellungen Verlag und Unfreiheit in unsere Wahrnehmung, Einschätzung und Wertung eindringen. William Cowper sagt: "Freedom has a thousand charms to show / That slaves, howe?er contented, never know" [Freiheit hat tausendfachen Reiz, den Sklaven, und sind sie noch so zufrieden, niemals erfahren]. Wenn es um klare Konzepte geht, wären tausend zu viel des Guten und schwer zu bewältigen, aber es dürfte nicht zu schwer sein, mehrere verschiedene Aspekte als komplementär und nicht als kompetitiv zu verstehen. Eine Theorie der Gerechtigkeit kann Aufmerksamkeit für alle aufbringen. Der Zugang zur Gerechtigkeit in diesem Buch lässt Raum für eine umfangreiche Pluralität, da Vielfalt eine wichtige Komponente für Gerechtigkeitseinschätzung ist. Die vielfältigen Aspekte der Freiheit passen genau in diesen geräumigen Rahmen.

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Mit freundlicher Genehmigung des Verlags C.H.Beck.

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