Vorgeblättert

Leseprobe zu John Cage: Empty Mind. Teil 2

30.07.2012.
Unbestimmtheit III

60'00''
 Ein irischer Held, dessen Mutter gestorben war, wurde eines Tages von seiner Stiefmutter aufgefordert, zu einer Insel tief unten im Meer aufzubrechen und einige goldene Äpfel, die er dort finden würde, mitzubringen. Sollte er nicht binnen eines Jahres zurückkehren, verlöre er sein Anrecht auf den Thron, und einer seiner Stiefbrüder würde der Erbe sein. Als einzigen Begleiter erhielt er einen armseligen struppigen Gaul. Kaum war er aufgebrochen, sagte der Gaul: "Schau in mein Ohr. Dort findest du eine Metallkugel. Wirf sie vor uns auf den Weg, dann folgen wir ihr, wo immer sie hinrollt." Ohne zu zögern tat der Prinz, wie ihm geheißen, und vom Glück geleitet, meisterten sie viele Gefahren. Schließlich, auf der Höhe des Erfolgs, sagte das Pferd zu dem Prinzen: "Jetzt nimm dein Schwert und schlitze mir die Kehle auf." Der Prinz zögerte, aber nur für einen Augenblick. Kaum hatte er das Pferd getötet, verwandelte es sich in einen Königssohn, der ohne die Ergebenheit des Helden sein Leben lang ein armseliger struppiger Gaul geblieben wäre.

61'00''
Schönberg hat sich immer darüber beklagt, daß seine amerikanischen Schüler nicht genügend arbeiteten. Besonders eine der Schülerinnen in seiner Klasse tat tatsächlich nie etwas. Schönberg fragte sie eines Tages, warum sie nicht mehr zustande bringe. Sie sagte: "Ich habe keine Zeit." Er sagte: "Wie viele Stunden hat ein Tag?" Sie sagte: "Vierundzwanzig." Er daraufhin: "Unsinn: Der Tag hat so viele Stunden, wie man in ihn hineinlegt."

62'00''
David Tudor und ich fuhren einmal hoch nach New Haven, um am New Haven State Teachers College einen Fernsehkurs aufzunehmen. Dieses College ist auf das Unterrichten per Fernsehen spezialisiert. Dafür nehmen sie den Kurs zunächst auf - audio und visuell -, und senden ihn später am Vormittag. Im Laufe meines Vortrags sagte ich etwas über den Zweck der Zwecklosigkeit. Danach sagte einer der Lehrer zu dem Leiter der Musikfakultät: "Wie wollen Sie das nächsten Dienstag der Klasse erklären?" Wie auch immer, wir beendeten das Fernseh-Projekt, fuhren zurück zur Schule, und ich bat einige Lehrer, mir und David Tudor einige Antiquariate in New Haven zu empfehlen. Das taten sie. Als wir eine halbe Stunde später eines der empfohlenen Geschäfte betraten, fragte der Buchhändler: "Herr Tudor? Mr. Cage?" Ich sagte: "Ja?" Er sagte: "Sie sollen das State Teachers College anrufen." Das tat ich. Sie teilten uns mit, daß unser Fernsehunterricht, den wir aufgezeichnet hatten, nicht aufgezeichnet worden war. Offenbar hatte irgendwer vergessen, irgendwas einzuschalten.

63'00''
Auf dem Rückweg von New Haven fuhren wir den Housatonic entlang. Es war einwunderschöner Tag. Wir hielten an, um zu Abend zu essen, aber es stellte sich heraus, daß die Restaurants am Ufer des Flusses überhaupt keine Restaurants waren, sondern dunkle, heruntergekommene Bars, merkwürdigerweise ohne Blick auf den Fluß. Also fuhren wir weiter nach Newtown, wo wir ein Restaurant im Kolonialstil entdeckten; auf dem Parkplatz standen zahlreiche Autos. Ich sagte: "Die vielen Autos sind ein gutes Zeichen. Laß uns dort essen."Wir kamen in einen großen Speisesaal mit sehr wenigen Gästen. Die Kellnerin wirkte leicht weggetreten. David Tudor bestellte Ginger Ale, und als sie nach einer ziemlich langen Zeit Coca-Cola brachte, ließ er das Getränk zurückgehen. Später bestellten wir jeder ein Parfait; ich Schokolade, er Erdbeere. Beim Betreten der Küche rief die Kellnerin laut: "Zwei Schoko-Parfaits." Als David Tudor ihr später erklärte, er habe Erdbeere bestellt, sagte sie: "Das muß ein Fehler in der Küche gewesen sein." Ich sagte: "Sicher gibt es hier im Gebäude noch einen anderen Speisesaal, in dem mehr Leute essen." Die Kellnerin sagte: "Ja, unten ist noch einer, und auf jedem Stock arbeiten zwei von uns, und wir laufen immer hin und her."

64'00''
Dann mußten wir zurück nach New Haven fahren, um die Fernsehstunde noch einmal aufzunehmen. Diesmal war es auf dem Rückweg sehr heiß und schwül. Wieder hielten wir in Newton, um Eis zu essen, aber diesmal woanders. Man konnte wählen zwischen: Himbeere, Traube, Zitrone, Orange und Ananas. Ich nahm Traube. Es war erfrischend. Ich fragte die Dame, die bediente, ob sie es selbst gemacht hatte. Sie sagte: "Ja." Ich fragte: "Aus frischem Obst?" Sie sagte: "Es ist nicht frisch, aber es ist Obst."

65'00''
Betty Isaacs erzählte mir, man habe ihr in Neuseeland gesagt, keiner der wild wachsenden Pilze dort sei giftig. Als sie eines Tages auf einen Hang voller Pilze stieß, sammelte sie eine große Menge und machte Ketchup daraus. Danach probierte sie das fertige Ketchup, und es schmeckte entsetzlich. Trotzdem füllte sie es in Flaschen und stellte diese auf ein hohes Regal. Ein Jahr später beim Hausputz entdeckte sie die Flaschen, die sie völlig vergessen hatte. Sie wollte sie schon wegwerfen, doch dann beschloß sie, den Ketchup vorher zu probieren. Er hatte seine Farbe verändert. Das ehedem schmutzige Grau war schwarz geworden, und der Ketchup göttlich, wie sie mir sagte, denn sein Geschmack veredelte alles, womit er in Berührung kam.

66'00''
Im Jahr 1952 wurde ich gebeten, ein Manifest über Neue Musik zu schreiben. Ich notierte: "Augenblicklich und unvorhersehbar." Dann schrieb ich darunter: "Nichts ist fertig, wenn ein Musikstück niedergeschrieben ist. Dito für das Hören eines Musikstückes. Dito für das Aufführen eines Musikstückes." Dahinter standen in Klammern die Worte: "Unsere Ohren sind jetzt in einem ausgezeichneten Zustand." Dann kam meine Unterschrift, und mehr hatte ich dazu nicht zu sagen.

67'00''
Als die Depression begann, war ich in Europa. Nach einer gewissen Zeit kam ich zurück und lebte mit meiner Familie in den Pacific Palisades. Ich hatte irgendwo gelesen, daß der Pianist Richard Buhlig vor Jahren in Berlin Schönbergs Opus 11 uraufgeführt hatte. Ich dachte bei mir: Sicher lebt er genau hier, in Los Angeles. Also schaute ich ins Telefonbuch und tatsächlich, da stand sein Name. Ich rief ihn an und sagte: "Ich würde Sie gerne mit den Schönbergstücken hören." Er sagte, er habe kein Konzert in Planung. Ich sagte: "Natürlich nicht, aber spielen Sie denn nicht zu Hause? Könnte ich nicht einmal vorbeikommen und Ihnen bei Opus 11 zuhören?" Er sagte: "Auf keinen Fall." Dann legte er auf. Ungefähr ein Jahr später mußte meine Familie das Haus in den Palisades aufgeben. Mutter und Vater zogen in eine Wohnung in Los Angeles. Ich fand ein Motel, das mir im Tausch gegen Gartenarbeit eine Wohnung anbot; den großen Raum hinten im Hof über den Garagen nutzte ich als Hörsaal. Ich war damals 19 und begeistert von moderner Musik und Malerei. Ich ging in Santa Monica von Tür zu Tür und erzählte den Hausfrauen davon. Ich bot zehn Vorlesungen für $ 2,50. Ich sagte: "Ich werde jede Woche etwas über das Thema lernen, über das ich dann referiere." Nun, es kam die Woche mit meinem Vortrag über Schönberg. Abgesehen von einem Menuett aus Opus 25 war seine Musik zu schwer zu spielen für mich. Aufnahmen standen damals keine zur Verfügung. Ich dachte an Richard Buhlig. Ich beschloß, lieber nicht anzurufen, sondern ihn gleich zu Hause aufzusuchen. Ich trampte in die Innenstadt von L. A. und war gegen Mittag bei ihm. Er war nicht da. Ich nahm einen Zweig von einem Pfeffer-Baum und zupfte die Blätter eines nach dem anderen ab. Dabei sagte ich: "Er kommt, er kommt nicht, er kommt, er kommt nicht . . . ." Jedesmal kam heraus, daß er nach Hause kommen würde. Und er kam. Um Mitternacht. Ich erklärte, ich hätte zwölf Stunden auf ihn gewartet. Er bat mich herein. Als ich ihn fragte, ob er meinen Vortrag über Schönberg illustrieren würde, sagte er: "Sicher nicht." Er sagte jedoch, daß er gerne einige meiner Kompositionen sehen würde, und so vereinbarten wir einen Termin für die folgende Woche.

68'00''
Irgendwie habe ich den Vortrag dann doch hinter mich gebracht, und es kam der Tag, an dem ich Buhlig meine Arbeiten zeigen sollte. Wieder trampte ich nach L. A. und kam etwas zu früh. Ich klingelte. Buhlig öffnete und sagte: "Sie sind eine halbe Stunde zu früh. Kommen Sie zur richtigen Zeit wieder." Ich hatte Bibliotheksbücher dabei und beschloß, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Ich ging also in die Bibliothek, gab die Bücher zurück, fand ein paar neue, kehrte dann zurück zu Buhligs Haus und klingelte wieder. Als er die Tür öffnete, war er aufgebracht. Er sagte: "Sie sind eine halbe Stunde zu spät." Er ließ mich ein und belehrte mich zwei Stunden lang über die Wichtigkeit der Zeit - besonders für jemanden, der von sich behauptet, sein Leben der Kunst der Musik widmen zu wollen.

69'00''
Eines Tages ging M. C. Richards zu einer Vorstellung des Bolschoi- Balletts. Sie war begeistert. Sie sagte: "Es ist nicht das, was sie tun, es ist die Glut, mit der sie es tun." Ich sagte: "Ja: Komponieren, Aufführen und Zuhören oder Betrachten sind wirklich verschiedene Dinge. Sie haben so gut wie nichts miteinander zu tun." Neulich erzählte ich ihr, daß ich in einem Haus am Riverside Drive war, wo Leute eingeladen waren, um einem Zen-Ritual beizuwohnen, das von einem japanischen Roshi geleitet wurde. Er vollzog das Ritual, mit Rosenblättern und allem Drum und Dran. Danach wurde Tee mit Reisplätzchen serviert. Und dann gaben die Gastgeberin und ihr Ehemann unter Einsatz eines verstimmten Klaviers und mit brüchiger Stimme Auszüge einer drittklassigen italienischen Oper zum besten. Ich war peinlich berührt und warf einen Blick zu dem Roshi, um zu sehen, wie er es aufnahm. Sein Gesichtsausdruck war absolut glückselig.

70'00''
M. C. Richards und David Tudor luden einige Freunde zum Essen ein. Ich ging hin, und es war ein schöner Abend. Nach dem Essen saßen wir noch beisammen und redeten. In einer Ecke fing David Tudor an, irgendwelchen Papierkram zu erledigen, der vielleicht mit Musik zu tun hatte, vielleicht aber auch nicht. Nach einer Weile entstand eine Pause in der Unterhaltung, und jemand sagte zu David Tudor: "Warum kommst du nicht zu uns?" Er sagte: "Ich bin nicht weggegangen. Das ist eben meine Art, euch zu unterhalten."

zu Teil 3