Vorgeblättert

Leseprobe zu Lorrie Moore: Ein Tor zur Welt. Teil 1

03.03.2011.
I

In diesem Herbst blieb es lange warm, die Singvögel wurden kalt erwischt. Als Schnee und Wind Ernst machten, hatten sich schon zu viele zum Bleiben verleiten lassen, und statt gen Süden zu fliegen, statt gen Süden geflogen zu sein, hockten sie dicht beieinander in den Gärten, mit aufgeplustertem Gefieder, um ein Spürchen Wärme zu halten. Ich suchte einen Job. Ich war Studentin und wollte babysitten, also lief ich von einem Vorstellungsgespräch zum nächsten durch die schönen, aber winterlichen Wohnviertel, wo gespenstisch viele Rotkehlchen auf dem gefrorenen Erdboden herumpickten, fahlgrau und gezaust - wobei, welcher Vogel wirkt selbst unter günstigsten Umständen nicht ein bisschen gezaust -, bis schließlich verblüffenderweise an einem Wochenende, als ich schon ziemlich lange suchte, die Vögel alle verschwunden waren. Ich wollte mir lieber nicht ausmalen, was mit ihnen passiert war. Na ja, das ist eine Floskel - reine Höflichkeit, um Zartgefühl vorzutäuschen -, denn in Wirklichkeit dachte ich die ganze Zeit darüber nach: stellte mir vor, dass sie tot in gewaltigen Haufen auf irgendeinem Maisfeld außerhalb der Stadt lagen, Killing Fields, oder in Zweier- oder Dreiergruppen vom Himmel fielen, kilometerweit entlang der Staatsgrenze von Illinois.
Es war Dezember, und ich suchte eine Arbeit, die im Januar losgehen sollte, wenn die Vorlesungen wieder begannen. Ich hatte meine Prüfungen hinter mir und meldete mich auf Jobangebote vom Schwarzen Brett, in denen es um "Kinderbetreuung" ging. Ich mochte Kinder - wirklich! - oder besser, ich mochte sie ganz gern. Manchmal hatten sie etwas Faszinierendes. Ich bewunderte ihre Ausdauer und Offenheit. Und ich konnte durchaus mit ihnen umgehen, für die Babys hatte ich lustige Grimassen drauf, für die älteren Kinder Kartentricks und jenen theatralisch-spöttischen Ton, der sie entwaffnete und [4] fesselte. Aber es war nicht gerade meine Stärke, mich länger mit Kindern zu beschäftigen; irgendwann langweilte ich mich, vielleicht erging es mir da wie meiner Mutter. Hatte ich zu viel Zeit mit ihren Spielen verbracht, sehnte sich mein Geist nach Nahrung und wollte sich in das Buch versenken, das ich gerade im Rucksack hatte. Ich hoffte vor allem auf frühes Zubettgehen und lange Mittagsschläfchen.
Ich war aus Dellacrosse, von der Central Highschool beziehungsweise von einer kleinen Farm an der alten Perryville Road, in die Universitätsstadt Troy gekommen, "Troja, das Athen des Mittleren Westens", wie aus einer Höhle, wie das Priesterkind eines kolumbischen Eingeborenenstamms, über das ich in Kulturanthropologie etwas gelesen hatte, ein Junge, der dadurch mystischen Status erlangte, dass man ihn die längste Zeit seiner Kindheit im Dunkeln hielt und nur durch Geschichten - nicht durch Erfahrung - mit der Außenwelt konfrontierte. Einmal ans Tageslicht gebracht, befand er sich in einem immerwährenden heiligen Zustand der Blendung und Verwunderung; keine Geschichte hätte je der Wirklichkeit gleichkommen können. Und so war es auch bei mir. Mich hatte eigentlich nichts vorbereitet. Nicht das College-Sparschwein im Esszimmer, die Sparbriefe meiner Großeltern oder die zerlesenen Enzyklopädiebände von World Book mit ihren wunderschönen Farbgrafiken über die internationale Weizenproduktion und den abgebildeten Geburtshäusern der Präsidenten. Die flache grüne Welt der schwein- und pferdelosen Farm meiner Eltern - die Ödnis, die Fliegen, die Stille, die täglich vom Qualm und Lärm der Maschinen zerrissen wurde - entschwand und entließ mich in ein funkelndes Stadtleben voller Bücher und Filme und geistreicher Freunde. Jemand hatte das Licht angemacht. Jemand hatte mich aus der Höhle geführt - der Höhle der Perryville Road. Mein Gehirn war entflammt für Chaucer, Sylvia Plath, Simone de Beauvoir. Zweimal wöchentlich stand ein junger Professor namens Thad, der Jeans und Schlips trug, vor einem Hörsaal voller staunender Farmkinder wie mir und erörterte in anregender Weise die Masturbation des Kommas bei Henry James. Ich war gebannt. Ich hatte noch nie gesehen, dass ein Mann Jeans und Schlips kombinierte.
Allerdings hatte jene alte Höhle einen Mystiker hervorgebracht; meine Kindheit hatte bloß mich hervorgebracht.
In den Gängen diskutierten Studenten über Bach, Beck, Balkanisierung und bakteriologische Kriegsführung. Ein paar von den Auswärtigen fragten mich Sachen wie [5]: "Du bist doch vom Land. Stimmt es, dass man stirbt, wenn man Bärenleber isst?" Sie fragten: "Schon mal einem begegnet, der mit einer Kuh gedingst hat?" Oder: "Ist es erwiesen, dass Schweine keine Bananen essen?" Was ich wusste, war, dass eine Ziege eigentlich keine Konservendosen verzehrt: aber sie leckt gern den Klebstoff vom Etikett ab. Nur dass mich danach nie einer fragte.
Aus unserer damaligen Perspektive waren die Ereignisse vom letzten September - noch nannten wir sie nicht Nine-Eleven - zugleich nah und fern. Marschierende PoWi-Hauptfächler intonierten Sprechgesänge auf dem Campus und in den Fußgängerzonen: "Ihr habt euch die Suppe eingebrockt! Jetzt müsst ihr sie auch auslöffeln!" Wenn ich mir das überhaupt vorstellen konnte - die Suppe, die Brocken, das Löffeln -, dann nur hinter Glas und so, als befände ich mich inmitten einer Menge, die gaffend die Hälse reckt, ähnlich wie (das wusste ich aus dem Kunstgeschichteseminar) die Mona Lisa im Louvre angestarrt wird: La Gioconda!, schon der Name wie eine Schlange, das listig-verkniffene Lächeln zwar verglast und auf Abstand gehalten, aber man musterte es genauestens, um sich kein ominöses Zucken entgehen zu lassen. Es war, genau wie der September und seine Folgen, ein selbstgewisses Katzengrinsen vorm gefundenen Fressen. Meine Mitbewohnerin Murph - eine schiefzähnige Blondine mit Nasenpiercing aus Dubuque, die schwarze Seife und schwarze Zahnseide benutzte, deren rasch gefällte Urteile bemerkenswert barsch waren (Dubuque sprach sie "Du-ba-kju" aus) und die ihre Englischlehrer einst mit der Aussage in Angst und Schrecken versetzt hatte, der literarische Held, den sie am meisten bewundere, sei Dick Hickock aus Kaltblütig -, Murph hatte ihren Freund am 10. September kennengelernt, und als sie am nächsten Morgen bei ihm aufwachte, rief sie mich an, entsetzt und entzückt, während im Hintergrund der Fernseher dröhnte. "Ich weiß, ich weiß", sagte sie mit hörbarem Achselzucken. "Ein schrecklich hoher Preis für die Liebe, aber es musste einfach sein."
Ich erhob meine Stimme zu einem Pseudoschnauzen. "Du kranke Schlampe! Da hat's Tote gegeben! Und du denkst nur an dein Vergnügen!" Dann verfielen wir in eine Art Hysterie - ein erschrockenes, schuldbewusstes, hoffnungsloses Gelächter, das mir bei Frauen über dreißig noch nie untergekommen ist.
"Tja", seufzte ich, als mir klar wurde, dass ich sie von nun an wohl kaum noch zu Gesicht kriegen würde, "ich wünsche euch viel Techtel - und kein Mechtel." [6]
"Bloß nicht", sagte sie. "Bei Mechtel gibt es immer Tränen, und es ruiniert auch das Techtel." Ich würde sie vermissen.
Die Kinos schlossen zwar für zwei Tage, und eine Woche lang hängte sogar unsere Yogalehrerin eine amerikanische Fahne auf, bezog mit geschlossenen Augen und im Lotussitz davor Stellung und sagte: "Wir atmen jetzt tief ein, zu Ehren unseres großartigen Landes" (worauf ich mich verzweifelt umsah, weil ich das Atmen nie richtig hinkriegte), unsere Gespräche rutschten trotzdem schockierenderweise immer wieder zu anderen Themen zurück: Backgroundsängerinnen bei Aretha Franklin oder welches koreanische Restaurant das beste chinesische Essen bot. Bevor ich nach Troy gekommen war, hatte ich noch nie chinesisch gegessen. Aber jetzt gab es zwei Straßen von meiner Wohnung entfernt, gleich neben einem Schuster das Peking Cafe, wo ich so oft wie möglich hinging, um von Buddhas Wonne zu kosten. An der Kasse wurden kleine Schachteln mit zerbrochenen Glückskeksen zum Sonderpreis verkauft. "Nur Keks kaputt", versprach ein Schild, "nicht Glück." Ich nahm mir vor, eines Tages eine ganze Schachtel zu kaufen, um zu sehen, welcher gute Rat - obskur oder mystisch oder wohlfeil, aber konfuzianisch! - en gros zu haben war: Bis dahin sammelte ich sie einzeln, die Ratschläge, einen pro Keks, der am Ende auf meiner Rechnung lag, flott und effizient, noch bevor ich aufgegessen hatte. Vielleicht aß ich zu langsam. Ich war mit Freitagsfischstäbchen und grünen Bohnen in Butter großgeworden (jahrelang, so hatte mir meine Mutter erzählt, konnte man Margarine, die als ausländisches Nahrungsmittel galt, nur jenseits der Staatsgrenzen kaufen, an hastig entlang der Autobahn errichteten "Pflanzenöl"-Ständen - mit Schildern wie "Hier geht's zum PanoRAMA" - gleich hinter der Willkommenstafel des Gouverneurs von Illinois, und die Farmer brummelten, nur Juden würden da kaufen). Und so übte jetzt dieses seltsame chinesische Gemüse - pilzartig und verwachsen in seiner braunen Soße - auf mich die Anziehungskraft eines Abenteuers oder eines Rituals aus, eines Spruchs, den man sich auf der Zunge zergehen lassen konnte. In Dellacrosse hatten wir zwei Varianten von Essengehen, "Lässig", was bedeutete, dass man im Stehen aß oder es sich zum Mitnehmen einpacken ließ, und "Luxus", was auch "Hinsetz-Essen" hieß. Im Wie-Haus-Familienrestaurant, wo wir zum Hinsetz-Essen hingingen, waren die Sitzgelegenheiten mit rotem Kunstleder überzogen, und an den Wänden prangte die ortsübliche Gemütlichkeit: dunkle Holztäfelung und [7] gerahmter Extremkitsch, rehäugige Schäferinnen und Narren. Das Frühstücksmenü war überschrieben mit "Guten Morgen" (auf Deutsch). Soßen hießen "Tunke". Und zum Abendessen gab es Quarkfrikadellen und Steak "gebraten nach Ihren Möglichkeiten". Freitags gab es frittierten oder gekochten Fisch (Trüsche oder Quappe), serviert als "Juristen", weil: "Denen ist das Herz in die Soße gerutscht". (Sie wurden bei uns im See geangelt, wo die Mülltonnen auf allen Picknickplätzen mit dem Hinweis KEINE FISCHINNEREIEN versehen waren.) Sonntags gab es nicht nur Salat mit Marshmallows und Maraschinokirschen und etwas, das "Omamas Wackelpudding" hieß, sondern auch "Rippchen mit au jus". Genauere Kenntnisse des Französischen - oder des Englischen oder gar der Lebensmittelfarbenkunde - gehörte nicht zu den Stärken des Restaurants. A la carte bedeutete Suppe oder Salat; Menü bedeutete Suppe und Salat. Das Roquefort-Dressing tauchte als "Rockford-Dressing" auf. Die Hausweine - rot, weiß und rosa - boten alle dasselbe erwünschte Bouquet aus Rose, Seife und Graphit, einen Hauch Heu, eine Prise Provinz, obgleich die Karte sich darüber nicht ausließ, sondern sich an die eindeutigen Farbbezeichnungen hielt. Serviert wurde helles Bier und dunkles. Zum Nachtisch gab es meistens eine Glückschmerz-Torte, die so fluffig aussah und so gewichtig war wie eine Schneewehe. Egal, was man aß, es führte zu Schläfrigkeit.
Jetzt hingegen, fort und allein, gelockt und gewürzt von brauner Soße, fühlte ich mich lebendig und leicht. Die asiatischen Besitzer ließen mich so lange bleiben, wie ich wollte, und über meinen Büchern brüten: "Lasse Sie Zei! Keine Heile!", sagten sie freundlich und sprühten die Nachbartische mit Desinfektionsmittel ab. Ich aß Mango und Papaya und pulte mir die Fasern mit einem Zimtstocher aus den Zähnen. Ich gönnte mir einen elegant gefalteten Keks - einen kurzen Papiernerv, in ein Ohr hineingebacken. Ich trank einen henkellosen Becher heißen, abgestandenen Tee, aufgewärmt aus den Tiefen eines Eimers, der im begehbaren Kühlschrank des Restaurants lagerte.
Ich zerrte den Papierstreifen aus dem steifen Klammergriff des Kekses und behielt ihn als Lesezeichen. Aus allen meinen Büchern ragten Glücksbotschaften wie kleine Schwänzchen. Du bist die knackige Nudel im Salat des Lebens. Dein Schicksal liegt allein in deiner Hand. Murph hatte [8] an jeden Glückskeksglücksspruch immer "im Bett" drangehängt, und deshalb las ich sie im Geiste auch so: Dein Schicksal liegt allein in deiner Hand. Im Bett. Das stimmte ja auch. Schulden sind die Folgen verführerischer Lügen. Im Bett. Oder das weniger schlüssig übersetzte Dein Los wird blühen wie eine Blüte.
Oder das schlaubergerische Eine erfrischende Veränderung steht in naher Zukunft bevor.
Manchmal, weil es witziger war, ergänzte ich: allerdings NICHT im Bett.
Du wirst bald zu Geld kommen. Oder: Reichtum ist der Mann einer weisen Frau.
Allerdings NICHT im Bett.

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