Vorgeblättert

Leseprobe zu Sonja Margolina: Brandgeruch. Teil 2

24.10.2011.
Auf der Türschwelle zeichnete sich die bärenhafte Figur Dawydows in einem grauen Mantel ab. Reflexartig schaute er sich um. Schließlich blieb sein Blick an Gribojedow hängen. Dawydow trat an seinen Tisch, ließ sich in den schweren Sessel sinken und winkte den Kellner herbei, der eine Karaffe mit Cognac brachte.
"Weißt du, Nikolaj", hob er plötzlich auf Deutsch an, "ich habe volle zehn Jahre in der DDR gedient und kann mich nicht beklagen. Vor dem Afghanistankrieg war unsere Vertretung in Halle die größte ausländische Nachrichtenagentur mit Hunderten von Mitarbeitern. Meine Güte, was sind da für Menschen durch meine Hände gegangen! Halb Deutschland! Einige habe ich selbst angeworben, andere von meinem Vorgänger geerbt. Da gab es Leute, die haben seit zwanzig, dreißig Jahren mit uns kooperiert und konnten sich überhaupt kein anderes Leben vorstellen.
Nach all den Jahren drüben kann ich dir versichern: Die Deutschen sind geborene Agenten. Hätten wir sie nicht angeworben, hätten unsere Gegner es getan, und sie hätten gegen uns operiert. Sie haben ihre inoffizielle Mitarbeit immer sehr ernst genommen und waren mit Leib und Seele dabei. Ein paar von ihnen sind meine engsten Vertrauten geworden und mir, nun ja, richtig ans Herz gewachsen. Nach meiner Abberufung musste ich da drüben einen Haufen Freunde zurücklassen. Manchmal vermisse ich sie."
Gribojedow spürte, dass hinter der Sentimentalität seines für gewöhnlich zugeknöpften Mentors nicht nur Sympathie für seine alten Freunde steckte.
"Und wenn ich ehrlich sein dürfte - was in unserem Beruf ja nicht zu empfehlen ist -, wenn ich also ehrlich sein darf", sagte Dawydow schmunzelnd und schaute nachdenklich in sein Cognacglas, in dem sich das grüne Lampenlicht schillernd brach, "ich bin Russe und stolz darauf. Aber die deutsche Mentalität liegt mir einfach. Könnte man ein zweites Mal geboren werden, würde ich gern als Deutscher auf die Welt kommen. Du verstehst, was ich meine, du bist ja schon ein großer Junge."
Von der Germanophilie des Generals wusste Gribojedow bereits seit dem ersten Ausbildungsjahr. Sein Spitzname im Lehrgang war "Der Deutsche" gewesen, denn er las deutsche Philosophen, verehrte Kant und hatte ein ungewöhnliches Hobby: Er spielte Geige und sammelte Klassikschallplatten. Wie ein echter deutscher Bildungsbürger.
"Deutschland", setzte der General seinen Gedankengang fort, "ist ein großes Land, und die Deutschen sind ein großes Volk. Jahrhundertelang waren die Feinde Russlands und Deutschlands darauf aus, unsere Völker gegeneinander auszuspielen, was ihnen auch immer wieder gelang. Wir haben uns gegenseitig aufgestachelt und abgeschlachtet, und sie strichen die Dividende ein. Und obwohl es drei zu null für uns steht - schließlich waren wir drei Mal in Berlin, die Deutschen aber kein einziges Mal in Moskau -, wäre es für uns, die beiden größten Nationen in Europa, allmählich an der Zeit, diese schwachsinnigen Konfrontationen endlich ruhen zu lassen. Die Russen haben, was die Deutschen nicht haben. Die Deutschen können, was die Russen nicht können. Wir ergänzen einander hervorragend und brauchen uns deshalb. Gemeinsam wären wir unbesiegbar."
Dawydow verstummte. Es entstand ein längeres Schweigen. Der Kellner brachte geräucherten Stör.
Schließlich fragte Gribojedow: "Genosse General, aber unser Verbündeter ist ja nicht Deutschland, sondern die DDR, und wir arbeiten gegen die imperialistische BRD und die NATO. Wie könnten wir uns da auf einmal mit ganz Deutschland zusammentun?"
"Nicht alles unter dem Mond währt ewig", erwiderte der General. "Warum ich dir überhaupt von Halle erzähle? Wir haben kein Problem, was inoffizielle Mitarbeiter betrifft, die laufen in Scharen zu uns über. Dass wir mit unserem Agentennetz in der BRD immer wieder Pannen hatten, steht freilich auf einem anderen Blatt."
Das Gesicht des Generals hatte sich verfinstert, geistesabwesend tastete er in seiner Jacketttasche und zog eine Pfeife heraus. Noch nie hatte Gribojedow ihn Pfeife rauchen sehen. Dawydow öffnete ein Päckchen und entnahm etwas Tabak, stopfte die Pfeife und zündete sie an. Das Ritual schien ewig zu dauern. Dann zog er genüsslich den Rauch ein und sagte:
Ich habe dir versprochen, ehrlich zu sein. Hör jetzt genau zu. Im Kapitalismus kommt es bekanntlich immer wieder zu Krisen, im Sozialismus sollte es laut Theorie dagegen keine geben. Nun ist die Theorie das eine, die Wirklichkeit leider Gottes etwas anderes. Kurzum, wir haben große Probleme in unserem Wald. Der Laden ist von Informationsmaterial förmlich überflutet: Vierzigtausend wissenschaftlich-technische Berichte stapeln sich in den Sicherheitsschränken, werden aber nicht aufgearbeitet. Unsere Agenten setzen ihre Freiheit und manchmal auch ihr Leben aufs Spiel, um an brisante Informationen zu kommen. Und bei uns vergammeln sie dann in den Regalen. Wenn du also jetzt für uns noch mehr Informanten anwerben und noch mehr Informationen beschaffen würdest, wüchsen die Papierstapel lediglich weiter in die Höhe."
Gribojedow war überrascht. Nicht, dass er von den Zuständen in der Hauptverwaltung keine Ahnung gehabt hätte. Aber die direkte Art, in der Dawydow die Gerüchte bestätigte, kam ihm ungewöhnlich vor. Andererseits schmeichelte ihm das Vertrauen des Chefs.
"Wie konnte es bloß so weit kommen?"
"Na ja, Nachrichtendienste sind naturgemäß die Avantgarde der Gesellschaft, aber sie sind trotzdem ein Teil der Gesellschaft. Überall sind die Aufstiegskanäle dicht. Die Parteibürokraten bringen ihre Honoratioren oder eine Komsomolzenbrut auf den entscheidenden Posten unter, und die haben keinen blassen Schimmer von unseren Besonderheiten und pfuschen uns ins Handwerk. Auf diese Weise wird die Aufklärung, die von Risikobereitschaft und Begabung lebt, von mittelmäßigen Karrieristen untergraben. Kurzum, wir leben in schwierigen Zeiten. So kann es nicht weitergehen, im Wald muss sich vieles ändern."
"Wehe dem, der in der Zeit des Wandels lebt, wie ein chinesisches Sprichwort sagt", erwiderte Gribojedow.
"Genau."
"Dann werde ich also doch in eine Art Ehrenverbannung abkommandiert? Was hat eine solche Arbeitsbeschaffungsmaßnahme denn für einen Sinn? Ich bin jung, ich kann Berge versetzen. Schicken Sie mich doch lieber an irgendeinen Brennpunkt, wo ich nützlich sein könnte."
"Sachte, sachte. Sehnst du dich etwa nach Afghanistan? Hast du die Fracht 200 noch nicht miterlebt?"
"Doch, ich habe einen unserer Gefallenen in die Heimatbegleitet." Gribojedow wollte dem General erzählen, wie armselig die Bestattung gewesen war, dass die Mutter des Gefallenen nicht erfahren durfte, ob im Sarg tatsächlich ihr Sohn lag, und dass die Holzpyramide auf dem Grab etwas Unwürdiges hatte. Aber er schwieg.
"Nein, so verheizen wir unsere wertvollen Absolventen nicht. Wenn du deine Abordnung in die DDR vor fünf Jahren gekriegt hättest, würde ich dir recht geben. Aber sei ganz beruhigt, man schiebt dich nicht ab. Denn schon sehr bald könnte sich vieles ändern, und in zwei, drei Jahren wird sich deine scheinbare Ehrenverbannung als einer der verantwortungsvollsten Posten in unserem unsichtbaren Netzwerk erweisen, als unentbehrlich für unseren Dienst. Es ist durchaus vorstellbar, dass das alte Netz auffliegt."
Gribojedow wunderte sich, dass der General über die Zukunft wie über eine verdeckte Operation sprach.
"Verräter gibt es schließlich auch bei uns", fuhr Dawydow fort. "Sie könnten unsere Treffpunkte und Agenten für gutes Geld an die CIA und den BND verkaufen. In diesem Fall wäre es deine Aufgabe, mit unserer Sisyphusarbeit wieder bei null anzufangen - also ein neues Agentennetz aufbauen, neue Informanten anwerben, je nach Wetterlage. Vielleicht wird es auch unsere Truppen im sozialistischen Ausland gar nicht mehr geben. Dann müsste man die Vorbereitung zum Abzug begleiten. Nicht auszuschließen, dass wir auf die Schnelle Bankkonten einrichten und nicht unerhebliche Summen überweisen müssen. Auf jeden Fall wirst du ein Zeichen von mir bekommen. In der Regel haben unsere Militärangehörigen drüben lediglich Wehrdienstausweise. Du dagegen erhältst einen echten DDRPass und bist damit ein Staatsangehöriger der DDR. In der Garnison wird das für dich zwar keinen praktischen Nutzen haben, aber bei der Gelegenheit ?"
"Wie, keine Truppen mehr?" Gribojedow traute seinen Ohren nicht. "Da geht es doch um Hunderttausende von Soldaten, das Doppelte der DDR-Streitkräfte. Wohin mit denen?"
"Wohin, wohin? Hinter die sieben Berge. Also, jetzt fahr du nur einfach und schau dich in Ruhe um. Du bist vorerst ein Maulwurf. Man wird mit dir Kontakt aufnehmen, wenn die Zeit reif ist." Dawydow trank seinen Cognac aus, winkte dem Kellner und zahlte. Sie verließen den Klub. Verstört ging Gribojedow zur U-Bahn. Wie hatte der General das gemeint? Was wusste er? Im Kopf des angehenden Aufklärers drehten sich Satzfetzen - "die Truppen wird es nicht mehr geben" ? "Konten einrichten" ? -, aber ein konkretes Bild der Zukunft konnte er daraus nicht zusammenfügen.

Die Bremsen quietschten und der Militärzug "Moskau-Wünsdorf" zischte ein letztes Mal, bevor er zum Halten kam. Auf dem grell beleuchteten Güterbahnhof wurden die neu angekommenen Militärangehörigen in der klirrenden schneelosen Kälte nach ihren jeweiligen Bestimmungsorten eingeteilt. Gribojedow stieg in den Bus nach Zossen. Schon nach wenigen Minuten Fahrt öffnete sich ein Eisentor, auf dem ein roter Stern prangte und das von Stacheldraht wie von vertrocknetem Efeu umrankt war. Der Bus bog in das abgeriegelte Militärstädtchen ein. Gribojedow stieg aus, reihte sich in die Schlange vor der Kommandantur ein und schaute sich um.
Überall sah es nach deutscher Ordnung aus. Rechts und links waren die Bäume und Bürgersteige weiß getüncht. Den Weg säumten pinguinförmige Mülleimer. Zwischen den von spärlichen Bäumen bewachsenen Gebäuderuinen standen hier und da ohne eine erkennbare Ordnung hübsche Backsteinhäuser, die noch aus der Kaiserzeit stammen mussten. Im Erdgeschoss eines solchen Hauses mit Ziegeldach wurde ihm eine kleine Wohnung zugeteilt. Unmittelbar vor seinen Fenstern erhob sich ein Riesenkegel aus grauem Beton - eine merkwürdige Einrichtung, die Gribojedow nicht einordnen konnte und die einem gigantischen Termitenhaufen ähnelte. In der Offizierskantine erklärte man ihm, dass dies ein Bunker gewesen sei, der die Bezeichnung "Betonzigarre" trug. Die Bomben hatten beim Einschlag von ihm abprallen sollen. Und in Zossen hatten einige von ihnen tatsächlich den Krieg überstanden.
Sein Arbeitsplatz befand sich im unterirdischen Nachrichtenbunker "Zeppelin", Tür an Tür mit der Kommandozentrale der Streitkräfte. Gribojedow musste in Schichtarbeit die abgefangenen Gespräche übersetzen, und immer wieder wurde er zum Dolmetschen in den Stab bestellt. Im Getriebe des Garnisonslebens kam sich Gribojedow wie ein kleiner Beamter vor, der in eine sinnlose Formularproduktion gezwungen war. Die Berichte und Meldungen rieselten auf irgendwelche Ämter nieder, wurden angeheftet und landeten ungelesen im Archiv.

zu Teil 3
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