Vorgeblättert

Leseprobe zu Jean Rolin: Boulevard Ney.Teil 1

18.05.2009.
Wenige Stunden vor Ende des 20. Jahrhunderts steht der Mann mit einer Zigarette zwischen zwei Fingern der linken Hand ein Stück zurückversetzt am offenen Fenster des Zimmers 611. Das Fenster geht auf den Peripherique hinaus, genauer gesagt, auf die Kurve - ein leicht abgerundeter rechter Winkel -, die der Peripherique zwischen Porte de la Villette und Porte de Pantin beschreibt.

Die Fahrzeuge, die auf dem Peripherique exterieur aus der Kurve kommen oder auf dem Peripherique interieur in die Kurve einbiegen, fahren gleichmäßig mit erhöhter Geschwindigkeit, ohne zu stocken: Der Verkehr fließt.

Von der Autobahn steigt ein dumpfes und eintöniges Dröhnen auf, als Einziges sticht gelegentlich das Röhren der Motorräder mit großem Hubraum aus der unterschiedslosen Geräuschkulisse hervor.
Die Außentemperatur liegt einige Grade über dem jahreszeitlichen
Durchschnitt, aber das ist heutzutage eine so häufige Erscheinung, dass man es für die neue Norm halten kann.

Von der Position aus, die der Mann an diesem Sonntag, dem 31. Dezember 2000, gegen drei Uhr nachmittags im sechsten Stock des Hotels Villages einnimmt, etwas zurückversetzt am offenen Fenster, könnte er, wenn er ein Gewehr mit Zielfernrohr sowie ein volles Magazin mit Patronen von hoher Durchschlagskraft hätte und damit umzugehen wüsste, nahezu unfehlbar den Fahrer eines jeden Fahrzeugs erschießen, das über den Peripherique rollt. Das Panorama, das er vor sich sieht, wenn er sich so weit aus dem Fenster lehnt, dass er beinahe das Gleichgewicht verliert, erstreckt sich vom Kampanile des alten Rathauses von Pantin bis zum rauchenden Kamin der Müllverbrennungsanlage von Saint-Ouen. Zwischen diesen beiden Polen streift sein Blick von Ost nach West nacheinander über die Sendemasten von Romainville, die Grands Moulins de Pantin, die Tour Essor oberhalb des Jules-Ladoumegue-Stadions, dahinter in der Ferne über die oberen Stockwerke des Robert-Debre-Krankenhauses und die Zwillingstürme der Tours Mercuriales bei der Porte de Bagnolet sowie, näher gelegen, über die Kuppel des Zenith und das Flachdach der Cite des Sciences, dann über die Orgelpfeifen-Hochhäuser an der Avenue de Flandre, die Eisenbahnbrücke über die Avenue Corentin-Cariou mit den Gleisen, die zur Gare de l?Est führen, die großen Blöcke des Hochhausviertels Curial-Cambrai mit ihren sonderbaren Fensteröffnungen, die Basilika Sacre-Coeur, das allein stehende Hochhaus an der Rue des Fillettes, die beiden sich gegenüberstehenden Hochhäuser am Boulevard Ney, Ecke Rue de la Chapelle, und schließlich über die Leuchtreklamen, die sich von der Porte d?Aubervilliers bis zur Porte de Clichy zu beiden Seiten des Peripherique hinziehen. Durch die Perspektive eingeebnet, verschwimmt am Ende die ganze Außenwerbung und verschwindet schließlich ebenso wie die Stadtautobahn mit ihren Fahrzeugen in einem von der Neonreklame rot gefärbten Dunst aus Abgasen.
(....)

S. 18 ff
Den ganzen Boulevard entlang tragen nur zwei Bistrots den Namen des Marschalls: das erste an der Ecke zur Avenue de Saint-Ouen, das zweite am Rand der Cite Charles-Hermite. Man könnte noch die Lagerhallen zwischen der Porte de la Chapelle und der Porte d?Aubervilliersdazunehmen,die zum Logistikkonzern Geodis gehören. In der Avenue de la Porte-de-Montmartre betreibt ein Stadtteilverein ein Cafe unter dem Namen Le Petit Ney, und genauso heißt auch eine Zeitung, die der Verein herausgibt.

Wenn man mit dem Rücken an der Theke des Cafes Au Marechal Ney an der Porte de Saint-Ouen lehnt und stadtauswärts blickt, stellt man fest, dass die ganze Nordostecke der großen Kreuzung vom Krankenhaus Bichat-Claude-Bernard eingenommen wird, dessen modernste und höchste Gebäude sich am Peripherique entlangziehen, die ältesten hingegen am Boulevard Ney.

Auf dieser Seite macht die Fassade des Krankenhauses, die mit einem schmutzigen gelben Klinker verkleidet ist und relativ wenige, zudem vergitterte Fensteröffnungen besitzt, einen abweisenden Eindruck. Auf Höhe der Porte de Saint-Ouen führen die Mittelspuren des Boulevards - wie weiter im Osten an der Porte de Clignancourt, dann an der Porte des Poissonniers und an der Porte de la Chapelle - in einer Unterführung unter der Kreuzung durch und tauchen ein Stück weiter wieder auf. Noch diesseits davon hat man auf dem Trottoir vor dem Krankenhaus einen Spritzenautomaten aufgestellt, wo gebrauchte gegen saubere Spritzen getauscht werden können. Noch ein Stück weiter verbindet eine Fußgängerunterführung die beiden Seiten des Boulevards vom Seiteneingang des Krankenhauses zu einem Neubau, in dem eine Fachschule für Krankenschwestern untergebracht ist. Im Umkreis des nördlichen Zugangs der Unterführung treiben sich regelmäßig Prostituierte herum, die meistens aus Albanien, Moldawien oder anderen osteuropäischen Ländern stammen. Besonders nach Feiertagen oder Wochenenden ziehen sich fast immer Pissespuren über den Boden der Unterführung, und er ist übersät mit Bierdosen, Plastiktüten, Fast Food-Verpackungen, Papiertaschentüchern und Präservativen.

An der Einmündung der Rue Arthur-Ranc zieht sich die Fassade des Bichat-Krankenhauses entlang dieser Straße nach Nordosten. Von da an nehmen die HBM-Bauten mit ihren charakteristischen, zwischen Stein und Klinker wechselnden Fassaden die Seite des Boulevards mit den geraden Hausnummern ein - die Nordseite - und ziehen sich ohne Unterbrechung bis zur Porte de Clignancourt hin. Im Vergleich dazu zeigt die Seite mit den ungeraden Hausnummern - die Südseite - eine gewisse architektonische Vielfalt. Obwohl keine Statistik diesen Eindruck bestätigen kann, entstammen die Bewohner der Sozialwohnungen offenbar in noch größerer Einheitlichkeit der Einwanderung aus Schwarzafrika oder dem Maghreb als die Bewohner der Häuser auf der gegenüberliegenden Seite.

An der Ecke Boulevard Ney, Avenue de la Porte-de-Montmartre und weiter die ganze Straße entlang findet mehrmals in der Woche ein Markt statt. Lässt man diese Kreuzung hinter sich, öffnet sich auf der Seite der geraden Hausnummern ein Einschnitt zum dreieckigen Square Marcel-Sembat, eine Grünanlage, die sich nach Norden weitet und in die kompakte Masse der Mietshäuser hineinreicht. Da der Teil von Saint-Ouen, der sich jenseits des Peripherique erstreckt, auf dieser Höhe frei von Hochhäusern oder anderen großen Gebäuden ist, offenbart die Öffnung des Platzes bei klarem Wetter einen so ausgedehnten Himmel, dass man glauben könnte, man stehe am Meer. Auf der Seite der ungeraden Hausnummern markiert die Einmündung der Rue du Poteau den Beginn eines außergewöhnlich langen, in seinem Mittelteil dreizehn Stockwerke hohen Gebäudes, dessen Erdgeschoss nacheinander einen Ausstellungsraum für ?koda-Automobile, ein Farben- und Tapetengeschäft, La Maison du Peintre, und eines für Bodenbeläge, Mondial Moquette, beherbergt. (Je nach Jahreszeit sind die Bäume am Boulevard wechselweise entlaubt und wieder belaubt, und dementsprechend erblickt man die Südostecke der Tour Daewoo, die sich von der Baumreihe abhebt, zum ersten Mal entweder in Höhe des Geschäfts für Bodenbeläge oder weiter im Westen, vor dem Malergeschäft oder den ?koda-Ausstellungsräumen.
"Tour Daewoo" nenne ich das Hochhaus, das kurz hinter der Porte de la Villette an der Grenze zur Gemeinde von Aubervilliers steht und das lange Zeit von einer Leuchtreklame des gleichnamigen, in Konkurs gegangenen koreanischen Unternehmens gekrönt wurde. Die genaue Position des westlichsten Punkts auf dem Trottoir des Boulevards, von dem aus das Hochhaus noch zu sehen ist, besitzt für mich eine besondere Bedeutung, und zwar aus folgendem Grund: Je mehr mein Schlachtplan sich veränderte und ich unter dem Druck der Umstände mein Operationsgebiet von West nach Ost verlegte in einer Gleitbewegung, die mein Zentrum zur Porte d?Aubervilliers verschob, während meine linke Flanke zwischen Porte de Clignancourt und Porte de la Chapelle lag und meine rechte Flanke hin und her schwenkte, um sich in der v-förmigen Öffnung der auseinanderstrebenden Kanäle, Canal de l?Ourcq und Canal Saint-Denis, als Tangente zur nordöstlichen Grenze des Parc de la Villette einzupendeln, umso mehr stellte sich heraus, dass das Gebiet, mit dem ich mich von nun an beschäftigen würde, unter Ausschluss aller anderen Abschnitte des Boulevard exterieur auf den Abschnitt des Boulevards festgelegt werden konnte, von dem aus die Tour Daewoo zu sehen ist.

Teil 2