Vorgeblättert

Leseprobe zu Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Teil 1

01.02.2007.
Prolog

Als ich vor einigen Jahren von einer kurzen Auslandsreise nach England zurückkam (ich war damals Rektor - Master - des Trinity College in Cambridge), stellte mir der Beamte der Einwanderungsbehörde in Heathrow, der meinen indischen Paß sehr eingehend prüfte, eine einigermaßen knifflige philosophische Frage. Wegen des Wohnsitzes, der auf dem Einwanderungsformular angegeben war (Master?s Lodge, Trinity College, Cambridge), wollte er wissen, ob der Rektor, dessen Gastfreundschaft ich augenscheinlich genoß, ein enger Freund von mir sei. Das stimmte mich nachdenklich, denn mir war nicht ganz klar, ob ich behaupten konnte, ein Freund von mir zu sein. Nach einiger Überlegung kam ich zu dem Schluß, daß die Frage zu bejahen war, denn ich bin oft ziemlich freundlich zu mir, und außerdem kann ich, wenn ich dumme Sachen sage, sofort sehen, daß ich angesichts von Freunden, wie ich einer bin, keine Feinde brauche. Da es einige Zeit in Anspruch nahm, das alles zu klären, wollte der Beamte der Einwanderungsbehörde genau wissen, warum meine Antwort auf sich warten ließ und ob mit meinem Aufenthalt in Großbritannien etwas nicht stimmte.

     Nun, dieses praktische Problem wurde schließlich gelöst, aber das Gespräch war ein Wink, wenn es denn eines solchen bedurfte, daß Identität eine komplizierte Sache sein kann. Natürlich können wir uns unschwer davon überzeugen, daß ein Objekt mit sich selbst identisch ist. Der große Philosoph Wittgenstein bemerkte einmal, es gebe "kein schöneres Beispiel eines nutzlosen Satzes" als den, daß etwas mit sich selbst identisch ist, der aber doch, so fuhr Wittgenstein fort, "mit einem Spiel der Vorstellung verbunden ist".

     Noch komplizierter wird es, wenn wir von der Vorstellung, daß etwas mit sich selbst identisch ist, zu jener übergehen, daß man mit anderen von einer bestimmten Gruppe eine Identität teilt (das ist die Form, welche die Vorstellung von sozialer Identität sehr oft annimmt). Aus dem Anspruch, den unterschiedliche Gruppen auf unvereinbare Identitäten erheben, entstehen denn auch viele politische und soziale Konflikte, weil der Begriff der Identität unser Denken und Handeln auf vielerlei Weise beeinflußt.

     Mit den gewaltsamen Vorfällen und Greueltaten der letzten Jahre hat eine Zeit schrecklicher Verwirrung und furchtbarer Auseinandersetzungen begonnen. Die Politik der globalen Konfrontation gilt vielfach als natürliche Folge religiöser oder kultureller Spaltungen der Welt. Die Welt wird sogar, wenn auch nur implizit, zunehmend als ein Verbund von Religionen oder Zivilisationen verstanden, wobei man sich über alle anderen Blickwinkel, unter denen die Menschen sich selbst sehen, hinwegsetzt. Dieser Sichtweise liegt die merkwürdige Annahme zugrunde, daß es nur ein einziges, überwölbendes System gebe, nach dem man die Menschen einteilen kann. Wenn man die Weltbevölkerung nach Zivilisationen oder Religionen unterteilt, gelangt man zu einer "solitaristischen" Deutung der menschlichen Identität, wonach die Menschen einer und nur einer Gruppe angehören (die hier durch Zivilisation oder Religion definiert ist, während man früher die Nationalität oder die Klassenzugehörigkeit in den Vordergrund stellte).

     Mit einer solitaristischen Deutung wird man mit ziemlicher Sicherheit fast jeden Menschen auf der Welt mißverstehen. Im normalen Leben begreifen wir uns als Mitglieder einer Vielzahl von Gruppen - ihnen allen gehören wir an. Eine Person kann gänzlich widerspruchsfrei amerikanische Bürgerin, von karibischer Herkunft, mit afrikanischen Vorfahren, Christin, Liberale, Frau, Vegetarierin, Langstreckenläuferin, Historikerin, Lehrerin, Romanautorin, Feministin, Heterosexuelle, Verfechterin der Rechte von Schwulen und Lesben, Theaterliebhaberin, Umweltschützerin, Tennisfan, Jazzmusikerin und der tiefen Überzeugung sein, daß es im All intelligente Wesen gibt, mit denen man sich ganz dringend verständigen muß (vorzugsweise auf englisch). Jede dieser Gruppen, denen allen diese Person gleichzeitig angehört, vermittelt ihr eine bestimmte Identität. Keine von ihnen kann als die einzige Identitäts- oder Zugehörigkeits-Kategorie dieser Person aufgefaßt werden. Angesichts unserer unausweichlich pluralen Identität müssen wir im jeweils gegebenen Kontext entscheiden, welche Bedeutung wir unseren einzelnen Bindungen und Zugehörigkeiten zumessen.

     Um ein menschliches Leben zu führen, muß man also nachdenken und eine Wahl treffen. Der Gewalt wird dagegen Vorschub geleistet, wenn wir die Ansicht hegen, wir müßten unausweichlich eine angeblich einzigartige - oft streitbare - Identität haben, die augenscheinlich weitreichende (und zuweilen höchst unangenehme) Forderungen an uns stellt. Das Auferlegen einer angeblich einzigartigen Identität gehört oft als entscheidender Bestandteil zu der "Kampfkunst", sektiererische Auseinandersetzungen zu schüren.

     Viele gutgemeinte Bemühungen, solche Gewalt zu unterbinden, werden leider dadurch erschwert, daß unsere Identitäten erkennbar nicht frei gewählt sind, was unsere Fähigkeit, die Gewalt zu besiegen, ernsthaft beeinträchtigt. Sieht man, wie es zunehmend der Fall ist, die Chancen für gute Beziehungen zwischen unterschiedlichen Menschen vornehmlich in der "Freundschaft zwischen Kulturen", im "Dialog zwischen religiösen Gruppen" oder in "freundschaftlichen Beziehungen zwischen unterschiedlichen Gemeinschaften" (unter Absehung von den vielfältigen sonstigen Möglichkeiten, wie Menschen sich aufeinander beziehen), so wird der Mensch, noch ehe die geplanten Friedensprogramme eingeleitet sind, schwerwiegend verkürzt.

     Unser gemeinsames Menschsein wird brutal in Frage gestellt, wenn man die vielfältigen Teilungen in der Welt auf ein einziges, angeblich dominierendes Klassifikationsschema reduziert, sei es der Religion, der Gemeinschaft, der Kultur, der Nation oder der Zivilisation - ein Schema, dem in Sachen Krieg und Frieden jeweils einzigartige Wirkung zugeschrieben wird. Die Aufteilung der Welt nach einem einzigen Kriterium stiftet weit mehr Unfrieden als das Universum der pluralen und mannigfaltigen Kategorien, welche die Welt prägen, in der wir leben. Sie läuft nicht nur der altmodischen Ansicht zuwider, daß "wir Menschen alle ziemlich ähnlich sind" (über die man heutzutage gern - und nicht ganz unbegründet - spottet, weil sie allzu unbedarft ist), sondern auch der seltener erwähnten, aber sehr viel plausibleren Auffassung, daß wir auf mannigfaltige Weise verschieden sind. Die Hoffnung auf Eintracht in der heutigen Welt beruht in hohem Maße auf einem klareren Verständnis der Vielzahl unserer menschlichen Identitäten und der Einsicht, daß diese sich überschneiden und damit einer scharfen Abgrenzung nach einem einzigen unüberwindlichen Einteilungskriterium entgegenwirken.

     Neben bösen Absichten trägt nämlich auch die gegenwärtige Begriffsverwirrung erheblich zu der Unruhe und Grausamkeit bei, die wir ringsum beobachten. Die Illusion der Schicksalhaftigkeit insbesondere der einen oder anderen ausschließlichen Identität fördert die Gewalt in der Welt sowohl durch Unterlassungen als auch durch Taten. Wir müssen deutlich erkennen, daß wir viele verschiedene Zugehörigkeiten haben und auf sehr viele unterschiedliche Weisen miteinander umgehen können, gleichgültig, was die Aufwiegler und ihre aufgeregten Gegner uns sagen. Wir selbst können über unsere Prioritäten entscheiden.

Die Vernachlässigung der Vielfalt unserer Zugehörigkeiten und der Pflicht, nachzudenken und eine Wahl zu treffen, verfinstert die Welt, in der wir leben. Sie treibt uns hin zu den erschreckenden Aussichten, die Matthew Arnold in "Dover Beach" geschildert hat:

And we are here on a darking plain
Swept with confused alarms of struggle and flight,
Where ignorant armies clash by night.

(Wir sind hier wie in einer dunklen Bucht,
Wo - von Alarmen, die sie nicht verstehen, gehetzt -
bei Nacht sich schlagen zwei Armeen.)

Wir können etwas Besseres machen.


Leseprobe Teil 2

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