Vorgeblättert

Leseprobe zu Mahmud Doulatabadi: Der Colonel. Teil 1

06.04.2009.
Erst einmal muss ich meine Zigarette ausmachen ?

Dies war vielleicht seine zwanzigste Zigarette seit dem frühen Abend. Er bekam kaum noch Luft. Seine Zunge und sein Mund hatten den Geschmackssinn verloren.

Schau, wie die zersprungenen Fensterscheiben schwitzen. Was für eine Stille! ?

Der Türklopfer durchbrach mit jedem Schlag das Geräusch des Regens. Regen, nichts als Regen, und der Aufprall der Tropfen auf das alte, verrostete Blechdach war so monoton, dass er selbst zu einem Teil der Stille geworden war.

In all den langen Tagen meines Lebens habe ich nur ein einziges
Mal die Dächer in der Dämmerung gesehen. Ich erinnere mich genau ? In der Dämmerung nach dem Regen, kurz vor Sonnenuntergang, leuchten die ockerfarbenen Dächer in trauriger Schönheit. Es war in der Zeit, als die ersten weißen Haare an seinen Schläfen sichtbar wurden. Damals war sein Gang noch aufrecht, er schritt mit erhobenem Haupt und spürte den Boden unter den Füßen. Er war noch nicht gealtert, verbraucht, sein Gesicht war noch nicht runzelig geworden, die Falten und Furchen der Angst und Enttäuschung hatten sich noch nicht in seine Stirn gegraben.

Meine Herren, ich muss doch zuerst meine Zigarette ausmachen,
dann aufstehen, meinen Regenmantel um die Schultern legen, erst dann kann ich die Tür öffnen. Klopft ruhig weiter, wer immer ihr seid. Schon seit Jahren habe ich keine gute Nachricht mehr erhalten, und auch jetzt zu dieser ungastlichen Stunde mitten in der Nacht erwarte ich keine frohe Botschaft. Lass mich schauen. Wenn diese alte Uhr nicht nach- oder vorgeht, ist es halb vier. Schau, wie die zerbrochenen Fensterscheiben schwitzen ? Nur zu, klopft weiter, eine Lieben, klopft, bis sogar die Toten aufwachen. Aber solange ich meinen Regenmantel nicht umgehängt und meine Pantoffeln nicht angezogen habe, werde ich nicht über die Terrasse in den Hof gehen. Ihr seht doch, dass es wie aus Gießkannen regnet ? Ich muss die elektrische Deckenlampe der Terrasse anmachen, bevor ich die Stufen hinabsteige. Wollt ihr denn, dass ich im Dunkel ausrutsche, hinfalle und mir die Schulter ausrenke? ? Ich komme schon. Hoffentlich brennt kein Licht in Amirs Zimmer im Keller. ? unbedingt Ruhe bewahren und beim Öffnen der Tür nicht überrascht und ängstlich wirken. Kein Zittern in den Augenwinkeln und ums Kinn, auf keinen Fall! Aber ich habe keine Kontrolle über das Zucken an meinem linken Auge. Sobald ich mich auf etwas konzentriere, geht es wieder los. Das kann ich nicht verhindern.

"Ja, meine Herren ? Ich komme ja schon ? Nur ein wenig Geduld!"

Er fragte nicht, wer da mitten in der Nacht an seiner Tür klopfte, nicht weil es ihm an Mut fehlte. Nein, das war es nicht. Eine solche Frage konnte ohnehin nichts ändern. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt: An einer geschlossenen Tür wurde mitten in der Nacht nie ohne Grund geklopft.

Es gibt keinen Ausweg ? Tief Atem holen ? Und lieber nicht überlegen, wie viele Zigaretten ich in den letzten vierundzwanzig
Stunden geraucht habe. Fest bleiben und jetzt keine Entscheidungen treffen, die völlig undurchführbar wären. Ich muss beim Öffnen der Tür meine Nerven im Zaum halten. Mein unruhiges Atmen könnte als Zeichen der Angst gedeutet werden, also tief durchatmen und dann mit größter Gelassenheit die Tür öffnen.

"Herr Colonel!"

"Ja, meine Herren."

"Sind Sie es, Herr Colonel?"

"Ja, mein Herr, wer sollte es sonst sein?"

"Warum öffnen Sie nicht die Tür?"

"Sofort, ich werde gleich aufmachen. Ich suche doch den Schlüssel. Hier, hier ist er. Ich habe ihn gefunden. Aber nein, das ist der Schlüssel für die Truhe. Ich muss gehen und den richtigen Schlüssel suchen. Bitte verzeihen Sie, es dauert nur noch einen Augenblick."

Wo habe ich ihn bloß hingelegt? Auf den Sims oder auf den Tisch? Ich stecke doch den Schlüssel immer in die Tasche. Für alle Fälle. Seit dem Nachmittag habe ich das Haus nicht verlassen, brauchte also auch nicht meine feuchten Kleider zu wechseln. Es kann natürlich sein, dass ich den Schlüssel zusammen mit dem Rosenkranz und dem Feuerzeug - dem Benzinfeuerzeug aus Deutschland, das nicht mehr funktioniert - auf den Sims über dem Kamin, neben dem Foto vom alten Colonel
gelegt habe. Ja, richtig ?

Tatsächlich, der Schlüssel lag dort, genau vor den schwarz glänzenden Stiefeln des alten Colonels, neben dem Passbild von Mohammad Taghi, das der für seinen Führerschein hatte machen lassen. Seit mehr als zwei Jahren, vielleicht auch seit drei Jahren, stand dieses Foto neben den schwarz glänzenden Stiefeln des alten Colonels. Denn der Colonel wollte sich so an den Anblick seines Sohnes gewöhnen.

Ja, ich muss mich wieder an den Anblick meiner Kinder gewöhnen ?

In der Tat war dieser Entschluss aus einem Bedürfnis entstanden, sich vor etwas zu schützen. Er hatte das Foto seines Sohnes in seinem Blickfeld aufgestellt, wie um sich zur Wehr zu setzen, sich zu wappnen gegen etwas, das aus der Tiefe seines Herzens heraus in seinen Schädel eingedrungen war. Solange das Foto Mohammad Taghis vor seinen Augen stand, würde er nicht Gefahr laufen, von Erinnerungen an den Jungen überwältigt zu werden. So hoffte er zumindest. In Wirklichkeit diente der ständige Blick auf das Foto zur Abwehr gegen etwas, das ihn vernichten wollte. Abwehr gegen alles, was ihn bedrohte, war ihm zur Gewohnheit geworden. Es war wie beim Militärmanöver. Oder im Krieg. Im Krieg erzielen nur Überraschungsangriffe eine vernichtende Wirkung, und wer vorbereitet ist, kann sie erfolgreich abwehren.

Wahrscheinlich hatte er mit derselben Absicht das große Foto, das den alten Colonel in voller Gestalt zeigt, über ein halbes Jahrhundert vor Augen gehabt, und er hatte den Wunsch, ja die Sehnsucht, auch das Foto seiner Frau unter die Schwertspitze des Colonels, in die linke Ecke des Bilderrahmens zu klemmen, um es ständig vor sich zu sehen.

Aber ich schaffte es nicht, und ich kann es immer noch nicht ?

Das Foto von Parwaneh hingegen stand schon eine Weile unter den Stiefeln des alten Colonels. Er hatte es, nachdem Parwaneh drei Tage und Nächte nicht nach Hause gekommen war, im rechten Winkel neben dem Foto von Mohammad Taghi platziert. Das war vor zwei Monaten gewesen, und seither hatte er versucht, sich an den Anblick seiner Tochter zu gewöhnen, auch an das Foto von Masud, den man Masud den Kleinen nannte, ja, den Kleinen. Vielleicht weil er schwarze,
buschige Augenbrauen und eine kleine Stirn hatte. Die Kinder hatten ihn "den kleinen Wilden" genannt.

"Jetzt habe ich den Schlüssel gefunden, gerade eben habe ich ihn gefunden. Gleich mache ich die Tür auf, sofort. Seien Sie willkommen, treten Sie ein. Ich wünsche einen guten Abend."

Da war er wieder, dieser fahle Lichtstrahl, der, vom Märtyrer-Denkmal am Ausgang der Gasse kommend, das Gesicht des Colonels wie im Mondschein erhellte. Er fiel von hinten auch auf die zitronenfarbenen Anoraks der beiden Männer. Vermischt mit den Regentropfen, hatte sich der Lichtstrahl wie weißer Staub auf die Schulterblätter und den Rand ihrer Kapuzen gelegt und beleuchtete die Silhouetten der Besucher, sodass der Colonel erkennen konnte, dass beide Männer jung und bewaffnet waren. Vielleicht war das der Grund dafür, dass
der Colonel seine eigene Stimme nicht hören konnte - unwillkürlich
wiederholte er den Gruß, blieb unterwürfig stehen, wartete, bis die beiden jungen Männer sagten, was sie wollten, um dann ihren Anweisungen zu folgen.

Einer von ihnen holte schließlich aus der weiten Tasche seines
Anoraks eine Taschenlampe heraus, und obwohl das kalte Licht des Märtyrer-Denkmals das Antlitz des Colonels erhellt hatte, richtete er den starken Lichtstrahl der Taschenlampe auf dessen Gesicht, schwenkte dann den Strahl im verregneten Hof herum, und bevor das Licht aufs Wasser des Beckens fiel, richtete er den scharfen Strahl genau auf die feucht gewordenen Pantoffeln des Colonels. Dann schaltete er die Taschenlampe aus. Vielleicht wollte er auf eine Entscheidung oder Handlung seines Kollegen warten.

Der Colonel war von Kopf bis Fuß erfüllt von Fragen. So wie er im Regen stand, mit gespreizten Schultern, dem Buckel im Rücken und erstarrtem, verängstigten Blick, sah er aus wie ein von ungeschickter Hand gekritzeltes Fragezeichen. Er hatte sogar die Höflichkeitsfloskeln, die traditionell zur Begrüßung ausgetauscht werden, vergessen. Er starrte nur auf die jungen Männer, die immer noch wortlos an der Tür standen und im regengesättigten Lichtstrahl des Märtyrer-Denkmals nach irgendetwas zu suchen schienen.

Was ging ihnen wohl durch den Kopf? Mehr als diese Frage beschäftigte den Colonel - abgesehen von der Angst, die wie ein Strom ständig durch sein Innerstes floss - die Feststellung, dass die beiden Jungs im selben Alter waren wie Mohammad Taghi und dessen jüngerer Bruder. Mohammad Taghi war, als er im Februar 1979 starb, einundzwanzig Jahre alt, und Masud müsste, sollte er noch am Leben sein, jetzt sechsundzwanzig geworden sein.

Was hätte ich tun sollen? Was? Es hätte doch keinen Sinn gehabt. Nein, ich konnte nichts tun. Alles war mir aus den Händen geglitten. Die Kinder waren erwachsen, jeder von ihnen eine eigenständige Person. Sie brauchten nicht mehr auf mich zu hören. Hätte ich ihnen befehlen können, sich nicht so zu ereifern? Schließlich war die Revolution ausgebrochen, die Revolution. Und in Zeiten der Revolution sucht jeder seinen eigenen Vorteil. Es sei denn, man ist noch jung. Junge Menschen haben nicht nur ihren Vorteil im Auge. In der Revolution suchen sie ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Lebenswahrheit. Und natürlich, nichts weckt bei Jungen so viel Leidenschaften wie eine Revolution. Wie die Taube, die zur Sonne fliegt, so hoch, bis sie verbrennt. Ein solcher Akt ist für die Jugend der Gipfel der Wahrheit. Genau das ist meinen Kindern widerfahren, die Revolution hat sie mir geraubt. Ich habe keine Ahnung, wohin und wie hoch sie fliegen und ob sie nicht längst verbrannt sind. Wehe, wehe den Nachbarn, den Mitbürgern, den Landsleuten, wenn diese Jugendlichen von ihrem hohen Flug, von der Grenze des Verbrennens zurückkehren und mitten in einer Welt voller List und Verlogenheit ihre Wahrheit finden wollen? Dann ? Dann werden die glühenden Fetzen ? die geschmolzenen Fetzen ? Ein Strom aus Feuer und Glut ?

"Meine Söhne ? Meine Kinder! ? treten Sie bitte ein, Sie brauchen nicht im Regen zu stehen. Das schickt sich nicht."

Was hätte der Colonel anderes sagen können? Selbst wenn die beiden ihm ihre Ausweise nicht gezeigt hätten, hätte er sie ins Haus hereingelassen. Es war nicht zu verhindern.

Die Wahrheit ist, dass ich Angst habe, seit Langem plagt mich die Angst ?

Vielleicht hätte er die Tür gar nicht abzuschließen brauchen. Wäre sie offen gestanden, wäre dasselbe geschehen, was jetzt geschehen war. Aber das Abschließen der Haustür war inzwischen zu einem Teil seiner Natur geworden. Es war keine bewusste Handlung mehr, kein Versuch, irgendetwas zu schützen.

Nein, es war eine Gewohnheit, gewachsen aus Angst.

Teil 2