Vorgeblättert

Leseprobe zu Sebnem Isigüzel: Am Rand, Teil 2

Am Tag, nachdem sie zufällig ihrem an einem Zahlungstermin ins Hotel gekommenen Onkel begegnet war - es war Sommer, und sie trug ihre Stiefel mit Schlag -, hatte man ihr an der Rezeption ein Paket gegeben, in dem sich ein Paar Leinenschuhe und ein Baumwollkleid befanden. Als dann der Sommer endete und der Winter begann, lief sie weiter in diesen Leinenschuhen und in diesem Kleid herum, und so verlottert war sie dann im Winter der Tante begegnet. Sie kam vom Postamt; und der Ford Taunus ihres Onkels stand vor dem Hotel, mit der Tante darin. So etwas, es regnete wieder! Aber die Tante hatte ihre prächtige Regenhaube nicht auf. Zunächst spürte Leyla, wie ihre Füße von irgendetwas angezogen wurden. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Zehen, besonders der kleine Zeh des linken Fußes, und ihre Fersen sich in Falten zusammenzogen - hatten die es nicht gemütlich in ihren völlig durchnässten Leinenschuhen? Doch, aber sie waren in das Blickfeld der Tante geraten. Die feuchten Leinenschuhe zogen Leyla bis unmittelbar vor die Augen der Tante, und Leyla schaute überrascht auf die an den Spitzen durchlöcherten ungezogenen Schuhe. Die Tante hatte ihren Kopf weggedreht. Leyla hätte sie gerne mit der Regenhaube gesehen, die fand sie toll. Was für ein komisches Mädchen! Sie ging in das Hotel und auf ihr Zimmer, ohne ihrem Onkel zu begegnen.
     Sie stellte ihre Schuhe auf die Heizung. Dabei schaute sie aus dem Fenster. Ihr Zimmer ging auf die Straße. Deswegen konnte sie sehen, wie ihr Onkel in seinen Ford Taunus stieg. Einstieg, ihn aber nicht anließ. Ihn anließ, Gas gab, aber nicht losfuhr - und wieder ausstieg.
     Es ist nicht klar, wie lange sie noch nach unten schaute, aber als es an der Tür klopfte und Leyla öffnete, sah sie ihren Onkel vor sich: "Schämst du dich nicht, deine Tante traurig zu machen?" Fröhlich wie aus der Erde kriechende Würmer wanden sich ihre frechen Zehen, in deren Zwischenräumen das Schlammwasser Ablagerungen hinterlassen hatte. "Hast du keine Wintersachen? Hast du eine Ahnung, was du mich kostest? Sollen wir einer Plage wir dir auch noch eine Garderobe zusammenstellen? Ist es das, was du willst? Schande über dich!"
     "Ich habe vergessen ?", sagte Leyla, doch die Tür war längst vor ihrem Gesicht zugeworfen worden, bevor sie den Satz beenden konnte: "Ich habe vergessen, meine Stiefel anzuziehen." Erinnerungen haben Gravitationskraft. Haben Sie in Ihrem Kopf eine Erinnerung hervorgerufen und zum Leben erweckt, gerät die nächste in den Bereich ihrer Anziehung, erneuert ihr Andenken, ja, bringt einen dazu, sie wieder zu erzählen, wieder zu erleben, wie das hier schon auf vielen Seiten geschah.Das können wir als das unverrückbare physikalische Gesetz unserer Gedächtnismüllhalde bezeichnen.
     Wie also die feuchten Leinenschuhe, die Leyla im Winter trug, ihre Tante betrübten, so machten die abgeschnittenen Markenzeichen Nergis Hanim traurig. Um Haluk hingegen schien sie sich nicht zu sorgen.
     "Die waren aus Gold; du hättest sie wenigstens aufheben können und nicht gleich in den Müll werfen müssen", hatte sie gesagt und war derart betrübt über die Abtrennung der Initialen, dass ihr Sohn Haluk sich mit dem Alkohol über die Lebensvertilger hinwegzutrösten versuchte und seinen wunderbaren Körper im Rausch auf das Ehebett schleuderte.
     Haluk lag nicht so, wie Leyla ihn am Morgen verlassen hatte, sondern, was ungewöhnlich war, auf dem Rücken.
     "Endlich hat er sich selbst abgemurkst, aus dem Weg geräumt", meinte Fahir Bulut. Er sagte das so, als befehle er seinen Kameraden: "Erdrosselt diese Kommunisten!"
     Vor Leylas Auge wankte plötzlich die Welt wie ein Pendel. Sie stürzte ins Schlafzimmer.
     "Hast du Idiotin nicht mitgekriegt, dass er mit dem Fusel eine Packung Diazem geschluckt hat?", schrie Nergis Bulut. Doch der herzzerreißende Schrei war nicht lauter als jener, den sie aufgrund der fehlenden Initialen CD ausgestoßen hatte.
     Haluks Körper war schon ganz kalt. Leyla umarmte ihren Mann, der zum Leben nicht getaugt hatte. Wir stehen kurz davor, in das Gravitationsfeld der Erinnerungen zu treten, die zeigen, wie sie sich einst gefunden und ineinander verliebt haben. Wir sollten hier weggehen.
     Leyla soll sich vor Fahir Bulut hinstellen.
     "Wie soll ein Mann, der es nicht fertigbringt, auf seinen Sohn aufzupassen, für sein Volk sorgen? Warum sollte Turgut Bey so einem ein Ministerium anvertrauen?" Fahir Bulut hält sich selbst eine Rede über seinen Ruin. Leyla sieht aus, als würde sie die Welt einreißen. Wie sich das für einen Faschisten gehört, legt er einem armseligen Land, einer Gemeinschaft, einem einzelnen Menschen gegenüber dar, was seine Gewaltherrschaft rechtfertigt: "Auch ihr wärt durch meine Karriere zu privilegierten Leuten geworden!"
     Ach, haben Haluk und Leyla das geglaubt? Sind sie deswegen aus dem Hotel ausgezogen? Sie hatten geheiratet, nachdem ihr Onkel gesagt hatte, er werde das für ihre Unterkunft nötige Geld nicht mehr zahlen. Sie hätten sich davor bewahren können, für Fahir Buluts politische Karriere eingespannt zu werden. Aber Haluk hatte gemeint: "Ich kann nicht mehr denken. Mein Hirn ist wie eine Flasche J&B . Es hat keine Windungen, Rinden und Membrane mehr. Es könnte in jedes Glas gegossen und hinuntergeschluckt werden." Gleich würde ein heftiger Frühlingsregen einsetzen. Die Wolken in der Aussicht hinter Fahir Bulut wurden immer dunkler und schoben sich mit großer Entschlossenheit ineinander. Die Bäume im Maçka-Tal neigten sich wie auf Verabredung alle in die gleiche Richtung. Kein einziger von ihnen leistete dem Wind Widerstand, der alsbald Regen bringen würde. Hatten die Existenzen in den auf das Tal blickenden Hotels und Häusern möglicherweise eine Ahnung von dem, was hinter dem Fenster vor sich ging, aus dem Leyla blickte? Ein Ehemann, der sich umgebracht hatte, Leyla, die viel geliebt hatte, aber nie geliebt worden war - und die Lebensvertilger. Man hörte die Schlachtrufe der Menge, die das ø nönü-Stadion füllte. Leyla verstand kein einzigesWort.
     Fröhliches Gedröhn erfüllte das kultivierte Wohnzimmer.
     Sich irren, sich täuschen lassen, weiterleben und sterben - das war Haluk widerfahren. Fahir Bulut setzte vor dem immer dunkler werdenden Himmel seine Predigt fort. Leyla dachte, dass er für einen Glauben gelitten hatte und dass es deshalb niemanden gab, der gefährlicher war als er. Ich freue mich, dass Sie daran gedacht haben, bevor ich es erwähne: Auch dies war eine der Weisheiten von Botwinnik. Allerdings hätten solche Ratschläge auch von Cioran sein können, mit dem sie sich zu der Zeit Briefe schrieb - wie auch immer. Belassen wir es am besten dabei zu sagen, dass Botwinnik seinen Schülern, die ein Leben am Schachbrett vor sich hatten, gerne aphoristische Ratschläge zu den grundsätzlichen Fragen des Lebens gab, so als erkläre er die Feinheiten einer Variante oder lehre die Einzelheiten, die ein Königsgambit perfekt machen. Dabei war er davon ausgegangen, dass seine Schüler nichts davon je am eigenen Leibe durchmachen würden. Und nun sehen Sie, wie Leyla eine Erfahrung nach der anderen machen muss.
     Leyla gibt absonderliche Laute von sich. Sachte schwenkt sie den Kopf. Ihr Mund ist angespannt, als bemühe sie sich sehr, ihn geschlossen zu halten. Sie windet sich, als würde gleich ihrem Körper eine Kreatur entspringen, als mache sie eine Verwandlung durch oder stehe aus ihrem Grabe auf, als lege sie Rechenschaft für ihre Sünden ab. Sie macht aus ihrem Zeigefinger einen Lauf und sammelt die anderen vier in ihrer Handfläche, so dass sie einen Griff ergeben: Ihre Hand wird zur Waffe, die in ihren Träumen zu etwas taugen soll. Und wie fürchtet sich Fahir Bulut vor so einer Waffe, die nicht einmal ein Spielzeug ist!
     Erinnern Sie sich, wie der Onkel den ersten Stein gezogen hatte, als sie 1981 bei ihrer Ankunft in Istanbul auf dem Rücksitz des von ihrem Onkel gesteuerten Wagens saß? Jetzt knüpft ihr Schwiegervater mit einem letzten Zug den Bau: "Mein Sohn hat genauso gedacht: Du bist an allem schuld, duDrecksstück mit deinerVergangenheit aus Scheiße!" "Jemand, der im Namen eines anderen redet, ist ein Betrüger." Natürlich fiel ihr diese Lehre Botwinniks jetzt nicht ein. Stattdessen spuckte sie Fahir Bulut die aus ihr herausfließende Bösartigkeit, den ganzen Unflat in die Visage; dann drehte sie sich um und ging. Aus ihrem Leid und ihrer Trauer begann sich ein neues Universum zu bilden.
     Sie versteckte sich zwischen den Büschen des Maçka-Parks. Während sie von ihnen gesucht wurde, befand sie sich genau vor ihrer Nase, es war fast wie ein Scherz. Dort wartete sie siebzehn Tage lang hungrig und durstig, ließ sich vom Regen durchnässen, aß Erde und Blätter. Am Ende des siebzehnten Tages vertrieben Arbeiter der Stadtverwaltung, die den Park neu anlegen sollten, Leyla mit den Stielen ihrer Hacken und Schaufeln. Sie hatten sie dabei erwischt, wie sie die Anlage beschmutzte.
     Dabei zerbrach ein Schaufelstiel mitten auf ihrem Rücken.
     Leyla rannte und rannte und fand sich schließlich im Park von Kabatafi wieder. Da fanden sie andere, und die zerfetzten, was sie am Leibe trug.
     Sie rissen ihr langes, dunkelblaues Kleid in Streifen und zogen ihr eine Herrenhose an, die am Bund mit einem Strick zusammengehalten wurde, einen Pullover, dem man die Ärmel abgeschnitten hatte, und ein Hemd mit einem Bild von Michael Jackson auf dem Rücken. In den Taschen ihres Kleides suchten sie nach Schätzen. Doch alles, was sie fanden, waren ein paar CD -Initialen und ein Zeitungsausschnitt. Die Buchstaben nahmen sie an sich, das war besser als nichts. Den Zeitungsausschnitt stopften sie als Dokument der Vergangenheit in eine Tasche der Kleidung, die sie ihr mit eigenen Händen angezogen hatten.
     
     Teil 3
     
     
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