Vorgeblättert

Leseprobe zu Navid Kermani: Kurzmitteilung. Teil 2

08.02.2007.
Mit Korinna hatte ich da schon drei Abende verbracht, abgesehen von ihrem anfänglichen Besuch in Cadaques. Sie war die Attraktivere von beiden, Anfang dreißig erst, von kleinem, aber makellosem Wuchs, lange braune Haare, das schmale Gesicht so dezent geschminkt, daß man das Puder erst spät entdeckte. Die Nase gefiel mir am besten, stupsig wie bei einem Mädchen. Ihre bevorzugte Garderobe aus Männerhemd, Jeans und edlen Sandalen kündete davon, daß sie alles, bloß keine Geschäftsfrau sein wollte. Ihrer Sehnsucht nach Unkonventionellem und geistig Höherstehendem, von der mir nicht klar war, ob sie einem inneren Antrieb entsprang oder sich dem Vorbild ihres Vorstandsvorsitzenden verdankte, kam ich mit meiner Künstlerexistenz und dem Dandyhaften meines Lebens entgegen. Schon als wir uns das erste Mal in Köln wiedersahen, offenbarte sie mir ihre persönlichen Nöte, die mir um nichts wesentlicher oder unwesentlicher erschienen als die Nöte der meisten Mitmenschen, beißende Einsamkeit, die weder zu beantwortende noch abzuwehrende Frage nach dem Wozu-der-ganze-Scheiß, der Eindruck, das eigentliche Leben sei anderswo. In ihrem Fall kam noch der uneingestandene, in der Emphase, mit der sie das soziale und ökologische Engagement ihres Vorgesetzten erwähnte, jedoch unüberhörbare Schuldkomplex hinzu, Propagandistin zu sein für einen Weltkonzern, der vermutlich alle möglichen und also auch die schmutzigsten Geschäfte betrieb. Ich weiß nicht, ob sie mit mir geschlafen hätte; es war mir zu früh, es auf den Versuch ankommen zu lassen. So dringend war mein Verlangen nicht, daß ich bereit gewesen wäre, die Arbeit durch etwaige Komplikationen zwischenmenschlicher Art zu gefährden. Wahrscheinlich hatte sie sich mir auch deshalb so rasch geöffnet, weil sie wahrnahm, daß ich mich für sie interessierte, ohne gleich eine Affäre beginnen zu wollen. Damit entsprach ich noch mehr ihrem intellektuellen Anspruch, dachte ich spöttisch, nachdem ich sie nach unserem ersten Wiedersehen vor ihrem Auto abgesetzt hatte, einem Ford Ka Cabrio, ein erstaunlich bescheidenes Modell für die Leiterin der Abteilung Kommunikation und Öffentlichkeit, wie ich fand. Maike Anfang war anders. Sie war größer als Korinna, bestimmt ein Meter achtzig, und fast in meinem Alter, Ende dreißig. Bei der Präsentation trug sie, was in den mittleren Etagen eines Großkonzerns vermutlich am wenigsten auffällt, eine beige Hose aus glattem Stoff, darüber ein hellblaues, langärmliges Shirt aus gestrickter Baumwolle. Das Gesicht war eindeutig zu breit, ja beinah rechteckig, mit einem Mund, der im Verhältnis viel zu klein war. Um so verlorener ragte die schmale Nase hervor. Die dunkelbraunen, beinah schwarzen Locken, die weit ins Gesicht fielen, konnten an dem Eindruck nichts ändern, daß dem lieben Gott beim letzten Schliff ihrer Schöpfung die Hand abgerutscht sein mußte. Als ich sie später wiedersah, gefiel mir ihr Körper, der schlank, aber nicht durchtrainiert schien, mit Brüsten, die ich gern in den Händen gehalten hätte. Mir gefielen auch die übergroßen Augen mit ihrer grüngrauen Iris, der warme Blick, die Genauigkeit, mit der sie mich betrachtete und mir zuhörte, die zwei Sekunden Verzögerung, mit denen sie mir antwortete, als würde sie jedes einzelne meiner Worte noch einmal bedenken. Ich merkte rasch, daß sie mir gar keine besondere Beachtung schenkte, sondern alles ernst nahm, was um sie herum geschah. Auf Korinna schaute sie mit den gleichen Augen, und selbst Rolf betrachtete sie wie eine Wissenschaftlerin das Objekt ihrer Forschung oder wie ein Kind die Welt, wenn er den Whisky einschenkte. Das fiel mir am deutlichsten an ihr auf: wie sie blickte. Korinna hatte mich am Abend nach der Präsentation angerufen, um mir vom Lob der Kollegen zu berichten, und wir hatten verabredet, noch einmal Essen zu gehen, bevor ich für den Sommer nach Cadaques verschwände. Als ich in der darauffolgenden Woche das französische Restaurant in der Südstadt betrat, das ich vorgeschlagen hatte, ein Block entfernt von meiner Wohnung in der Merowingerstraße, sah ich Maike Anfang. Korinna hatte ihr vorgeschlagen mitzukommen; ich sei ein netter Typ, und außerdem könne es bestimmt nicht schaden, wenn sie mich schon einmal kennenlerne, bevor im September die Vorbereitung für die Abschiedsfeier beginne. So jedenfalls überlieferte Korinna mir ihre eigenen Worte. Die Erklärung änderte nichts (und sollte vielleicht nichts ändern) an meiner Konsternation darüber, daß Korinna durch ihre Begleitung die Möglichkeit einer intimeren Beziehung zwischen uns beiden auszuschließen schien. Nicht daß ich daran interessiert gewesen wäre zu dem Zeitpunkt ? mir mißfiel nur zu erfahren, daß sie nicht interessiert war. Andererseits hielt ich es in der Tat für günstig, Maike Anfangs Bekanntschaft außerhalb des Büros zu machen. Genau daran hatte Korinna wahrscheinlich gedacht, die Abschiedsfeier, nichts weiter, fiel mir ein, unschlüssig darüber, ob mich das Fehlen eines Hintergedankens befriedigte. Während des Essens war ich es, der die meiste Zeit redete, über meine Vorstellungen für den Abend, über meine Projekte und die Künstler, die ich verehre, über Iran und meine Familie. Hier und dort flocht Korinna in meinen Monolog eine Begebenheit aus ihrem Bekanntenkreis oder dem Konzern ein. Maike Anfang stellte nur gelegentliche Fragen. Obwohl mir die Konstellation zu dritt nicht behagte und mir zudem die Themen ausgingen, lud ich die beiden nach dem Dessert noch zum Whisky in die Kneipe hinterm Chlodwigplatz ein, mit der ich Geschäftspartner gern angenehm schockiere. Es ist schäbig und ehrlich, die reine Exotik für Damen aus dem Geschäftsbereich Kommunikation und Öffentlichkeit der Ford AG, mögen sie sich noch so lässig geben mit ihren Bluejeans und den weiten Hemden. Rolf ist Rock'n'Roll, Rolf, der sieben Tage die Woche hinter der Theke steht, nicht etwa der Firlefanz, den ich mir für die Abschiedsfeier von Patrick Boger ausgedacht hatte. Ich hatte einen Rosebank bestellt, wegen seines sanften Abgangs die beste Wahl für den ersten Single Malt im Leben. Maike Anfang schmeckte der Whisky wirklich. Wo Korinna die Kennermiene aufsetzte, mit einem Schluck das halbe Glas austrank und mit einem Klasse! auf den Lippen zum nächsten Thema überging, ließ sie dem Getränk Zeit, sich in ihrem Körper auszubreiten. Wie ich es oft bei Menschen beobachtet habe, die beim ersten echten Whisky wachsam genug sind, den Geschmack noch bis in die Unterarme und Pofalten hinein wirken zu lassen, veränderte sich ihre Stimmung wie auf Knopfdruck. Sie sei seit Jahren nicht mehr in einer Kneipe oder Tanzen gewesen, begann sie zu erzählen - und wie oft sie früher ausgegangen sei. Sie sprach zum ersten Mal von sich. Ich erfuhr, daß sie exakt zur selben Zeit studiert hatte wie ich, Theaterwissenschaft im Hauptfach, mit Dissertation über das mittelalterliche Passionsspiel. Meine Eltern kommen aus Iran, und ich hatte auch einmal einen Aufsatz über das schiitische Passionsspiel gelesen, so daß wir den kurzen Rest des Abends über religiöse Formen des Theaters diskutierten und welche Relevanz sie heute haben. Nach dem dritten Whisky brachte ich die beiden noch zum Taxistand am Chlodwigplatz. Sie fuhren in entgegengesetzte Richtungen. Die beiden Frauen küßten sich zum Abschied auf die Wangen, ebenso Korinna und ich, und dann gab es einen Augenblick, in dem Maike Anfang und ich uns gegenüberstanden und uns fragten, ob wir uns auch auf die Wangen küssen sollten. Unserem Verhältnis angemessen wäre ein Händedruck gewesen, immerhin redeten wir uns noch beim Nachnamen an. Aber nun hatten wir beide Korinna geküßt und uns außerdem beim Whisky schließlich doch mehr als nur geschäftsmäßig unterhalten. Also ergriff ich zwar die Hand, die sie mir mit zwei Sekunden Verzögerung reichte, aber näherte meinen Mund ihrer rechten Wange, wenngleich so langsam, daß ich beobachten konnte, ob auch sie ihren Kopf zu mir herüberbeugte. Sie tat es. Danach schauten wir uns verlegen an, lächelnd. Sie wünschte mir nochmals eine schöne Zeit in Cadaques und bekräftigte, sich auf die Zusammenarbeit zu freuen. Ich solle mich melden, sobald ich zurück sei. Das war am 23. Juni 2005. Eine Woche später saß ich im Thalys nach Paris, wo ich in den TGV nach Montpellier umstieg. In Portbou nahm ich mir ein Taxi, wie immer. Am 10. Juli erreichte mich Korinnas SMS. Der Junge verschwand aus meinem Blickfeld, ohne daß ich die Eltern ermittelt hatte. Plötzlich hörte ich das Gekrächze von Möwen, obwohl die Promenade voll war mit lachenden, lärmenden Menschen. Ich blickte zum Himmel und fing an zu beten. Ich bin nicht gläubig, aber wenn ich etwas Wichtiges vorhabe oder jemand gestorben ist, spreche ich die Fatiha, die erste Sure des Korans, obwohl ich mich gar nicht mehr genau an den Sinn erinnere. Es hat nichts mit Frömmigkeit zu tun. Die arabischen Verse liegen gut auf meinen Lippen und helfen mir über die Sekunden hinweg, in denen ich nicht weiß, was ich tun oder denken soll. Um zu trauern, kannte ich Maike Anfang zu wenig. Seit ich in Cadaques war, hatte ich drei oder vier Mal an den Abend mit ihr und Korinna gedacht, vor allem an den Augenblick, in dem wir uns gegenüberstanden, unschlüssig darüber, ob wir uns zum Abschied küssen sollten. An andere Menschen hatte ich viel öfter gedacht. Dennoch scheute ich mich, ohne Umstand zur Ordnung meines Tages überzugehen, zur Pasta mit Meeresfrüchten, die mir gleich serviert würde. Ich wählte noch einmal Korinnas Nummer, wartete diesmal, bis sich ihre Mailbox meldete, und bat sie zurückzurufen, sobald sie dazu in der Lage sei. Danach stand ich auf, hielt Ausschau nach dem Kellner und setzte mich wieder, weil ich ihn nicht auf Anhieb entdeckte. Maike Anfang war aus dem Leben radiert worden, und etwas in mir sperrte sich dagegen, die Leere zu übersehen, die sie hinterlassen hatte, nicht weil ich mit ihr befreundet oder sie mir bis dahin wichtig gewesen wäre, sondern weil ich klar vor Augen hatte, daß es genausogut Korinna oder mich oder Patrick Boger oder einen der Menschen, an die ich viel öfters dachte, hätte treffen können, meine Eltern, meine Schwester Minu, meine Freunde, die Frauen, die anders als Korinna mich tatsächlich interessierten. Korinnas SMS ließ auf kein Verbrechen schließen, nicht einmal auf einen Unfall. Bei Alten und Kranken greifen die Mechanismen, mit denen ich mir den Tod vom Leibe halte. Wenn jemand im Krieg stirbt oder bei einem Erdbeben, bleibt er abstrakt genug, um nicht an mein eigenes Sterben zu erinnern. Aber wieso stirbt jemand wie Maike Anfang, dachte ich - wieso stirbt jemand einfach so? Wenn ihr Tod ohne Grund war, mußte es auch mein Leben sein. Ich schämte mich, die Pasta, die mir der Kellner inzwischen serviert hatte, mit dem gleichen Appetit zu essen, wie wenn Maike Anfang nicht gestorben wäre. Ich wollte mir einbilden, daß mir das Essen nicht schmeckte oder ich wenigstens ohne Hunger äße, aber so ehrlich war ich zu merken, daß es die gleiche Pasta war, der gleiche Wein, das gleiche Restaurant, die gleichen Passanten, der gleiche, vermutlich deutsche Junge, der irgendwo auf der Promenade von Cadaques auf seinem Fahrrad mit Stützrädern fuhr, die gleichen Eltern, die ich nicht erblickt hatte, der gleiche Mensch, der all dies beobachtete, hörte, roch, schmeckte und für den es überhaupt kein Unterschied zu sein schien, ob an einem anderen Ort ein anderer Mensch, den er und nur er unter allen Bewohnern Cadaques? kannte, jetzt in Köln im Kühlfach eines Leichenschauhauses lag. Spätestens morgen früh, nein, wahrscheinlich schon beim Schnaps löste Maike Anfangs Tod nicht mal mehr ein Stechen im Brustkorb aus, war ihr Leben geronnen zur bloßen Erinnerung, die schnell zu verblassen und sich spätestens nächstes oder übernächstes Jahr vollständig aufzulösen versprach, entsprechend der Skala, nach der wir trauern. Wenn nicht engste Angehörige gestorben sind, berechnet sie die Zeit unserer Erschütterung in Minuten. Für Zufallsbekanntschaften wie Maike Anfang begnügt sie sich auch mit Sekunden.

Leseprobe Teil 3
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