Vorgeblättert

Leseprobe zu R. Larry Todd: Felix Mendelssohn Bartholdy, Teil 1

Weitgehend unbekannt ist, dass Felix Mendelssohn eine Kantate zu Ehren des Naturforschers Alexander von Humboldt geschrieben hat. Sie wurde 1828, ein Jahr vor der berühmten Wiederaufführung der Matthäus-Passion, vor illustrem Publikum uraufgeführt - und schnell vergessen (auch wenn sie in der DDR für eine der seltenen Wiederaufführungen, wie Todd darlegt, leicht gefälscht wurde). Mendelssohn war zu dieser Zeit 19 Jahre alt. Humboldt war 1827 nach langem Aufenthalt in Paris nach Berlin zurückgekommen. (D.Red.)

IV

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Ursprünglich konnte sich der weit gereiste Wissenschaftler seines Willkommens in der Heimat nicht sicher sein, da einige Mitglieder des Adels ihn für frankophil hielten; diese Bedenken konnte er jedoch im November durch eine geografische Vortragsreihe an der Universität zerstreuen. Diese Vorträge, die sich bis in den April 1828 hinein erstreckten, bildeten später das Fundament seines Meisterwerkes, des Kosmos, dem 2000 Seiten starken "Entwurf einer physischen Weltbeschreibung". Ihr Erfolg ermutigte Humboldt zu zusätzlichen öffentlichen Vorträgen an der Singakademie. Hier versammelten sich in einem für die Zeit äußerst ungewöhnlichen Forum Mitglieder des Königshauses, Aristokraten, Bürger und Frauen, unter ihnen auch Fanny Mendelssohn. "Die Herren mögen spotten, soviel sie wollen", schrieb sie, "es ist herrlich, daß in unseren Tagen uns die Mittel geboten werden, auch einmal ein gescheites Wort zu hören".

Humboldt wollte dem Einfluss der "Naturphilosophen", unter ihnen auch Hegel, entgegenwirken, die die Natur a priori durch reines Nachdenken zu verstehen suchten, d. h. ohne Zuhilfenahme empirischer Methoden. Eine neue Gelegenheit zur Umsetzung seiner Vorstellungen bot sich im September mit der staatlichen Erlaubnis für die Organisation einer internationalen Tagung von Naturwissenschaftlern und Ärzten. 600 Wissenschaftler versammelten sich in Berlin, unter ihnen der Engländer Charles Babbage, der 1833 den Prototypen einer Rechenmaschine entwickeln sollte, und das Mathematikgenie Carl Friedrich Gauss, der Humboldts Interesse für den Erdmagnetismus weckte. Professor Jarocki reiste aus Warschau in Begleitung des introvertierten 18-jährigen Musikers Frederic Chopin an, der Felix zwar sah, jedoch zu unsicher war, ihn auch anzusprechen. Zur Eröffnung in der Singakademie am 18. September 1828 dirigierte Mendelssohn seine Kantate, und Humboldt hielt eine Ansprache über den sozialen Nutzen der Wissenschaft.

Der von Ludwig Rellstab verfasste Text der Kantate zeichnet den Fortschritt der natürlichen Welt vom Chaos zur Ordnung nach. In der Mitte des Werkes unterbricht die Stimme der Vernunft den Kampf der Erde gegen die tosenden Elemente, und das Licht der Wahrheit wirkt dem Kampf entgegen. Danach arbeiten die widerstreitenden Kräfte zusammen "und bilden und bauen die herrliche Welt"; Gott wird gebeten: "Ja, segne Herr, was wir bereiten, / was die vereinte Kraft erstrebt" (Bsp. 6.12).

Bsp. 6.12: Mendelssohn, Humboldt-Kantate (1828)



In einem Brief an Klingemann kommentierte Fanny die ungewöhnliche Besetzung des Stücks für Männerchor, Klarinette, Hörner, Trompeten, Pauken, Celli und Kontrabässe: "Da das Naturforscher-Paradies ein frauenloses, mahomedisches ist, so besteht der Chor nur aus den besten Männerstimmen hiesiger Residenz." Mit seiner Entscheidung für einen Männerchor griff Mendelssohn den Klang und die Tradition der Männergesangsvereine in Berlin auf, zu denen auch Zelters Liedertafel gehörte, die 1809 während der französischen Besetzung gegründet worden war. Die in sieben Chöre, Solonummern und Rezitative disponierte Komposition beruft sich dementsprechend im Vergleich zur Dürer- Festmusik weniger auf die Vorbilder Händels und Bachs, sondern vielmehr auf die Männerchöre in Webers Freischütz, der eine Form des deutschen Patriotismus transportiert, die nicht so sehr mit dem Hof als mit der gebildeten Mittelschicht verbunden ist.

Als Gelegenheitskomposition geriet die Humboldt-Kantate schnell in Vergessenheit, erfuhr allerdings noch ein sehr seltsames politisches Nachleben: Zum 100. Todestag des Wissenschaftlers wurde die Kantate 1959 in der DDR wieder aufgegriffen, und in der ostdeutschen Zeitschrift Musik und Gesellschaft erschien ein Artikel, in dem man Zitate aus Rellstabs Text so retuschierte, dass sie den Bedürfnissen eines antikirchlichen Staates entsprachen. So wurde etwa aus dem ursprünglichen Schlusschor "Ja, segne Herr, was wir bereiten" in dieser Version "Ja, schützet nun, was wir bereiten". Die Reaktion Alexander von Humboldts auf die Premiere 1828 ist nicht bekannt, obwohl die Konferenz ihn den Mendelssohns näherbrachte. Auf Drängen von Gauss widmete Humboldt sich erneut der Beobachtung magnetischer Phänomene und errichtete im Garten der Leipziger Straße 3 eine Kupferhütte. Während Mendelssohn im Gartensaal die Matthäuspassion einstudierte, zeichneten Humboldt und seine Kollegen Veränderungen im Magnetfeld auf; zeitgleich wurden diese Messungen auch in Paris und auf dem Grund eines Bergwerksstollens in Freiberg durchgeführt. Innerhalb weniger Jahre wurde das, was im Mendelssohn?schen Garten als bescheidenes Labor angefangen hatte, Teil einer "Kette von geomagnetischen Observationsstationen" mit weltweiter Ausdehnung, ein frühes Beispiel für den internationalen wissenschaftlichen Austausch.

Teil 2