Vorgeblättert

Leseprobe zu Hans-Martin Tillack: Die korrupte Republik. Teil 2

07.05.2009.
Kapitel 8 Betrugsmetropole Brüssel

Wie deutsche Politiker die Korruption in Brüssel befördern, statt sie zu bekämpfen. Wie der deutsche Chef der EU-Betrugsbekämpfungsbehörde Missstände ignoriert und herunterspielt. Wie er dafür von den Brüsseler Mächtigen, von Kanzlerin Merkel und Italiens Silvio Berlusconi Unterstützung erhält.

Sie sind die beiden mächtigsten Deutschen im Europäischen Parlament, doch als Charaktere könnten Hans-Gert Pöttering und Martin Schulz nicht gegensätzlicher sein. Der Osnabrücker Christdemokrat Pöttering tritt als Parlamentspräsident stets mit ausgesuchter Höflichkeit auf. Schulz, Rheinländer und Chef der sozialdemokratischen Fraktion im EU-Parlament, mag es dagegen öfter mal ruppig. Im März 2008 sind sich beide trotzdem vollkommen einig: Ein Skandalfeuer muss ausgetreten werden, und zwar schnell.
Gerade hat der britische Daily Telegraph Details aus einem brisanten Prüfbericht enthüllt. Es geht um den Missbrauch von Geldern, die das Parlament den Europaabgeordneten jeden Monat zur Bezahlung ihrer Mitarbeiter überweist. Eine ganze Reihe von Volksvertretern steht nun im Verdacht, sich aus dem 136-Millionen-Topf selbst bedient oder Gelder an Freunde und Familie geschleust zu haben. Einige Parlamentarier müssten wegen der Verstöße sogar die "Inhaftierung" fürchten, sagt der britische Liberale Chris Davies. Im Europaparlament geht die Angst um.
Für die Parlamentsoberen wäre dies eine gute Gelegenheit, aufzuklären und Besserung zu geloben. Doch von Zerknirschung ist wenig zu spüren, als sich die sogenannte Konferenz der Präsidenten des hohen Hauses am 6. März 2008 hinter den verschlossenen Türen des Saals 06B01 im Brüsseler Parlamentsbau trifft, unter Pötterings Vorsitz.
"Warum", fragt Schulz in der Runde, sei "der Bericht des Internen Prüfers an den Haushaltskontrollausschuss überwiesen" worden? Nur das habe es dem Ausschussmitglied Davies erlaubt, Journalisten zu informieren. Das Parlament, wettert der SPD-Mann weiter, hätte "der einseitigen Darstellung des Berichts" durch den britischen Abgeordnetenkollegen "energischer" entgegentreten müssen.
Als sich danach Christdemokrat Pöttering, als Parlamentspräsident oberster Repräsentant aller 785 EU-Abgeordneten, an die Öffentlichkeit wendet, äußert er sich vage. Es gebe eben "höchst unterschiedliche Kulturen" in der europäischen Volksvertretung, erläutert er. Einige Kollegen fänden es einfacheiner über eine reine Informationsveranstaltung hinausgehenden Präsentation entstehen könnte." Der Kernsatz eines anderen Musterbriefes lautet: "Da der Charakter Ihrer Veranstaltung normal, ihre Ehefrauen als Assistentinnen zu beschäftigen.
Bei den Missetätern handle es sich nur um ein paar "schwarze Schafe " unter den Abgeordnetenkollegen, assistiert Pötterings Parteifreund Hartmut Nassauer, ein Europaabgeordneter aus Hessen. Diese Sünder müsse man jetzt "gnadenlos" verfolgen.
Wirklich nur ein paar schwarze Schafe? Das weiß man beim Europäischen Rechnungshof in Luxemburg besser. Seit Jahren drängen die Prüfer das Parlament, die Abgeordnetenausgaben strenger zu kontrollieren. Einen ersten Erfolg, so scheint es jedenfalls, erringen sie 2004. Von nun an soll die Parlamentsverwaltung die Abgeordneten zwingen, Unterlagen vorzulegen, die beweisen, dass sie alle Gelder korrekt verwendet haben.
Eine sorgfältige Kontrolle scheint geboten. Immerhin geht es um beträchtliche Summen. Schon im Jahr 2004 verfügt jeder Parlamentarier über monatlich 12 576 Euro, um Mitarbeiter zu bezahlen. Bis 2007 hebt das Parlament diese Summe sukzessive auf 16 914 Euro an. Das ist eine Steigerung um 34 Prozent, weit über der Inflationsrate.
Die Zahlungen an die Abgeordneten klettern überdurchschnittlich, doch wo bleiben die seit 2004 geforderten Belege? Eigentlich sollten die Parlamentsmitglieder die Unterlagen für die Ausgaben des Jahres 2005 bis zum 1. November desselben Jahres einreichen. Doch nur ein Bruchteil kommt in der Parlamentsverwaltung an.
Mahnt die Administration die säumigen Abgeordneten nun ab? Zieht sie Gelder wieder ein? Nein, die Parlamentsverwaltung tut etwas anderes. Sie verlängert die Frist zur Einreichung der Unterlagen - zuerst auf März 2006 und als das nichts hilft, um neun weitere Monate.

Der Rechnungshof schlägt Alarm

Am 14. Februar 2006 schlägt der Rechnungshof Alarm. Dessen dänisches Mitglied Morten Levysohn schickt einen Brandbrief an den Generalsekretär des Parlaments. Ein Großteil der Abgeordneten habe es im Jahr 2005 versäumt, die Regeln einzuhalten, klagt Levysohn in dem vertraulichen Brief. "Weniger als 20 Prozent" hätten bis November 2005 die geforderten Papiere vorgelegt, rechnet der Däne vor. Im Jahr 2005 habe man folglich die Vorschrift schlicht "nicht umgesetzt".
Levysohn versucht es mit einem Appell an die Gesetzestreue der Volksvertreter. Schon nach der EU-Haushaltsordnung, schreibt er, sei es "nicht ausreichend", wenn sie nur "Kopien der Arbeitsverträge" vorlegten und keine weiteren Zahlungsnachweise.
Der Hinweis sollte die Europaparlamentarier nachdenklich stimmen. Die neue, schärfere Haushaltsordnung hatte der Ministerrat der EU vier Jahre zuvor eingeführt, auch auf Wunsch des Parlaments. Es war eine Reaktion auf eine Serie von Betrugs- und Korruptionsskandalen in der EU-Kommission. Die Kontrolle des über 100 Milliarden Euro schweren EU-Haushalts gehört seit je zu den Kernaufgaben des Europäischen Parlaments. Sollten die Parlamentarier darum nicht alles tun, um selbst untadelig dazustehen?
Nicht nach Ansicht der Parlamentsführung. Kaum wird im Juni 2006 der Brief des Rechnungshofes publik, bringt SPD-Mann Martin Schulz das Thema in der Konferenz der Präsidenten auf die Tagesordnung. Eilfertig verspricht der Generalsekretär der Volksvertretung, man werde versuchen, die "Quelle" solch "irreführender Informationen " zu "identifizieren".
Aber die Story war nicht irreführend. Und die Parlamentsführung tut weiterhin wenig, um auf die Ablieferung der fehlenden Papiere zu bestehen. Nach den eigenen Berechnungen der Parlamentsverwaltung fehlen noch Ende Dezember 2007 für über 76 Millionen Euro an angeblichen Mitarbeitergehältern die geforderten Unterlagen - und damit der Nachweis, dass die Gelder tatsächlich für diesen Zweck ausgegeben wurden. Belege im Wert von weiteren 40 Millionen haben die Abgeordneten zwar eingereicht, doch die Verwaltung hat sie nicht vollständig als valide anerkannt. Trotzdem lassen die Beamten im Jahr 2007 lediglich 750 000 Euro wieder einziehen, und auch das nur auf "freiwilliger Basis", wie es im Januar 2008 in einem internen Schreiben heißt.
Schon im November 2007 rügt der EU-Rechnungshof in seinem öffentlichen Jahresbericht das von Pöttering geführte Parlamentspräsidium scharf. Das Gremium habe "nicht sichergestellt", dass die Abgeordneten die Regeln befolgten. Nicht etwa ein kleiner Prozentsatz, sondern "der größte Teil des Betrages für die Sekretariatszulagen der EP-Mitglieder" war laut Rechnungshof "nicht mit angemessenen Unterlagen " belegt. Es sei also nicht bewiesen, dass die Abgeordneten wirklich - wie behauptet - Assistenten beschäftigt und die angeblich bezahlten Dienstleistungen erhalten hätten. Der Rechnungshof verlangt drastische Konsequenzen. Den säumigen Volksvertretern könne man Gelder sperren und gezahlte Beträge zurückfordern.

Eine Mehrheit für den Missbrauch?

Ein Großteil der EU-Abgeordneten steht nun unter dem Verdacht, Steuergelder missbraucht zu haben. Man stelle sich vor, der Bundesrechnungshof hätte der Mehrheit der Bundestagsabgeordneten unterstellt, sie hätten womöglich ihre Assistentengehälter unterschlagen. In Berlin würde die Erde beben. In Brüssel hingegen bleibt alles ruhig.
Die Brüsseler Korrespondenten der großen Tageszeitungen greifen die scharfe Kritik des Rechnungshofes nicht auf. Im Parlament scheinen Pöttering und seine Kollegen die Ermahnung zu ignorieren. Schlimmer noch: Statt die Kontrollen zu verschärfen, tun der deutsche Parlamentspräsident und seine Entourage das Gegenteil. Sie lassen die Zügel lockern.
Schon im September 2006 hatten die Parlamentsoberen eine erste zweifelhafte Konsequenz aus dem Mangel an Zahlungsnachweisen gezogen. Die lästige Belegpflicht wurde aufgehoben. Fortan müssen die Abgeordneten die ordnungsgemäße Verwendung der Mitarbeiterpauschale nicht mehr vollständig dokumentieren. Listen solcher Belege sollen in den allermeisten Fällen reichen.
Zunächst gilt das nur für die Zeit ab 2006. Im Dezember 2007 - nach wie vor fehlt ein Großteil der geforderten Unterlagen für 2004 und 2005 - geht das Parlamentspräsidium noch einen Schritt weiter. Nun dekretiert es, dass die laxeren Regeln auch rückwirkend für 2004 und 2005 gelten sollen. Statt die Abgeordneten an ihre Pflichten zu erinnern, entscheiden die Parlamentsoberen, sie zu streichen. Den Vorsitz führt Parlamentspräsident Pöttering.
Warum hat er so entschieden? Als er im März 2008 gefragt wird, gibt seine Sprecherin keine konkrete Antwort. Sie sagt nur so viel: "Entscheidungen dieser Organe sind Entscheidungen von Kollektivorganen, die das gesamte Haus repräsentieren." Ein anderer Angehöriger des Kollektivorgans, der deutsche Präsidiale Ingo Friedrich (CSU), verweist als Antwort auf die Frage nach der Kritik des Rechnungshofs darauf, dass er dessen Bericht "nicht gelesen" habe.
Das hindert ihn nicht daran, am 10. Dezember 2007 im Präsidium an einer Debatte über genau diesen Rechnungshofbericht teilzunehmen und für die Lockerung der Kontrollen zu stimmen. Andere hätten ihn "kursorisch" über die Kritik des Rechnungshofs informiert, sagt Friedrich. Das musste genügen. Genauso wie er votiert offenkundig die SPD-Parlamentarierin Mechtild Rothe. Sie argumentiert, Abgeordnete müssten ja weiterhin "Unterlagen und Rechnungsbücher für Zahlungsbelege" archivieren, womit "Transparenz" gewährleistet sei. Aber wenn die Abgeordneten diese Belege ohnehin selbst archivieren - warum können sie sie bisher so häufig nicht vorweisen?
Der einzige Abgeordnete, der im Dezember 2007 im Parlamentspräsidium ausdrücklich dafür plädiert, zu den schärferen Kontrollstandards zurückzukehren, ist der französische Grüne Gerard Onesta. "Ich musste zweimal darauf bestehen, dass das ins Protokoll aufgenommen wurde", sagt Onesta. Erst habe die Verwaltung seine Bitte ignoriert.

Ein brisanter Prüfbericht

Doch während die Parlamentsbosse die Kontrollen lockern, ist der Innenrevisor des Parlaments dabei, einen beunruhigenden Prüfreport fertigzustellen. Er hatte 188 größtenteils zufällig ausgewählte Zahlungen aus der Sekretariatszulage überprüft, aus den Jahren 2004 und 2005. Es ist nur eine kleine Stichprobe, aber die Zahl der Unregelmäßigkeiten ist erschreckend hoch. Im Januar 2008 liegt der 92 Seiten lange Prüfbericht vor. Das Dokument ist derart brisant, dass es nur ausgewählten Abgeordneten in einem speziell geschützten Datenraum zugänglich gemacht wird - Mitnehmen ausgeschlossen. Im März 2008 -- gelangt trotzdem eine komplette Kopie an Journalisten. Das Studium des Dokuments zeigt: Hohe Zahlungen ohne ausreichende Belege und weitgehend unkontrollierte Geldströme scheinen im EU-Parlament nicht die Ausnahme, sondern fast schon die Regel zu sein.
Da bezahlte ein Abgeordneter aus dem EU-Topf zwei Manager seiner eigenen Investmentfirma. Eine Parlamentarierin leitete das Geld an eine Holzhandelsfirma weiter. Ein dritter hatte überhaupt keinen angemeldeten Assistenten und ließ stattdessen die volle Mitarbeiterpauschale an eine Kinderbetreuungsfirma überweisen, die von einem Parteifreund des Abgeordneten geführt wurde.
Zuvor hatte ein Parlamentssprecher behauptet, der Geheimbericht nenne "keine individuellen Betrugsfälle". Der Bericht selbst liest sich etwas anders. So ließen zwei Abgeordnete jeden Monat über 12 000 Euro an eine Dienstleistungsfirma überweisen - angeblich für Assistentendienste. Die beiden hatten aber gar keine akkreditierten Assistenten. Drei der geprüften Parlamentarier zahlten EU-Gelder für angebliche Dienstleistungsaufträge an Dritte. Aber das Geld landete auf dem Konto der Abgeordneten. Einer beschäftigte anscheinend nicht nur seine Frau, was in Brüssel damals noch unbeschränkt zulässig war, sondern erließ ihr offenbar auch die dazugehörige Arbeit.
Überdies entdeckt der Prüfer häufige Fälle eines Phänomens, das in deutschen Verwaltungen als Dezemberfieber bekannt ist - das eilige Ausschöpfen eines Budgets, bevor es zum Jahreswechsel verfällt. Zahlreiche EU-Abgeordnete, so vermerkt der Innenrevisor, beglückten ihre Mitarbeiter zum Jahresende mit hohen Einmalgratifikationen. Die entsprachen oft dem Maximalbetrag dessen, was die Volksvertreter bis zum Jahreswechsel noch aus ihrem Budget für Assistenten ausschöpfen konnten. Eine Dienstleistungsfirma kassierte Ende 2004 stolze 44 223 Euro, ohne dass sie eine angemessene Leistung erbracht hätte. Ein Mitarbeiter erhielt eine Sonderzahlung, die 19,5-mal so hoch war wie sein normales Monatsgehalt.
In 18 von 22 derartigen Fällen bekommt der Prüfer "keine zufriedenstellende Erklärung" für die Transfers, mit denen die Abgeordneten das Konto abräumten, bevor die Gelder verfallen wären. Der Revisor äußert leise Zweifel daran, ob diese Summen wirklich stets in den Taschen der Mitarbeiter landeten. Die Kontrollen, verlangt er, müssten deutlich verschärft werden.
Der Report ist alarmierend. Doch auch viele deutsche Abgeordnete tun so, als sei nicht viel passiert. Die beiden CDU-Parlamentarier Ingeborg Grässle und Werner Langen verbreiten in einer gemeinsamen Erklärung, sie könnten zwar "in Einzelfällen" möglichen Missbrauch erkennen. Es sei jedoch "absolut unzulässig", das "gesamte System in Verruf zu bringen".
Aber sind nicht das Parlamentspräsidium und der CDU-Mann Pöttering für ein System verantwortlich, dass den Missbrauch leicht machte? Hätte man den Skandal nicht vermeiden können, indem man rechtzeitig gegen diejenigen Parlamentsmitglieder vorgegangen wäre, die sich über Jahre weigerten, die verlangten Belege für ihre Ausgaben vorzulegen? Pöttering selbst scheint das anders zu sehen. Die Ursache der Missbrauchsfälle bestehe "insbesondere" darin, dass "das bestehende System mit 27 Mitgliedstaaten zu komplex und kompliziert geworden " sei, schreibt seine Sprecherin.

Empörung über den Enthüller

Es ist ein bisschen so, als entschuldige man die Steuerhinterziehung mit dem Hinweis auf das umständliche Steuerrecht. Trotzdem scheinen in den Augen mancher Parteifreunde Pötterings diejenigen - wenigen - Parlamentskollegen die größte Empörung zu verdienen, die die Missstände anprangern. "Hier profilieren sich einige Abgeordnete, indem sie Dreck auf ihre eigene Institution werfen", schimpft die CDU-Parlamentarierin Grässle im Februar 2008.
Der Prüfer hat die Missbrauchsfälle anonymisiert. Nicht einmal die Nationalität der Betroffenen lässt sich herauslesen. Doch dank der Recherchen einiger Journalisten kommen nun nach und nach Namen ans Licht. Der britische Konservative Chichester hatte über die Jahre insgesamt 445 000 Pfund an die Firma Francis Chichester Ltd. überwiesen. Die trägt nicht zufällig seinen Namen. Gegründet vom Vater des Abgeordneten, gibt sie Karten und Reiseführer heraus.
Kaum hat die Sunday Times die Story im Juni 2008 enthüllt, tritt Chichester als Vorsitzende der Tory-Gruppe im EU-Parlament zurück. Der Druck kam nicht aus Brüssel, sondern aus London. David Cameron, der Vorsitzende der britischen Konservativen, fürchtete um das Antikorruptionsimage, das er seiner Partei geben will.
Er habe "in gutem Glauben" gehandelt und keine Gelder missbraucht, versichert Chichester trotzdem. Schon 18 Monate zuvor habe ihm ein Parlamentsbeamter mitgeteilt, dass es eventuell einen Interessenkonflikt wegen der Firma gebe. Aber dann habe er nie wieder etwas von ihm gehört.

Teil 3