Vorgeblättert

Leseprobe zu Daniel Galera: Flut. Teil 1

22.07.2013.
2.

Am Ende der Hauptstraße erscheint endlich das Meer, ein blauer Streifen hinter der Asphalt-Geraden, die in der Mittagssonne flirrt. Es ist sein Geburtstag. Er fährt im zweiten Gang, mit offenen Fenstern und eingeschalteter Lüftung, draußen ist es völlig windstill, das dumpfe Summen vermischt sich mit dem moderaten Brummen des Motors und der Musik von Ben Harper. Der Wagen ist überbeladen, und um den Boden nicht aufzureißen, bleibt er vor der Bremsschwelle fast stehen. Im Kofferraum und auf dem Rücksitz des kleinen Ford Fiesta liegen zwei Koffer mit Kleidung, eine Musikanlage, von der er noch zwei Raten abbezahlen muss, ein 29-Zoll-Fernseher, die Playstation 2, ein Rucksack mit persönlichen Sachen, eine Bettdecke und eine Decke aus Schafwolle, sorgfältig zusammengelegt, Plastiktüten mit Schuhen, CDs, Küchenzubehör. Außerdem Fotoalben, das Fleischmesser, das er von seinem Vater bekommen hat, ein Messer mit Griff aus Gürteltierleder und Stahlklinge, die von Zeit zu Zeit mit Stahlwolle gesäubert und geölt werden muss, der Neoprenanzug und das 20 x 25 cm Bild im schwarzen Rahmen von der Triathlonweltmeisterschaft in Hawaii. Am Gepäckträger, der notdürftig an der Kofferraumhaube befestigt ist, hängt ein Mountainbike, dem man ansieht, dass es schon ein paar Jahre in Gebrauch ist, ein inzwischen veraltetes Modell mit dickem, schwerem Aluminiumrahmen. Beta schläft zusammengerollt auf dem Beifahrersitz, erschöpft von der Sonne und fünf Stunden Fahrt. Sie atmet regelmäßig, schnaubt und niest manchmal,öffnet die Augen und schließt sie wieder, ohne die Position zu verändern.
     In Osório hat er einen Toast mit Salami und Käse gegessen und an einer Tankstelle in der Nähe von Jaguarana eine Teigtasche mit Fleisch, deswegen interessiert er sich jetzt weniger für die Restaurants als für die Schilder der Immobilienbüros, die um diese Zeit alle geschlossen sind. Er lenkt den Wagen durch den ruhigen Verkehr weiter in Richtung Meer, kleine Gruppen lethargischer Fußgänger in Badesachen kommen ihm entgegen, steuern träge die Restaurants an oder laufen mit ihren Klappstühlen und Strandtaschen nach Hause. Vor mehr als einer Woche hat der Aschermittwoch die großen Touristenmassen aus dem Ort geschwemmt, und die wenigen, die geblieben oder jetzt erst gekommen sind, strahlen die Ruhe der Zuspätgekommenen aus. Die Hauptstraße endet in einer Rechtskurve und wird zur Strandstraße. Er parkt auf dem Platz schräg gegenüber vom Strand, in der prallen Sonne. Er geht ums Auto herum und öffnet die Beifahrertür. Beta hebt den Kopf, bleibt aber liegen. So wie auch die anderen drei Male, als sie kurz haltgemacht haben, muss er sie hochheben und hinstellen, damit sie etwas von dem lauwarmen Wasser aus dem Fünfliter-Plastikkanister trinkt, das er in einen leeren Eisbecher gießt. Er selbst trinkt den Rest. Er zieht Hemd und Turnschuhe aus und hat jetzt nur noch eine Badehose an. Nachdem er den Wagen abgeschlossen hat, geht er mit Beta auf den Armen die Rampe neben dem Restaurant Embarcação zum Strand hinunter. Nachsaison-Touristen liegen im Sand verteilt. Er geht auf eine Frau zu, die allein unter einem Sonnenschirm liegt, raucht und ein Buch liest. Der Umschlag des Buches ist lila. Ihre Knie sind tief gebräunt, die Fußnägel perlmuttfarben lackiert, am Knöchel trägt sie ein Goldkettchen. Auf dem blauen Sonnenschirm prangt das Logo einer Versicherungsfirma, das gefilterte Licht verleiht ihren nackten Beinen einen grünlichen Ton. Das alles prägt er sich ein, um sich später an sie zu erinnern.
     Hallo. Würde es Ihnen etwas ausmachen, kurz auf meinen Hund aufzupassen?
     Sie hebt die Sonnenbrille an und wir. einen langen Blick auf das Tier in seinen Armen.
     Kann der nicht laufen?
     Doch, kann sie, aber sie ist zu müde. Wenn ich sie unter Ihren Sonnenschirm in den Schatten legen könnte, bleibt sie da liegen und rührt sich nicht von der Stelle, bis ich wieder da bin.
     In Ordnung, lassen Sie sie hier. Aber ich laufe nicht hinterher, falls sie abhaut.
     Das wird sie nicht. Und wenn doch, ist es egal. Dann suche ich sie später.
     Wie heißt sie?
     Beta.
     Er legt die Hündin in den Schatten und läuft zum Wasser, der breiartige Sand fühlt sich kühl an. Das Meer ist ruhig, im leichten Südwind brechen sich die zarten Wellen fast ohne Schaum auf der glatten Oberfläche. Als das kalte, klare Wasser seinen Bauch erreicht, hebt er reflexartig die Arme. Er hält die Hände hinein, um sich den Puls zu befeuchten und den Temperaturschock abzuschwächen, das hat er von seinem Vater gelernt. Und obwohl es noch nie funktioniert hat, macht er es jedes Mal wieder. An Tagen wie diesen weckt das Meer seinen kindlichen Blick, der alles in Miniaturform erscheinen lässt. Kleine Wellen direkt über der Wasseroberfläche verwandeln sich in mythologische Meerbeben, der wellige Sand auf dem Meeresgrund ist eine riesige Wüste und das chitinöse Gehäuse eines Krebses das Gerippe eines vor Jahrtausenden ausgestorbenen Ungetüms. Mit angehaltenem Atem und aufgerissenen Augen, die Brust auf den scheuernden Sand gepresst, sieht er die winzigen Dünen, die sich um ihn herum ausbreiten, bis sie vom trüben Wasser verschluckt werden. Über ihm bricht sich das Sonnenlicht in der Wasseroberfläche, ein Schwarm weißer Splitter, die sich zu keinem geometrischen Muster fügen. Er taucht wieder auf, schwimmt mit langen Zügen hinaus und spürt den Widerstand des Salzwassers. Die vor Kälte schmerzenden Muskeln lockern sich langsam. Als er innehält, ist ihm warm, und der Meeresgrund liegt tief unter ihm. Am Horizont sieht er die Ilha do Coral, der weiße Leuchtturm ist aus der Ferne kaum zu erkennen, und ein ganzes Stück weiter den südlichen Zipfel der Ilha de Santa Catarina, deren blassgrüne Berge sich in der Atmosphäre auflösen. Eine Möwe streift knapp das Wasser in ihrem rasanten Flug auf die Bucht vor der Praia da Vigia, wo zwischen einem Dutzend Fischerbooten ein Zweimaster mit dem Namen Lendário, der in roten Buchstaben auf dem weißen Rumpf steht, sanft schaukelnd vor einem Holzsteg liegt. Er wendet dem Meer den Rücken zu und blickt zum Strand. Er ist weiter rausgeschwommen, als er angenommen hatte. Er sieht die Fischerschuppen, die Front in grauem Holz oder Pastelltönen den Wellen zugewandt, die Pensionen und Restaurants an der Promenade, das Pinienwäldchen beim Campingplatz, Ziel einzelner Schwalben, die aus allen Richtungen angeflogen kommen, den kleinen Hügel vor der Praia do Siriú, deren cremefarbene Dünen sich kilometerweit bis zur Felsküste erstrecken, hinter der sich der ruhige Strand Praia da Gamboa versteckt. Eine Welt in Gold, Blau und Grün. Geblendet von den Sonnenstrahlen, die in den Windschutzscheiben der Autos reflektieren, holt er tief Luft und sinkt in Richtung Grund. Mit offenen Augen harrt er dort aus, solange er kann. Hier unten fühlt er sich geschützt. Er kommt wieder hoch und lässt sich aufrecht treiben, sein Körper hat sich inzwischen an die Temperatur gewöhnt, er schmeckt und riecht das Salz. Er merkt nicht, wie die Zeit vergeht, und kommt erst aus dem Wasser, als er spürt, wie ihm die Sonne die Stirn verbrennt.
     Als er auf die Frau zugeht, fängt sie gleich an, sich zu verteidigen.
     Sie haben gesagt, ich soll nichts machen. Sie würde sich nicht von der Stelle rühren. Und jetzt ist sie weg. Ich hab noch versucht, Sie zu rufen, aber Sie waren ja so weit draußen, sprudelt sie los, und erst jetzt hört er an ihrem Akzent, dass sie offenbar aus Minas Gerais kommt. Im Sand ist noch der Abdruck der Hündin zu sehen.
     In welche Richtung ist sie gelaufen?
     Da lang.
     Er bedankt sich und läuft durch den Sand in Richtung Praia do Siriú, vorbei an einem Kiosk, vor dem mehrere dickleibige Männer und Frauen unter Strohschirmen sitzen, am unbemannten Wachhäuschen der Rettungsschwimmer, an einer Plattform mit ein paar Stangen für Fitnessübungen. Langsam läuft er weiter, bis er Beta vor dem Campingplatz stehen und Wasser aus einem Rohr trinken sieht. Er kniet sich neben sie und streicht ihr die Ohren nach hinten. Die Hündin atmet schwer, die Zunge hängt ihr tropfend aus dem Hals. Sie sieht aus, als würde sie lächeln, so wie Hunde es immer tun, wenn sie schwitzen. Du Ausreißerin, sagt er streng. Eigentlich ist ihr eigenmächtiger Spaziergang aber ein willkommenes Zeichen, nach dem Tod seines Vaters hatte sie jeden Antrieb verloren. Sie begleitet ihn zurück zum Wagen, bleibt aber zwischendurch mehrmals stehen, so dass er sie rufen muss. Er spricht ihren Namen im gleichen trockenen Befehlston aus wie sein Vater.

Am Nachmittag sieht er sich nach einer Bleibe um. Er geht in drei Maklerbüros und bekommt eine einzige Telefonnummer. Angeblich haben sie keine Angebote, jedenfalls nicht auf Jahresbasis. Einer der Makler reagiert beinahe wütend. Die Leute mieten hier nicht für ein Jahr, sondern nur über die Feiertage oder für die Saison. Wir versuchen, diese Gewohnheit zu verändern. Garopaba wird in den nächsten Jahren stark wachsen. Immer mehr Menschen ziehen hierher. Die Eigentümer wollen im Sommer das große Geld machen und den Rest des Jahres ihre Ruhe haben. Hier werden Sie nichts finden.
     Also macht er sich selber auf die Suche und fährt in Strandnähe durch die Straßen, hält nach Zu-vermieten-Schildern Ausschau und trägt die Adressen in einen Stadtplan ein. Anders als die Makler behaupten, sind viele Eigentümer bereit, für ein Jahr zu vermieten. Eines der fraglichen Häuser liegt in der Rua dos Pescadores, mitten in der Altstadt, direkt hinter den Fischerschuppen. Es hat zwei Fenster mit beigen Jalousien und reicht fast bis ans Kopfsteinpflaster, auf dem sonnengebräunte Kinder barfuß und fast nackt mit einem kaputten Ball Elfmeterschießen spielen. Es riecht nach Fisch und Abwasser. Das Meeresrauschen wird übertönt vom Gelächter eines alten Mannes, dem Klacken von Billardqueues und dem Getuschel der Frauen auf der Veranda gegenüber.
     Der Besitzer ist ein Argentinier namens Ricardo und ein bisschen nervös, zumindest schweift er regelmäßig ab, als müsse er ein wichtiges Problem lösen. Wahrscheinlich ist er Anfang vierzig, seine Augen sind wässrig, und er hat graue Bartstoppeln. Sie laufen über die Einfahrt nach hinten zur Haustür. Der Grill aus aufeinandergestapelten verrußten Ziegeln scheint viele Sommer zuvor errichtet worden zu sein. Der Innenhof ist teils asphaltiert, teils mit Schotter bedeckt, Boden und Wände der Veranda bestehen aus grässlichen weißen Kacheln, die an Kälte und Tod erinnern. Drinnen ist es sehr ordentlich, aber zu dunkel, selbst bei geöffneten Fenstern. Die Geräusche dieses ruhigen Nachmittags hallen in den Räumen wider und lassen erahnen, was für ein Höllenlärm hier an lebhafteren Tagen herrschen muss.
     Ricardo greift weder ein noch erklärt er irgendetwas, er begleitet ihn einfach durchs Haus. Er wirkt ungeduldig. Als sie rausgehen, fragt er ihn in einem nachlässigen Gemisch aus Spanisch und Portugiesisch, warum er nach Garopaba ziehen will. Als er sagt, dass er vor allem am Strand wohnen wolle, erwidert der Argentinier, ja, klar, alle wollen am Strand wohnen, aber warum wolle er das? Da er wie die meisten Gaúchos Argentiniern grundsätzlich misstraut, ignoriert er die Frage. Nachdem Ricardo die Tür abgeschlossen hat, will er wissen, ob er surfe. Er verneint. Dann fragt er, ob er vorhabe, Surfen zu lernen. Er verneint. Schließlich fragt er, ob er ein Geschäft aufmachen wolle. Bisher nicht. Der Argentinier mustert ihn aufmerksam.
     Dann ist es una mujer.
     Was?
     Die Leute kommen entweder wegen el surf oder um eine Frau zu vergessen, solo eso.
     Ich will nur am Strand wohnen.
     Sí, sí. Sicher.
     Wie lange wohnen Sie schon hier?
     Fast zehn Jahre.
     Und warum sind Sie hergekommen?
     Um una mujer zu vergessen.
     Und, hat's geklappt?
     Nein. Wollen Sie das Haus mieten?
     Nein. Ist mir zu dunkel.
     Dunkel. Stimmt. Dunkel ist es. Bueno. Viel Glück.

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