Vorgeblättert

Leseprobe zu Giwi Margwelaschwili: Der Kantakt. Teil 1

08.06.2009.
Eine Lesereisegesellschaft auf der Fahrt nach Rheinsberg

Ich halte mich in Rheinsberg vor allem als Leser auf. Ich muß bitten, mich richtig zu verstehen, denn das Rheinsberg, das ich jetzt meine, liegt in der Buchwelt. Es ist ein Buchweltbezirk oder es ist - wenn Sie wollen - eine kleine Buchweltstadt, in die ich mich lesend hineinbegebe. Dabei lasse ich mich führen. Zwei junge Hauptpersonen in dieser Buchweltstadt, zwei Buchpersonen also, sind bei dieser Lesereise meine Führer. Wir bilden zusammen eine kleine Lesereisegesellschaft, denn die beiden, es sind zwei verliebte junge Leute (sie heißt Claire, er Wolfgang), besuchen auch zum ersten Mal Rheinsberg. Für uns ist hier also alles neu, und das ist eigentlich das Einzige, was wir gemeinsam haben. Denn wir kennen uns gar nicht und sind von grundverschiedener Menschengattung. Ich bin eine lesende Realperson. Sie sind Buchpersonen. Daß auch sie einmal Realpersonen waren, ist zwar wahr. Aber es liegt schon sehr weit zurück, und heute haben wir es nur mehr mit ihren Buchpersonen zu tun. Dieser Unterschied zwischen uns bedingt alle anderen Verschiedenheiten und Schwierigkeiten, die unsere kleine Reisegesellschaft charakterisieren.

Da ist erstens der Umstand, daß ich für meine beiden Reisegefährten nicht wahrnehmbar bin: Als Leser bin ich zwar immer mit ihnen zusammen in der Buchweltstadt Rheinsberg, immer in ihrer Gesellschaft. Aber ich bin für ihre Sinne nicht unmittelbar zu registrieren. Der Seh- und Hörkontakt zwischen uns ist noch vollkommen einseitig, das heißt, nur ich, der Leser, bin in der Lage, die Zwei vor und neben mir zu sehen und zu hören, was und wie sie reden. Damit sind meine Wahrnehmungsmöglichkeiten aber auch schon erschöpft: Um von Clairchen und Wölfchen Kenntnis zu nehmen, habe ich fürs Erste nur meine Leseraugen und Leserohren zur Verfügung.

Unsere zweite Verschiedenheit besteht darin, daß diese zwei sehr netten jungen Leute von mir auch zeitlich getrennt sind. Ihre Rheinsberger Geschichte spielt ja in der Vergangenheit, sie wird sich - wenn überhaupt - irgendwann im ersten Viertel unseres Jahrhunderts zugetragen haben. Ich aber lebe als Realperson in einem realen Weltgegenwartsmoment, der sich mit dem Jahr 1995 und mit dem Monat April datieren läßt. Als Leser habe ich mich den Zweien also erst rund 70 Jahre später angeschlossen. Das bedeutet nun aber wieder nicht, daß die beiden zwei tatterige Greise sein müßten, die sich im Rollstuhl oder am Stock in Rheinsberg umherbewegen. Im Gegenteil: Der Greis in unserer Gesellschaft bin ich, die heute 68-jährige Realperson. Claire und Wolfgang leben als Buchpersonen ewig jung in dem süßen Augenblick, der ihr Besuch in Rheinsberg gewesen ist und der, genau so wie es der große Dichter gewollt hat, in der Form einer nachlesbaren Geschichte bei uns bleibt und schön ist. Ja gut! Aber unsere Lesereisegesellschaft hat doch diese zeitliche Spaltung, die uns abgrundtief auseinanderreißt. Kann ich jemals hoffen, in dieser Gesellschaft simultan zu werden, ein vollwertiges Mitglied? Es sieht nicht so aus. Auf den ersten Blick wenigstens nicht. Welche Macht der Real- und Buchwelt wäre imstande, das Weltzeitband zurückzuspulen und mich realiter zu Claire und Wolfgang nach Rheinsberg zu versetzen? Wie könnte ich, die lesende Realperson, jemals in den musisch für immer festgeschriebenen schönen Augenblick hineingelangen, wo mich jede reale Sekunde, um die ich älter werde, an ihm vorüber und von ihm weg zieht? Ist die Zeit nicht gerade deshalb die größte und unerbittlichste Scheidewand, weil sie sich lautlos, unsichtbar und unfühlbar zwischen die Menschen legt?

Ach! Es sieht schon so aus, als ob ich diese temporale Wand nicht überwinden werde, als ob ich - obwohl meine Bestrebungen bei dieser Lektüre ganz andere, ja diametral entgegengesetzte sind - in der Rheinsberger Liebesgeschichte den ausgetretenen Lesertouristenpfad begehen muß, den alle Leser gewöhnlich entlangziehen, in lustiger Gesellschaft mit Wolfgang und Claire, aber getrennt von ihnen, als unbemerkte Zuschauer, die alles betrachten dürfen, allerdings eben immer nur wie durch eine Zauberglasscheibe des schönen Augenblicks. Das ist zu wenig, für mich jedenfalls. Ich will mehr: Ich will als Leser den Augenblick auch von innen erleben. Habe ich das nicht als völlige Unmöglichkeit beschrieben? Das ist wahr, nichtsdestoweniger gibt es jedoch Chancen für die Leser, die Lektüre von "Rheinsberg" - das Geschichtchen heißt übrigens auch "Ein Bilderbuch für Verliebte" - bis in den schönen Augenblick hinein zu vertiefen. Hier ist es noch nicht an der Zeit, sich näher darüber auszulassen. Ich möchte nur sagen, daß ich als Leser den Anfang dieser Erzählung schon hinter mir habe. Der ist da auf den Seiten 19-20 gegeben. Claire und Wolfgang waren, von Berlin kommend, in Löwenberg ausgestiegen und hatten sich in die dort wartende Kleinbahn nach Rheinsberg gesetzt. Ich bin als ihr Leser auch gleich mit reingegangen, und zusammen mit vielen anderen Leuten (es waren Hintergrundpersonen der Geschichte, die vielleicht von der Arbeit kamen oder zur Erholung ins Grüne hinausfuhren) schunkelten wir dann, von einer kleinen, schnaubenden Lok gezogen, unserem Bestimmungsort entgegen.

Unsere Lesereisegesellschaft war da noch die übliche, Buchpersonen und Leser waren streng voneinander getrennt. Man glaube nicht etwa, daß es in dem kleinen Zug ein Extracoupe für Leser gäbe. Nein. Man sitzt da als Leser mitten zwischen den Buchpersonen. Ich hatte die beiden mir direkt gegenüber Platz nehmen lassen. Claire saß auf dieser Fahrt am Fenster, rechts neben Wolfgang. Ich sah und hörte sie also aus nächster Nähe und empfand ein großes Vergnügen an ihren häufig durch zwei Gegenfragen eingeleiteten Zwiegesprächen. Claire? Wolfgang? (wenn er ihr etwas sagen wollte), und Wolfgang? Claire? (andersrum). Der Sitzplatz, auf dem ich saß, war leer. Das klingt wie ein Widerspruch, ist aber keiner. Da wir wenigstens bis jetzt eine zeitlich getrennte Lesereisegesellschaft sind, konnte ich - kann jeder Leser - dort nicht substantiell gegenwärtig sein. Der Platz sah also, obwohl ich mich als Leser dort befand, ganz unbesetzt aus. Ein Glück noch, daß sich außer uns keine anderen Reisenden (ich meine Buchpersonen) mehr in unserer nächsten Umgebung befanden. Wenn dem nicht so gewesen wäre und jemand den Wunsch gehabt hätte, sich partout dort niederzulassen, wo ich saß, hätte ich mich, um die Kollision zu vermeiden, schleunigst verziehen müssen.

Das sage ich allerdings nur aufgrund einer realpersönlichen Abneigung gegen jegliche Zusammenstöße dieser Art. Denn da ich ja für alle Buchpersonen prinzipiell unsichtbar und unertastbar bin, hätte man sich ohne weiteres und ohne das Geringste von meiner Wenigkeit zu spüren durch mich hindurch auf jenen Platz gesetzt. Man hätte auf mir (meinem unsichtbaren und völlig inkonsistenten Leserkörpervolumen) gesessen, und mir wäre bei und von alledem gar nichts Schlimmes passiert. In anderen Worten: Ich hätte auch in diesem sonderbaren, von irgendeiner fremden Buchperson gänzlich okkupierten und ausgefüllten Zustand die Reise ruhig fortsetzen, allen Passagieren und vor allem Clairchen und Wolfgang völlig unbehindert zusehen und zuhören können. So an- und einschmiegsam sind wir Lesergeister in den Buchweltbezirken. Übrigens hätte sich in dem Bummelzug natürlich niemand, also keine Buchperson, auf meinen Platz und auf mich gesetzt, denn für den Lesergeist sind in allen Buchweltbezirken Sitz- oder Stehplätze immer schon vorgesehen. Selbst in dem dichtesten Gedränge von Buchpersonen steht unsereins da, von dem Gequetsche und Gezerre der Buchpersonenkörper vollkommen unberührt und unbehelligt, und schaut den Vorgängen zu.


Pustoje Mesto - oder der leere Leserplatz in den Buchweltbezirksgeschichten

In den Buchweltbezirken befinden wir Leser uns also immer auf einem für uns extra vorbehaltenen Zuschauerplatz, der - weil wir ja gewöhnlich nur Geister sind - für die Buchpersonen wie ein leerer Platz aussieht. Und weil dieser Platz in solchen Bezirken meistens von einem zuschauenden Lesertouristengeist besetzt ist und weil es für uns Lesergeister in den Buchweltbezirken normalerweise auch überhaupt keinen anderen Aufenthaltsort geben kann (diese Extraplätze legt der Buchweltschöpfer in seinen Geschichten an, nur von dorther können wir lesen), ist es sicher richtig, zu sagen, daß die Leser in der Buchwelt mit solchen leeren Plätzen zusammenfallen oder nahezu identisch sind.

Um ehrlich zu sein: Ich bin als Lesergeist mit meiner Beschränkung auf die leeren Leserplätze der Buchweltbezirke überhaupt nicht zufrieden. Etwas Herabsetzendes liegt schon darin. Man ist in den Bezirken wie ein Ausgegrenzter zugegen, wie ein Kranker, der auf Distanz gehalten werden muß, damit er die anderen nicht ansteckt. Ja gewiß: Vom Leser hängt auch viel ab. Für ihn werden Buchweltbezirksgeschichten eigentlich verfasst, und sein Gefallen zu erregen, seine Glückwünsche zu erhalten ist Ziel jeder ordentlicheren Buchweltbezirksschöpfung. Schön. Und doch hat unsere Identifizierung mit leeren Plätzen - jedenfalls für mich - einen etwas zu herben Beigeschmack. "Du bleib mal hübsch da, wo du bist! Im für uns Unsicht-, Unhör- und Unfühlbaren. Da kannst du deinen Ansichten über uns Ausdruck geben, soviel und solange du willst. Zu uns kommt davon sowieso nichts rüber. Ätsch!", scheinen die Buchpersonen zu sagen. Was uns und unseren leeren Plätzen in den Buchweltbezirken gewöhnlich zukommt, ist somit die marginalste der Bedeutungen: Wir schauen von dort dem Ablauf von Ereignissen zu, über die wir im Grunde kein Sagen haben, die uns nichts weiter angehen sollen. Ja, wenn wir wenigstens von den leeren Plätzen irgendwie abgehoben und unterschieden wären, wenn wir - wie im Zuschauerraum eines realen Theaters - mit unserer ganzen realkörperlichen Fülle und Gestalt zugegen wären, bliebe uns wenigstens die Würde unseres eigenen Gewichts, unserer realpersönlichen Körpermasse erhalten, wir wären dann immer noch "da", hätten eine echte Präsenz, die von den Buchpersonen, und sei es indirekt, zur Kenntnis genommen werden und uns unseren Aufenthalt bei ihnen objektiv bestätigen könnte. So aber sind wir wie die Luft auf dem leeren Platz, der uns zugewiesen ist. Es gibt in der russischen Sprache den Ausdruck pusstoje messto, was "leerer Platz" bedeutet und von einem Menschen gesagt wird, der ein in allen Dingen gänzlich überflüssiger und für alle völlig unbedeutender, weil beziehungsloser Nichtsnutz ist. Diese Beschreibung paßt genau auf den Leser, wie er in den Buchweltbezirken geduldet wird. Ein Luftgebilde auf einem Sondersitz? Nein, in den Buchweltbezirken ein Leser zu sein ist bestimmt kein Vergnügen, bedeutet es doch, sein Dasein als leerer Platz auf leeren Plätzen zu verbringen.

Doch lassen wir das und wenden wir uns lieber wieder der kleinen, nach Rheinsberg fahrenden Lesereisegesellschaft zu. Man erwarte hier von mir keine detaillierte Beschreibung dieser Anreise. Eine solche ist ja von Wolfgang selbst, von Wölfchen, das heißt von seiner Realperson (die übrigens anders heißt) in seinem realwelt-bekannten Büchlein "Rheinsberg, ein Bilderbuch für Verliebte" gegeben und von jedem dort nachzulesen. Ich möchte von dieser Fahrt nur die Situation schildern, in der man sich befindet, wenn man als Leser mitfährt. Das ist wichtig, denn es ist in diesem Augenblick des ganzen schönen Geschichtchens die Ausgangssituation, die wir als einen leeren Platz auf einem leeren Platz charakterisiert haben.

Aber - und das ist es ja gerade, warum ich mir diese Situation hier vielleicht ungeschickt genug zum Thema mache - dabei bleibt es nicht. Der leere Platz, der ich als Leser bin und auf dem ich mich als Leser befinde, wird bei unserer Fahrt einer modalen Veränderung unterzogen: Am Anfang der Bahnreise wird er überhaupt ausgeklammert. Es wird so getan, als ob es ihn überhaupt nicht gäbe, als ob die beiden Hauptpersonen da ganz allein oder höchstenfalls noch in Gesellschaft irgendwelcher buchweltlicher Rand- oder Nebenpersonen gen Rheinsberg führen. Die Lese-Lebensluft im Abteil des Bummelzuges ist voll von ihrem fröhlichen Geplapper. Zuerst kommt ihnen zu Bewußtsein, daß sie ihren Reiseführer vermutlich im D-Zug liegen ließen, dann folgt ein kurzes Gespräch zwischen Wölfchen und einem Jäger. Dann wird auf den lauten Lärm hingewiesen, der während der Fahrt herrscht und die Verständigung erschwert. Ein Streit zwischen unseren beiden Hauptpersonen, ob ein Baum, an dem wir vorüberfuhren, eine Akazie oder eine Magnolie war, gehört zu den letzten Erlebnissen, die man auf dieser Eisenbahnstrecke hat. Schon in der Bahn werden die beiden Verliebten dem Leser sofort sympathisch. Er hört ihnen von seinem leeren Platz aus mit Vergnügen zu, ergötzt sich an dem Geist des Widerspruchs, der in der Kleinen steckt, und an Wölfchens Verzweiflung, sooft er sieht, daß man mit seinen Ansichten bei Clairchen nicht durchkommt. Außerdem spricht sie einen spaßigen Dialekt, der die ohnehin bewegte Situation zusätzlich belebt. Schön und gut. Aber der leere Platz, um den herum sich das alles abspielt, ist hier nirgends angesprochen. Er ist nicht einmal ins Randbewußtsein der zwei Hauptpersonen aufgenommen, hat also in den thematischen Geschehnissen während der besagten Fahrt noch keinen Platz. So scheint sich diese Erzählung an ihrem Anfang in keiner Weise von all den literarischen Werken zu unterscheiden, welche ihr Thema in der Regel eben nur wie ein Für-sich-Sein entwickeln, ohne dem leeren Platz des Lesers in ihrer Mitte die geringste Aufmerksamkeit zollen.

Teil 2