Vorgeblättert

Leseprobe zu Sonja Margolina: Brandgeruch. Teil 3

24.10.2011.
Der junge Offizier stellte verblüfft fest, dass gelangweilte Offiziersfrauen in ihm eine lohnende Beute sahen. Während ihre Männer in MIGs über die Zone dröhnten, lauerten sie ihm in der Mittagspause auf oder spazierten an der Betonzigarre vor seiner Wohnung auf und ab.
     Auf Gegenseitigkeit durften sie jedoch nicht hoffen, denn Gribojedow hütete sich davor, sich mit irgendwelchen Ehemännern anzulegen. Laut Überlieferungen hatte es in der Westgruppe etliche dramatische Vorfälle gegeben, als gehörnte Männer den Verführern kurzen Prozess machten. Allerdings war dies nicht der einzige Grund für seine Zurückhaltung; sein Verhältnis zu Frauen ließ generell zu wünschen übrig.

Gribojedow hatte eine enge Bindung zu seinem Vater gehabt, der bei einem Testflug verunglückt war, als Nikolaj sich noch in der Ausbildung befand. Er hatte dessen Tod noch längst nicht überwunden. Doch ebenso häufig wie ihn die Sehnsucht nach seinem Vater überkam, dachte er auch an seine Mutter, wie sie im speckigen Morgenmantel und mit ungekämmten Haaren vor der flimmernden Glotze hing.
     Sie war mit dem eintönigen Leben einer Offiziersfrau auf einem Militärflughafen an der chinesischen Grenze nicht zurechtgekommen. Regelmäßig erlitt sie hysterische Anfälle, wenn ihr Mann mit Alkoholfahne aus dem Offiziersklub nach Hause kam, und schrie, dass es in der gesamten Nachbarschaft zu hören war. Schon als kleiner Junge bemerkte Nikolaj die vorwurfsvollen Blicke, mit denen die Offiziersfrauen seine Mutter musterten, und häufig hörte er die Nachbarin flüstern: "Ach herrje, so ein herrlicher Mann und geht an dieser blöden Zicke kaputt! Den würde ich auf Händen tragen!"
     Dabei war der Vater immer bemüht, seine Frau zu besänftigen. Als Nikolaj vierzehn wurde, hatte er es gewagt, ihn nach einem ihrer hysterischen Anfälle zu fragen: "Papa, wieso hast du eigentlich so viel Geduld mit ihr? Wir sollten uns von ihr scheiden lassen." Der Vater hatte ihn daraufhin wortlos und unter Tränen umarmt.
     Als der Vater verunglückte, gab der Sohn allein der Mutter die Schuld, obwohl die Katastrophe laut Bericht auf einen technischen Defekt zurückzuführen war. Sie war es, wollte er glauben, die ihn in den Tod getrieben hatte. Bald darauf hatte die Mutter sich zu Tode gesoffen. Zu ihrer Beerdigung war er nicht gefahren.
     Aber wer für den Zwist in der Familie auch verantwortlich gewesen sein mochte, der Sohn trug einen bleibenden Schaden davon. Und sobald ein hübsches Mädchen anfing, ihm Avancen zu machen, stellte sich bei ihm unwillkürlich der Blick hinter die verputzte Fassade ein, wo er eine launische, hysterische Zicke vermutete, die nur darauf wartete, ihn an sich zu binden und zu dominieren.
     Von Offiziersfrauen bedrängt, absolvierte Gribojedow schließlich eine Notlandung im Bett einer 30-jährigen Grundschullehrerin, die er im Offiziersklub kennengelernt hatte. Er war zu der Zeit damit beschäftigt, das abgehörte Bettgeflüster eines "Romeo" mit der Sekretärin des Auswärtigen Amts in Bonn zu übersetzen. Er hob ihr Stöhnen mit Auslassungspunkten hervor und hatte dabei kein gutes Gefühl. Je mehr die erzwungene Anwesenheit bei den Orgasmen der frisch angeworbenen Agentin seine angeschlagene sozialistische Moral zersetzte, umso stärker kam bei ihm der Verdacht auf, die Lehrerin wolle von ihm, was die alle von den Männern schon immer wollten.

Schließlich geschah genau das: Er schwängerte sie, obwohl er keine sowjetischen, sondern solide DDR-Kondome benutzt hatte. Er war sich sicher, sie habe das Präservativ manipuliert. Die Folge war, dass die Lehrerin den Erzeuger vor eine Disziplinarkommission zerrte.
     Als Gribojedow vor die sechs uniformierten Schulterstückenträger trat, die sich selbst durch die halbe Garnison vögelten, erfuhr er aus dem Gesuch der Lehrerin, er hätte geschworen, sie zu heiraten - das war eine glatte Lüge. Die Mitglieder redeten ihm ins Gewissen, doch die Kommission wagte es am Ende nicht, ein Verfahren zum Parteiausschluss eines Geheimdienstlers einzuleiten.
     Nach dem Vorfall kühlten sich seine Beziehungen zu den Kollegen weiter ab. Er blieb den allwöchentlichen Offiziersgelagen fern und war in der Garnison als hochnäsiger Sonderling verschrien, der, so die einhellige Meinung, der inneren Sicherheit Meldung über die privaten Gespräche der Mitarbeiter machte.
     Später wechselte er in die analytische Abteilung. Die Arbeit dort war alles andere als anspruchslos, doch Gribojedow fühlte sich durch die Uniform, die monotone Schichtarbeit, die Betonzigarre vor seinem Fenster und den Stacheldrahtzaun wie eingesperrt. Die übrigen Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte wähnten sich in der abgeschotteten Militärsiedlung hingegen im Schlaraffenland: zwei Schulen, ein Kindergarten, ein Kaufhaus mit dem Namen "Freundschaft", ein "Haus der Offiziere" - was wollte man mehr? Jottwede und Zaun drum: Ganz gemäß der kommunistischen Verheißung erhielt hinter dem Stacheldraht jeder nach seinen Bedürfnissen.
     In dieses Paradies waren zeitgleich mit Gribojedow auch Iwan Drosdow, seine Frau und ihr Sohn Koljan eingetroffen. Iwan diente in Wünsdorf als Unteroffizier, und seine Frau Swetlana hatte eine Anstellung als Küchengehilfin in der Offizierskantine gefunden. Iwan war ein braver Soldat, doch seine Kameraden hielten ihn für sonderbar. Das lag daran, dass er Wodka - diesen Zaubertrank männlicher Freundschaft und Geselligkeit - nicht vertrug. Bereits nach einem halben Glas versank er in eine Art Koma, aus dem er erst nach etwa einer Stunde wieder erwachte. Ein Arzt hatte ihm erklärt, er leide vermutlich unter Epilepsie und solle sich vor Alkohol hüten. Die Einberufungskommission hatte allerdings keine Gesundheitsschäden festgestellt. Unter seinen Kameraden galt er als schwarzes Schaf, seine Vorgesetzten dagegen, die montags wie die ganze Garnison mit einem heftigen Kater zum Dienst erschienen, schätzten ihn.
     Iwan war ein ruhiger und zuverlässiger Geselle. Selbst für stupide Tadschiken, die des Russischen nicht mächtig waren und seine Befehle kaum verstanden, brachte er Geduld auf. Bei den Trinkgelagen ließ man ihn gnädig mit am Tisch sitzen, obwohl seine beharrliche Abstinenz immer wieder für Ärger sorgte. Dabei spielte sich immer wieder dasselbe Ritual ab. Einer der Saufkumpanen erhob sich mit vollem Glas in der Hand wie zu einem Trinkspruch und schob ihm mit den Worten "Wanja, sei doch nicht so trübselig, trink, nur ein einziges Tröpfchen" die Flasche über den Tisch. Iwan errötete dann, nahm die Flasche und stellte sie, ohne den Querulanten anzuschauen, wieder auf den Tisch zurück.
     Sofort erhoben sich ein paar Stimmen, um die Situation zu entschärfen. "Lass ihn in Ruh, er kann doch nichts dafür. " Dann wurde der Streithahn mit Gewalt auf die Bank zurückgezwungen, und das Gelage nahm seinen gewohnten Lauf.
     Seine freie Zeit verbrachte er beim Angeln, ein Hobby, das ihn mit Nikolaj Nikolajewitsch Gribojedow zusammenbrachte. Stundenlang saßen sie gemeinsam in einem Boot, schwiegen und beobachteten den zitternden Schwimmer. Iwan dachte dabei an nichts und war glücklich. Hin und wieder, wenn die Stille lästig zu werden drohte und kein Fisch anbeißen wollte, seufzte der Dolmetscher: "Ein schlechter Tag" - und griff nach einer Zigarette. Iwan nickte dann und erwiderte: "Der ist satt, der will nicht." Irgendwann tauchte der Schwimmer dann doch in die Tiefe, Iwan spürte den Zug, erhob sich in dem schwankenden Boot, zog die angespannte Angel schräg nach oben und dirigierte den zuckenden Silberfisch an Bord. Schweißgebadet zog er seine Beute dann vom Haken und schlug sie mit dem Kopf auf die Sitzbank. Wenn es nach Iwan gegangen wäre, hätte er sein ganzes Leben auf dem Wasser verbracht und dem tanzenden Schwimmer zugesehen.
     Sein Sohn Koljan besuchte die Garnisonschule und planschte mit seinen Kumpeln im See, bis seine Lippen blau angelaufen waren. Manchmal tauchten auch deutsche Kinder dort auf, die unbemerkt ein Loch unter dem Stacheldrahtzaun durchgebuddelt hatten. Alle zehn Meter warnten Schilder unübersehbar: "Sperrgebiet: Unbefugten ist das Betreten oder Befahren verboten." Aber Koljan und seine Spielkameraden verrieten sie nicht. Im Gegenteil, sie stellten Posten auf, damit die Erwachsenen die Eindringlinge nicht schnappten. Sah der "Wachsoldat" einen Offizier sich dem Wasser nähern, pfiff er auf zwei Fingern, und die "Faschisten" stoben auseinander und retteten sich in ein dichtes Gebüsch. Bei den "Faschisten" schnappte Koljan sogar ein paar Brocken Deutsch auf.
     Gelegentlich kaufte er am Kiosk von Frau Luise Bonbons, wobei er stolz darauf war, in der fremden Sprache sowohl die Zahlen als auch "bitte" sagen zu können. Frau Luise lächelte ihm jedes Mal zu und sagte: "Pass bloß auf deine Zähne auf." Die meisten Soldaten konnten die deutschen Zahlen nicht und zeigten lediglich mit dem Finger auf das, was sie kaufen wollten. Koljan merkte dann, wie der Blick von Frau Luise gläsern wurde und sie ihnen die Einkäufe wortlos über die Theke schob.
     Koljan wusste, dass er irgendwann, spätestens nach dem Schulabschluss, die Garnison würde verlassen müssen. Aber nach seiner kindlichen Zeitrechnung blieb bis dahin noch eine halbe Ewigkeit.
     Doch daraus wurde nichts. Ab dem 6. November 1989 blieb die gesamte Belegschaft von Wünsdorf in den Kasernen eingesperrt. Das Tor des Militärstädtchens wurde verriegelt. Vom Sperenberger Flugplatz starteten pausenlos Düsenjäger, die im Tiefflug über die Region donnerten und die Kühe aus der benachbarten LPG "Deutsch- Sowjetische Freundschaft" in Angst und Schrecken versetzten. Deren Milch wurde bereits im Euter sauer, und die komplette Lieferung für die Garnison musste entsorgt werden. Diese höchste Alarmstufe galt der friedlichen Revolution.

                                                                  *

Mit freundlicher Genehmigung des Berlin Verlages
(Copyright Berlin Verlag)


Informationen zum Buch und zur Autorin hier