Vorgeblättert

Leseprobe zu Sebnem Isigüzel: Am Rand, Teil 1

Lassen Sie uns, mit Ihrem Einverständnis, von jenem Tag zu dem Moment zurückkehren, in dem Haluk mit verdrehten Augen im Ehebett lag! Wir haben diesen besonderen Augenblick schon lange auf Leylas Gedächtnismüll beiseitegelegt. Wir haben sogar von dort aus begonnen, den Erinnerungsabfall zu durchwühlen. Leyla stand an der Tür und neben ihr der Koffer mit einem inzwischen kaum noch zu erkennenden Fleck, von dem wir inzwischen erfahren haben, dass es sich um einen Blutfleck handelte. Leyla war ganz Ihrer Meinung, was den Grund anging, warum sie vom Flughafen zurückgeschickt worden war. Ihr Schwiegervater hatte von ihr verlangt, das Schachspiel, das er als "Kommunistenspiel" bezeichnete, aufzugeben, genau wie er von seinem Sohn Haluk verlangte, das Trinken zu unterlassen. Als er sich 1983 in den Kopf setzte, eine politische Karriere in der Partei Turgut Sunalps zu beginnen (er war die Person, die dafür verantwortlich war, dass bei den Folterungen nach dem Putsch vom 12. September anstelle von Gummiknüppeln Soldaten eingesetzt wurden, die hart wie Stahl waren), war seine erste Handlung gewesen, diese heruntergekommenen Gestalten aus dem Hotel Bebek zu erlösen und ihnen ein Nest einzurichten, das einem Politikersohn angemessen war. Wann immer nötig, posierte man als Familie. Für die Frauenbeilage einer Zeitung bereiteten Nergis Hanim, die Gattin des Kandidaten für das Parlament, und ihre Schwiegertochter Leyla "unser Essen des Tages" zu und ließen sich in der Küche ablichten, in Schürzen, die sie zum ersten Mal in ihrem Leben umgebunden hatten. Passend zu der Provinz, in der kandidiert wurde, machten sie Pifi kili Pilav, eine Spezialität mit Weizenschrot aus Erzincan.
     Wer aber war diese Leyla auf dem Foto über dem Rezept des Reisgerichts? Keine einzige Zeitung erwähnte, dass Leyla 1969 mit ihrer Familie nach Moskau übergesiedelt war, weil ihr Vater dort als Beamter in die türkische Botschaft versetzt worden war; dass sie im gleichen Jahr auf einem Brett, das sie im Zimmer ihres Vaters gefunden hatte, begonnen hatte, gegen sich selbst Schach zu spielen; dass sich in kurzer Zeit ihre außergewöhnliche Begabung herausgestellt hatte und sie 1973 zu den Übungsseminaren des Weltmeisters Botwinnik zugelassen worden war; dass sie zugleich mit Kasparow dort gelernt und sich 1978 für die sowjetische Schachmeisterschaft qualifiziert hatte; dass sie aufgefallen war, weil sie sich geweigert hatte, in der Frauenliga zu spielen, und dann hinter Kasparow Zehnte geworden war; dass ihr dann aber der Rang aberkannt worden war mit der Begründung, sie sei keine Sowjetbürgerin; dass ihretwegen das Regelwerk des Turniers geändert worden war, weil Botwinnik Einspruch erhoben und gesagt hatte, es gebe keine Regel, die die Staatsangehörigkeit bestimme; dass sie 1981 die Staatsbürgerschaft beantragt hatte, um an der Meisterschaft teilnehmen zu können; dass ihre Eltern ihr Leben in einem geheimnisumwitterten Verkehrsunfall verloren hatten, kurz nachdem man Signale aus dem Kreml erhalten hatte, ihr Vater habe für die CIA gearbeitet; dass sie umgehend ausgewiesen worden war; dass sie im Schatten des 12. Septembers in ihrem eigenen Land Verhöre hatte über sich ergehen lassen müssen, wie sie sie in Russland nicht erlebt hatte; dass sie jahrelang beschattet und ihr Telefon abgehört worden war; dass sich ihre nahen Angehörigen nach ihrer Rückkehr in die Türkei gescheut hatten, sich mit ihr zu treffen; dass sie sich in das philosophische Seminar der Bogazici-Universität eingeschrieben, aber - da staatlicherseits für verdächtig befunden - keinen Platz im Studentenwohnheim gefunden und bis 1983 im Hotel Bebek gelebt hatte; dass sie ihr Studium abgebrochen hatte und mit berühmten Schachspielern aus aller Welt Briefpartien spielte.
     Der Schwiegervater, der in der Politik noch ehrgeiziger war als darin, junge Männer ins Elend zu stürzen und den Kommunisten an die Gurgel zu gehen, sagte immer: "Gott sei Dank, Gott sei Dank ist niemandem diese absonderliche Vergangenheit zugeflüstert worden." Aber auch: "Ach, der Nationale Nachrichtendienst hat all diese Informationen in seiner Hand. Die warten, bis ich Minister bin. Die lassen ihre Rachegelüste nur abkühlen."
     Es war einfacher, den Alkoholismus seines Sohnes zu verbergen: Beruhigungsmittel mit der Nebenwirkung, dass er impotent wurde, Tragbahren mit Gurten, die seiner Fixierung dienten, Paketbänder, die seinen Mund verschlossen, Aufputschmittel, die ihm den Boden unter den Füßen wegzogen, wenn er sich unter Leute begab, und natürlich die Ausrede, er sei Professor der Chemie und deswegen bei alldem Lesen, Arbeiten und Erfinden nicht von dieser Welt. Zur Untermauerung dieses Unsinns nichtsnutzige Formeln für Medikamente, die man Schweizer Laboratorien abkaufte. Dann die neuesten Erfindungen von Haluk Bulut, dem Sohn des pensionierten Generals Fahir Bulut, dem unvergessenen Namen der Notstandsregierung, Turgut Özals letztem Favoriten: eine Salbe gegen Glatzen, Tropfen gegen Blindheit, ein Serum gegen den Krebs, eine besondere Injektion für Gelähmte.
     Nachdem der Schwiegervater eine Vergangenheit nach Wunsch für seinen Sohn und seine Schwiegertochter geschaffen hatte, war die Zukunft an der Reihe: Die Frau des Parteivorsitzenden Turgut Özal hatte gemeint: "Nun, jetzt brauchen Sie einen Enkel!" Die Özals waren zum Tee in das Heim der Buluts in Istanbul gekommen. Es waren noch drei Monate bis zum Attentat auf Özal im gleichen Jahr. Als der sich zu Leyla umdrehte und sagte: "Ihr Vater war ein guter Diplomat, aber er hat bedenkliche Sachen gemacht", kam die Konversation zu einem Stillstand. Fahir Bulut schien bis zum Zerreißen angespannt und Nergis Hanim, die Schwiegermutter, atmete hörbar durch die Nase ein und aus. Da rückte die First Lady mit ihren kurzen, geschwollenen Fingern ihre pompöse Brille zurecht und schnitt in der Absicht, die Lage zu entschärfen, das Thema Enkelkinder an. Özal nahm sich ein riesiges Stück von der Schokoladentorte aus der Patisserie Divan und meinte: "Die Füllungen sind einfach wunderbar." Leylas Nase begann wieder zu bluten.
     Als Fahir Buluts Besucher, die seine politische Zukunft in Händen hielten, gegangen waren, und Leyla mit blutigen Tampons in der Nase und mit blutbefleckter Bluse in einer Ecke saß, zeigte der Schwiegervater, dessen Ehrgeiz unermesslich war, auf Haluk und meinte: "Kann dieser Schwachkopf ein Kind machen?"
     Haluk hatte sich sein zwanzigstes Glas Whisky eingeschenkt. Als ihm der Whisky aus den Mundwinkeln zu laufen begann, war das Bild vollendet, das seine Mutter um den Verstand brachte. Ein außerordentlich weichherziger Mensch hätte Fahir Bulut bemitleidet. Nach dem, was Özals Frau angedeutet hatte, glaubte er, er müsse einen Enkel haben, um Minister werden zu können. So dachte er laut vor sich hin: "Wenn wir die nach Amerika schickten, dann hier ein Baby auftrieben und es ihnen bei ihrer Rückkehr auf den Schoß setzten, wenn du dann ein schönes Kinderzimmer einrichtetest, wir Journalisten einlüden, und wenn es ein Junge wäre, den dann Turgut nennten ?" Nergis Hanim, deren Kartenspiel an jenem Tag hatte abgesagt werden müssen, wollte gerade sagen: "Sonst noch was?!" Da meinte Leyla, die den Kopf zurückgelegt hatte, weil sie noch immer blutete: "Wenn es statt Amerika Moskau wäre ?"
     "Bring mich nicht dazu, dein Moskau durchzuficken!" kann nicht als eine höfliche Antwort bezeichnet werden. Schwer zu sagen - vielleicht dachte Fahir Bulut, er selbst könne anstelle seines Sohnes seiner Schwiegertochter ein Kind machen.
     Ich stimme zu; jeder muss seine eigene Geschichte so erzählen, wie er das kann. Diesbezüglich können wir schließlich erwähnen, dass sich Fahir Bulut um die falschen Details kümmerte, wenn es um seinen politischen Erfolg ging.
     Ja, aber noch sind wir nicht zum Ende jenes Augenblicks im April 1988 gekommen, an dem Leyla auf der Straße landete. Sie steht da an der Tür und möchte wissen, warum man sie an der Reise nach Reykjavik gehindert hat. Sie ist sich völlig sicher, dass ihr Schwiegervater "Gib dieses kommunistische Spiel auf !" sagen oder "Kann man das nicht allein spielen?" fragen wird. Es gab in Leylas Gedächtnismüll eine Erinnerung, die sich entlang dieser Frage entwickelte, als sie zwölf Jahre alt und auf der Marmara-Insel war. Vielleicht wird Sie das wundern, aber Leyla gab auf diese Frage, als sie ihr Schwiegervater fragte, eine Antwort, die genau das Gegenteil von der war, die sie einst Yakup Dede gegeben hatte: "Im Schach braucht man wie in der Liebe einen Partner." Frage und Antwort entsprachen der Zeit unmittelbar nach den Tagen, in denen der Schwiegervater Pläne für einen Enkel schmiedete und sich daranmachte, Leylas Moskau zu ficken. Leyla schämte sich sehr dafür, diese Antwort gegeben zu haben, sie litt unter den spöttischen Blicken ihres Schwiegervaters und glaubte, sie habe ihm unfreiwillig und gegen ihren Willen ein Zeichen gegeben. Wie auch immer, Leyla hatte die Absicht, nach dem Schaukampf in Reykjavik gegen Kasparow nicht wieder zurückzukehren. Ihr Mann und sie verabschiedeten sich in der Nacht.
     "Geh", sagte Haluk, "rette dich aus der Hand dieses Faschisten!"
     In seinen blauen Augen zeichnete sich eine blutige Karte ab; und ängstlich änderte er seine Meinung: "Bleib hier! In einem ungültigen Universum hat keine Rebellion einen Sinn!"
     Leyla wollte, dass sie zusammen gingen. Sich zusammen befreien! Erst sagte Haluk "ja", dann sagte er "nein". Nach einer halben Flasche J&B lachend noch ein Ja, unter Weinkrämpfen und vielen Tränen, einer Mischung aus Cognac, Whisky und Raki: "Nein Leyla! Du bist ein winziges Land in der Hand eines Faschisten." Haluk nickte ein und wachte auf. Ohne einen Laut von sich zu geben, schaute er auf den Park vor ihren Augen, auf die Bäume. Ab und an war das freundliche Schmatzen seines Mundes zu hören, weil er schluckte, wenn er im letzten Moment darauf verzichtete, etwas zu sagen. Gerade stand er davor, in Tränen auszubrechen, da lachte er wie verrückt los, sagte, während er über den Maçka-Park hinweg auf den Bosporus schaute: "Lass uns wieder ins Hotel Bebek ziehen, Leyla! Er sucht in der ganzen Welt, kommt aber nie darauf, dass wir uns dort verstecken.
     Du wirst sehen, er kommt nicht drauf !"
     Leyla umarmte den durch Alkohol und seinen Vater ausgetrockneten Haluk. Ihr lieber Mann bewegte sich, als wolle er zwischen ihren Armen verschwinden.
     "Zweien, die für das Leben nicht taugen, muss so etwas ja passieren."
     Das hatte Dolch gesagt, als dieser Augenblick, dessen Sie gerade Zeuge geworden sind, aus dem Erinnerungsmüll gezogen und ihm präsentiert worden war. Die lebensuntaugliche Leyla hatte nicht mit der Wimper gezuckt, war zu ihrem Gatten gegangen, der sich auf das Ehebett geworfen hatte. Sie hatte ihn sich angesehen und gewartet. Am Morgen stand Leyla an der Tür des Schlafzimmers und ging dorthin, wo Haluks Kopf lag. Sie hielt ihre Hand über seine nackte Schulter und wollte ihn berühren. Die Kälte biss ihr in die Hand; und Leyla fröstelte.
     Haluk lag auf dem Bauch. Gerade so wie bei dem Mann auf dem Müll streichelte sie ihm über die Haare, die das Weichste waren, was sie in ihrem Leben je berührt hatte. Ein kalter Wind schien seine Haare berührt zu haben. Als verberge sich dieser Wind noch immer in seinen Haarwurzeln. Wieder blutete ihre Nase.
     Nachdem sie zurückgeschickt worden war, hatte sie den Mantel mit Fischgrätenmuster, der Nergis Hanims Geschmack entsprach, über einen Lehnsessel geworfen. Mit einer Hand hielt sie sich am Türgriff fest. Von dem Platz aus, an dem sie stand, konnte sie sowohl das Schlafzimmer sehen als auch die sich im Wohnzimmer gegenübersitzenden Lebensvertilger. "Lebensvertilger" war der Name, den Haluk mit zwölf Jahren seinen Eltern gegeben hatte. Er passte ausgezeichnet zu ihnen. Leyla bedauerte es, zurückgekommen zu sein. Als sie auf dem Flughafen an Gate 104 wartete, hatte sie über die Schultern der beiden Herren, die gekommen waren, um sie abzuholen, und ihr höflich die Waffen in ihrem Gürtel zeigten, den Bildschirm mit den Fluginformationen angesehen. Der Bildschirm hatte geflüstert und sogar angezeigt: "HALUK." Dann schlugen die einzelnen Buchstaben schwindelerregende Salti und brachten das Geräusch hervor, das wie das Schlagen von Flügeln klang. Aber da stand unverändert derselbe Name. Sie war umgekehrt, weil sie zu der Ansicht gekommen war, etwas sei passiert.
     "Aber", sagte der Präsident des türkischen Schachverbandes, "wohin gehen Sie denn, Leyla?"
     Er war der Autor der Schachecke der Zeitung Cumhuriyet, der bei allen Turnieren dabei war, und er fragte: "Werden Sie zum Gehen gezwungen, Leyla?"
     Es war, als habe ein Wind geweht, der ein alles Leben spurlos auslöschendes Gas in sich trug, wie ein das Universum durchziehendes Feuer mit verheerenden Auswirkungen. Das Leben, das Leyla noch vor sich hatte, würde den Rest ihres Verstandes vernichten. All die Menschen, die hinter ihr herblickten, die Welt, das Leben, wie es war, hatten aus vollem Hals geschrien. Dieses Geräusch war erstickt worden.
     So war sie lautlos bis zu jenem Punkt gekommen, von dem aus sie ihren auf dem Ehebett liegenden Mann und die im Wohnzimmer wartenden Lebensvertilger sehen konnte. Und gerade als sie die Hand auf den Türgriff legte, tat Nergis einen Schrei: "Sie hat aus allen Ärmelöffnungen die Markenetiketten weggeschnitten!"
     Da war Leyla klar geworden, dass sie wegen des Artikels in der Schachecke der Cumhuriyet, der an dem Tag erschienen war und sie in höchsten Tönen pries, einem Verhör unterzogen werden würde.
     Das dunkelblaue Wollkleid, das sie trug, hatte ihr die Schwiegermutter gegeben. An den Ärmeln hingen die Buchstaben "CD ", die für die Marke Christian Dior standen. Außerdem baumelten eigroße Perlen an den Ärmeln (es handelte sich um jenes Modell, aufgrund dessen Christian Dior von der Chanel des Kopierens bezichtigt worden war).
     Bei einem Schaukampf in Paris gegen Boris Spasski hatte sie dasselbe Kleid getragen. Die Riesengoldperlen, die von den Ärmelöffnungen baumelten, hatten den Großmeister, gegen den sie spielte, nervös gemacht.
     Spasski hatte das Brett mit der Begründung verlassen, seine Konzentration werde gestört. Leyla hatte sich geschämt. "Das Kleid war nicht meine Idee", hatte sie sich verteidigt; sie war ein Wirrkopf, der es im Leben nicht fertigbringt, sich auch nur eine Kleinigkeit zu kaufen; sie war eine Weltvergessene, die, nachdem sie an einem Wintertag in Istanbul angekommen war, einen ganzen Sommer lang in Stiefeln mit Schlag herumgelaufen war, ohne zu merken, dass sie ein bizarres Wesen war, das da versuchte, unter den Menschen zu leben.
     
     Teil 2