Vorgeblättert

Leseprobe zu Ina Hartwig: Das Geheimfach ist offen. Teil 2

01.03.2012.
Goldschmidt ist davon überzeugt, dass die Prügelei in Deutschlands Schulen einen ganz anderen Charakter hatte und eine ganz andere Qualität besaß als in Frankreich. Die Züchtigung, formuliert er im Gespräch, sei in Deutschland staatserhaltend gemeint gewesen: "Es ging um die Schaffung von Untertanen. Züchten und Züchtigung - das ist fast dasselbe Wort." Der deutsche Obrigkeitsstaat habe das Schlagen sowohl als Methode des Drills als auch der Unterwerfung massiv eingesetzt (zum Beispiel in den Potsdamer Kadettenanstalten), während das Schlagen in französischen Schulen seit der großen Revolution verboten sei. "In den Privatschulen hat man natürlich geschlagen, aber aus dem System war es verbannt", sagt Goldschmidt in die Geräuschkulisse des Pariser Cafés hinein, und er geht sogar so weit, seine eigenen Prügelstrafen durch Mademoiselle Lucas auf die Libido einer Nymphomanin zurückzuführen, der es gefallen habe, nackte Jünglinge zu schlagen - Jünglinge, die das Ritual ihrerseits mitgetragen hätten, im Einvernehmen mit ihr. Diese erotische Grundierung dürfte erklären, warum ausgerechnet die Prügelstrafe und der damit verbundene Schmerz für Goldschmidt als lebensrettend erfahren werden konnte: weil sie definitiv nicht auf die Vernichtung des Geschlagenen aus war. "Die Züchtigung war ein Warteabenteuer, von dem ich wusste, dass es gut ausgehen würde - dass ich nicht sterben würde."
     Im Internat konnte er nicht bleiben, nachdem die Köchin den Judenjungen denunziert hatte, wie dieser nach seiner Rückkehr erfahren wird. Ein mutiger Bauer versteckt ihn auf seinem abgelegenen Hof. Doch nach der Befreiung von den deutschen Besatzern, im September 1944, als die Gefahr vorüber ist, wird der inzwischen sechzehnjährige Georges-Arthur wieder fortgeschickt. Quälend langsam bewegt er sich Richtung Internat (wohin auch sonst hätte er gehen sollen?) und fragt sich dabei wonnevoll, ob Fräulein Lucas ihn trotz seines fortgeschrittenen Alters - er war längst kein Kind mehr - wieder und weiterhin züchtigen werde. Sie wird. Und sie wird ihm klarmachen, dass es nur zu seinem Besten sei; was er im Tiefsten seines Inneren ebenso empfindet. Die Befreiung von den Deutschen bringt zwar das Ende der leiblichen Gefahr mit sich, doch psychisch erwachsen dem Pubertierenden neue Nöte. Andere waren in den Widerstand gegangen, ein Mitschüler aus dem Internat, und für solche wie ihn gestorben; selbst seine Denunziantin, die Köchin, ist erschossen worden; er aber hat überlebt und ist sogar gut genährt in die Lehranstalt zurückgekehrt, wo man mit dem Knappsten auskommen musste.
     In Die Befreiung macht sich sein Alter Ego Arthur Kellerlicht entsprechende Vorwürfe. Er sei ein "unnützer Esser", befindet der Zurückgekehrte, ein "Schmarotzer": "Als Lampenschirm, das war doch das Los mancher Deportierter gewesen, wäre er mindestens zu etwas gut gewesen." Und exakt diese aus dem Gefühl der Wertlosigkeit erwachsene Not, die noch gesteigert wird durch den sich manifestierenden verbotenen Sexualtrieb, wird zur Bühne der sadomasochistischen Symbiose mit der Internatsdirektorin. Eingeleitet ist nun gewissermaßen die zweite Phase ihrer verruchten Beziehung: "[Er] wusste, Fräulein Lucas würde ihn schützen, ihm erneut eine Unterkunft finden, dessen war er sicher, vielleicht gerade, weil sie ihn so oft bestrafte. Sie hatte ihn lieb, das wusste er. Wenn er tränenüberströmt vor ihr stand, leuchteten ihre Augen so innig."
     Die Zumutung der Schuldzuweisung - durch die Nationalsozialisten, die ihn zum Juden machten; durch die Eltern und den Zeitgeist, die seine Sexualität zur Sünde erklärten; durch Fräulein Lucas, die ihn als undankbaren Tunichtgut ansprach -?, diese Zumutung zurückzuweisen, dürfte der Motor von Goldschmidts literarischer Obsession der Schläge sein. Hinzu kommt eine weitere Verstrickung: Goldschmidt wird nach der Befreiung erstmals von einem Mann geschlagen, von dem neuen Aufseher im Internat, den er bis zur Weißglut provoziert - mit dem (gewünschten) Ergebnis: "Übermorgen um fünf im Waschraum, und die Haselgerten nicht vergessen!" Arthur wird nicht nur geschlagen, er wird zudem - heute würde man vorschnell sagen - missbraucht, indem der Aufseher ihn beschläft; für den Zögling jedoch ist es eine homosexuelle Initiation, die mit einem gewissen Triumphgefühl einhergeht. In der Befreiung wird die Begegnung mit dem Aufseher als etwas ganz Neues beschrieben: "Lang nach dem Lichterlöschen in den beiden Schlafsälen war dann der Aufseher zu ihm in den Karzer gekommen und hatte sich von ihm beehren lassen, und am zweiten und dritten Abend hatte der Jüngling empfangen, sich von innen kennengelernt, erfahren, wie es sich in sich anfühlte, er hatte ihn und also sich selbst in sich gehabt und war auf einmal verwandelt gewesen." Er hat nun "ein Geheimnis, von dem keiner wissen durfte". Scham empfindet er plötzlich nicht mehr - er weiß sich diesmal frei von Schuld, "denn er hatte niemandem geschadet, niemandem etwas angetan. Er war ein Wissender geworden".
     Mit einiger Berechtigung kann hier von sexueller Poetik gesprochen werden in dem Sinne, dass jegliche sexuelle Regung mit einer komplexen, über die psychischen Verknotungen des Einzelnen noch hinausgehenden zeithistorischen Dimension verbunden ist: so dass die Sexualität als totaler Bedeutungsträger fungiert. Das gilt ebenfalls für die legendäre Auspeitschungsszene im letzten Band von Prousts Recherche, Die wiedergefundene Zeit; jene Szene, die den Erzähler zum Zeugen macht einer auf interessante Weise missglückten Bestrafung des Baron de Charlus durch einen bezahlten Lustlakaien, vulgo Stricher. Ort ist das Herrenetablissement Jupiens, Letzterer, eine Art Puffvater, betritt den Raum, in dem Charlus seine Behandlung entgegennimmt, während am Himmel von Paris die Bomberflieger des Ersten Weltkriegs kreisen (und während der Erzähler heimlich durch ein Fensterchen lugt). Es ist der Diskurs der Prostitution, in dem die beiden so unterschiedlichen Männer - ein Aristokrat, ein ehemaliger Westenmacher - sich verständigen. Charlus lässt den Lustknaben hinausschicken, um sich dann bei Jupien zu beklagen: "Ich wollte vor dem Kleinen nichts sagen, er ist sehr nett und tut, was er kann. Doch finde ich ihn nicht brutal genug. Sein Gesicht gefällt mir, aber er nennt mich 'elender Schuft', als hätte er es auswendig gelernt." Was Proust mit verdächtiger Kenntnis offenlegt, ist eine pornographische Stimulation; es zählt der Schlüsselreiz, nicht die Authentizität. Es zählt die perfekte Vortäuschung, nicht der echte Affekt: die Brutalität als Fetisch. Bei Proust finden wir, mit anderen Worten, das Gegenteil von Goldschmidts sensibler, ehrlicher, tabuloser Tiefenrekonstruktion eines temporären, aus der Not geborenen Sadomasochismus.
     Wenngleich immer und immer wieder erzählt, ist der Abgrund seiner Seele ihm selber nach wie vor rätselhaft, und so vertrackt es klingen mag, aber genau dieses Rätsel - bei gleichzeitiger Eindeutigkeit im Urteil - lässt Goldschmidt (relativ spät) den Weg in die Literatur einschlagen. Dem entsprechen seine fast kindlich drängende Sprache, sein illusionsloses Menschenbild, seine Referenzen, seine Reizbarkeit, seine Ästhetik, sein Ethos, seine Sinnlichkeit. So wie seine kindliche Hölle schon vor den manifesten Qualen der Nazizeit kompliziert genug war, so hatte er andererseits trotz des Nazitreibens seine Augen für die Natur und das Schauen geschult. Goldschmidts Prosa ist extrem empfänglich für die Übergänge von Hell und Dunkel, von Innen und Außen, die er beeindruckend am Beispiel der elterlichen Villa, des Gartens, der Wiesen und Wälder als Urerfahrungen des Körperbewusstseins schildert. Später, in seinem Versteck in Hoch-Savoyen, gelingt es ihm, die wunderbaren, wechselnden Lichtverhältnisse der Alpen in sich aufzunehmen und sich von der Landschaft trösten zu lassen.
 
Wahrscheinlich hätte die Lektüre von Rousseaus Bekenntnissen - 1946, während der Vorbereitung aufs Abitur - nicht einen derartigen "Donnerschlag" bei ihm auslösen können, wenn er nicht genau diese Gabe mit dem genialen Genfer (Selbst-)Aufklärer geteilt hätte. In der Erfahrung der Landschaft, derselben savoyardischen Landschaft, erkennt Goldschmidt in Rousseau einen Vertrauten. Aber das ist bei weitem noch nicht alles: Auch Rousseau schildert eine seltsame Erregbarkeit durch die Züchtigung eines strengen Fräuleins, Mademoiselle Lambercier, und auch er knüpft das Gefühl des Existierens an die Irritation eines brennenden Verlangens, das noch nicht weiß, worauf es sich richten soll. In der inneren Geographie Rousseaus herrschte zweihundert Jahre zuvor eine vergleichbare Melange aus Scham, Schuldgefühl, Exhibitionismus, Einsamkeit und der faszinierenden Macht einer als lächerlich empfundenen Nacktheit. "Eine Begeisterung erfasste mich", schreibt Goldschmidt, "ein triumphales, noch nie erlebtes Gefühl der Legitimität." Von Anfang an war ihm, als sei das Buch für ihn geschrieben worden. Er kommt bei der Lektüre kaum noch zu Atem. Er meint, in die Form seiner Existenz zu kippen - er hat endlich teil am Allgemeinen. Und nicht ohne eine gewisse Ironie nehmen wir zur Kenntnis, dass ausgerechnet Fräulein Lucas ihm die Bekenntnisse Rousseaus in die Hände drückt - drücken muss -?, weil die Bücher?I bis III der Confessions zum staatlich verordneten Abitur-Prüfungsstoff gehören. Während sie ihm die Bände reicht, betont sie, dass es nicht richtig sei, wenn Abiturienten gezwungen würden, solche Bücher zu lesen. Für Goldschmidt offenbaren aber Zeilen wie diese aus den Bekenntnissen das Ende der Einsamkeit: "Da Fräulein Lambercier für uns die Liebe einer Mutter empfand, hatte sie auch deren Autorität und brachte sie manchmal so weit, uns, wenn wir es verdient hatten, wie Kleinkinder zu strafen. Ziemlich lange blieb sie einfach bei der Drohung, und diese Drohung einer für mich ganz neuen Strafe schien mir sehr erschreckend; nach deren Ausführung fand ich sie beim Erleiden weniger schrecklich, als die Erwartung davon gewesen war, und das Sonderbarste dazu war, dass mich diese Strafe noch mehr diejenige lieben ließ, die sie mir erteilt hatte. Und es brauchte sogar die ganze Wahrheit solcher Liebe und meine ganze natürliche Sanftheit, um mich daran zu hindern, Wiederholung derselben Behandlung zu suchen, indem ich sie verdient hätte: denn ich hatte im Schmerze, ja auch in der Scham, eine Beimischung an Sinnlichkeit gefunden, die mir mehr Lust als Furcht hinterließ, es neu von derselben Hand erteilt zu empfinden."
     In seinem Essayband Die Faust im Mund, einer Art Lektüre-Biographie, kommt Goldschmidt noch einmal auf die Entdeckung Rousseaus zurück: "Obwohl die Bekenntnisse auf dem Lehrplan standen, waren einige Seiten des dritten Buchs mit Stecknadeln zusammengeheftet und mit einem ausdrücklichen Leseverbot belegt […]. Als herauskam, dass ich das gelesen hatte, weil die Löcher um die Nadeln weiter geworden waren, wurde ich hart bestraft und berauschte mich einmal mehr am Schmerz, an der Demütigung und an der Schande, und meine lebhafte Phantasie brachte mich in der Tat bald dazu, mich an meiner Verworfenheit zu weiden. […] Mit fast achtzehn Jahren auf einen Schemel gebunden und schmachvoll bestraft für die oft begangene Sünde, für diese Geste, dieses besonders verwerfliche 'Laster', das zu meiner falschen Geburt, zum nichtswürdigen Leben einer überzähligen Waise hinzukam, war ich stolz darauf, nicht nachzugeben. Ich ergötzte mich an dieser Verkehrung, an diesem Zustand sklavischer Unterwerfung und Erniedrigung, in der Küche wie auf dem Speicher jedem Willen ergeben, der mich wollte."
     In seiner großen Rousseau-Studie von 1957 La transparence et l'obstacle (dt. Eine Welt von Widerständen, 1988) analysiert der Schweizer Arzt und Literaturwissenschaftler Jean Starobinski diese Rousseau'schen Bestrafungsrituale als Überkreuzung von "Moral" und "Perversion". Goldschmidt hingegen - der seine eigenen Erfahrungen mit denen Rousseaus abgleicht, was ein komplett anderer Ansatz ist - lässt eine moralische Perspektive vermissen. Wenn die Bestrafungsaktionen durch Fräulein Lucas die Moral ins Spiel bringen, dann, so legt Goldschmidt nahe, dann eben wirklich buchstäblich nur als Spiel: Nicht für das Bettnässen, nicht für die Provokationen und Wutausbrüche, nicht für die unerlaubte Masturbation wurde der Zögling mit der Rute gezüchtigt. Es war, letztlich, ein Ritus zum unausgesprochenen gegenseitigen Nutzen; was der einen aufgrund ihrer nymphomanischen Neigung ein Lustgewinn ist, bedeutet dem anderen eine paradoxe Lebensrettung. Im Gespräch sagt es Goldschmidt dann auch ganz unverblümt: "Es war ein Wechselspiel. Es war eigentlich überhaupt nicht brutal, nicht gerade wie ein Spaß, aber es war völlig erträglich, fast wie ein maskiertes erotisches Spiel." Goldschmidts Geheimnis aber bleibt, wie er es geschafft hat, das drängende Schuld- und Schamempfinden des Kindes und des Pubertierenden umzuwandeln in eine Sprache, an der jegliche Scham abperlt. Diese Sprache ist seine größte, seine eigentliche Befreiung.
     Der Prügelstrafe, so darf man sagen, ist in Goldschmidts autobiographischen Texten der perverse Impetus nicht ganz, doch die Moral vollständig ausgetrieben worden. Die Rutenschläge auf den nackten Leib bedeuten einerseits Vergessenshilfe, andererseits echte erotische Stimulation. In dieser Hinsicht konnte Goldschmidt vermutlich mehr noch bei Freud lernen als bei Rousseau, den er wiederum als dessen großen Vorgänger bezeichnet. Auf Freud und seinen "kühnen" (Goldschmidt) Aufsatz Ein Kind wird geschlagen von 1919 kommt die Rede auch an jenem Nachmittag in Paris. "Für Kinder", sagt Goldschmidt, "kann das Geschlagenwerden eine schreckliche Rettung der eigenen Identität sein, eine Selbstbegrenzung, aus der ich den Beweis beziehe, dass ich existiere. Freud hat das wahrscheinlich auch so verstanden. Wenn diese Art der Erregung entsteht, so ist das für einen Jüngling nicht zu verstehen. Es ist nicht zu begreifen. Und es kann ein Kind zutiefst verunsichern und erschüttern, dies nicht zu begreifen. Wie kommt es, dass die Strafe mich erregt? Das ist eine verkehrte Welt. Dadurch werden sämtliche Autoritätsbegriffe, jedes Obrigkeitsdenken erschüttert. Die Persönlichkeit eines Kindes konstituiert sich innerhalb dieser Verwirrung."
     Zitieren wir abschließend Freud selbst: "Dies Geschlagenwerden", schreibt er in jenem Aufsatz kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs, "ist nun ein Zusammentreffen von Schuldbewusstsein und Erotik; es ist nicht nur die Strafe für die verpönte genitale Beziehung, sondern auch der regressive Ersatz für sie, und aus dieser letzteren Quelle bezieht es die libidinöse Erregung." Damit hätten wir das perfekte Resümee dessen, was Goldschmidt als Erfahrung obsessiv zu schildern nicht aufhört. Solange die Quelle der Erregung ein "Ersatz" ist, könnte man mutmaßen, bleibt die Obsession am Leben. Und sei es als peitschende Erinnerung, die sich immer aufs Neue Ausdruck verschaffen muss.

                                         *

Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages
(Copyright S.Fischer Verlag)


Informationen zum Buch und zur Autorin hier