Vorgeblättert

Leseprobe zu Sonja Margolina: Brandgeruch. Teil 1

24.10.2011.
Von den fünf Absolventen seines Lehrgangs, die sich freiwillig zum Kriegseinsatz gemeldet hatten, kehrten drei in Zinksärgen zurück. Fracht 200 hießen diese Lieferungen mit den verstümmelten Leichen. Dem angehenden Agenten Nikolaj Gribojedow wurde die Ehre zuteil, eine dieser Ladungen mit den sterblichen Überresten eines gefallenen Freundes in dessen Heimat zu begleiten, ein kleines, abgelegenes Kaff im Norden.
     Erbarmungslos war der Sarg auf der Fahrt des Kleinbusses über die holprige Landstraße durchgerüttelt worden, und Gribojedow, der ihn die ganze Zeit über hatte festhalten müssen, war halbtot vor Erschöpfung, als er am Haus der Familie ankam. Kaum war die Fracht ausgeladen, stürzte sich die Mutter des Gefallenen heulend auf ihn, versetzte ihm Faustschläge und stieß Flüche aus. Zwei angetrunkene Männer zerrten sie von ihm weg, doch sie hörte nicht auf zu schreien und verlangte, dass der Sarg geöffnet werde. Sie war überzeugt, dass man ihr die Leiche eines Fremden unterschieben wollte. Doch der Sarg war bereits in Afghanistan fest verschweißt worden. Vorsorglich, damit die verzweifelten Angehörigen nicht zu sehen bekamen, was von ihren Liebsten übrig geblieben war.
     Die kleine Prozession aus ein paar alterslosen Frauen, betrunkenen Männern und eingeschüchterten Kindern machte sich, begleitet von einer Meute herrenloser Hunde, schweigend auf den Weg zum Dorffriedhof. Musik gab es keine. Auf dem von Unkraut überwucherten Friedhof sah Gribojedow zwei frisch aufgeschüttete Gräber, auf denen verblichene Papierblumenkränze lagen. Zwei Jungen aus der Ortschaft waren bereits in Zinksärgen zurückgekehrt. Auf ihren Gräbern erhoben sich kleine Pyramiden aus grau gestrichenem Holz mit Fotos der Gefallenen, darunter standen ihre Geburts- und Todesdaten. Außer dem roten Stern auf der Spitze wies nichts darauf hin, dass hier Zwanzigjährige in Erfüllung ihrer "internationalen" Pflicht gefallen waren.
     Für die letzte Ruhestätte der jüngsten Fracht 200 war in der schweren Tonerde eine Grube ausgehoben worden. Schweigend und ohne die Papirossi aus dem Mund zu nehmen, ließen die Männer den Sarg hinab, schluchzende Frauen warfen eine Handvoll Heimaterde darauf und machten sich anschließend wieder auf den Heimweg. Die Mutter des Toten, die nicht mehr weinen konnte und in eine Art Starre verfallen war, musste von den anderen Frauen fast über den staubigen Boden geschleift werden. Für die Teilnahme am Leichenschmaus hatte Gribojedow sich entschuldigt, weil er es sonst nicht mehr zu seinem Zug nach Moskau geschafft hätte. Der aufgelösten Mutter konnte er kaum in die Augen sehen.
     Was das Schicksal auch für ihn bereithalten mochte, Leute seinesgleichen waren nicht für solche Zinkkisten bestimmt. Auf den besten Absolventen der militärisch-diplomatischen Akademie und vielversprechenden Mitarbeiter der I. Hauptverwaltung Aufklärung des KGB wartete eine andere Zukunft. Seit nunmehr einem Jahr bereitete er sich auf seinen ersten Auslandseinsatz in der Hamburger Residentur vor. Die Papiere zur diplomatischen Deckung waren bereits unterwegs. Im Zug versuchte er, sich von den unangenehmen Gedanken an die Bestattung abzulenken, indem er von seiner bevorstehenden Mission in der Hafenstadt träumte. Er stellte sich vor, wie er auf einem weißen Dampfer ins offene Meer stach, sah die bleierne Weite der Nordsee vor sich, hörte das Hupen der gigantischen Containerschiffe und schmeckte das Salz im feuchten Wind. Das monotone Rattern des Zugs ließ ihn einnicken.

Doch zurück in Moskau erwartete ihn die Nachricht, er werde statt nach Hamburg zur Westgruppe in die DDR abkommandiert. In ein sozialistisches Land, noch dazu in eine Militärgarnison, sandte man allenfalls stupide KGBNichtstuer und Quoten-Parteikader, deren Ambitionen nicht über deutsches Bier und Klamotten für ihre Ehefrauen hinausgingen, wie man in der Hauptverwaltung spottete. In Dresden etwa, wo Gribojedow in seinem zweiten Studienjahr ein Praktikum absolviert hatte, hockten stattliche Kerle - darunter sogar ein Judomeister - den lieben langen Tag nur im Büro, spielten Karten und erzählten sich schlüpfrige Witze. Jeden Freitag gab es ein Treffen an der Elbe: ausufernde Picknicks mit Schaschlikspießen und reichlich Wodka. Die drei Monate, die der angehende Aufklärer in der esellschaft dieser Dickwanste verbrachte, hatten ihm die wahren Zustände beim KGB vor Augen geführt. In Dresden waren ihm so zum ersten Mal Zweifel gekommen, ob sein Vaterland tatsächlich in sicheren Händen war. Der KGB, der sich rühmte, ein Grundpfeiler der sozialistischen Großmacht, ihr Schild und Schwert, zu sein, schickte einfallslose, korrupte Typen ins Ausland, die seine Ehre beschmutzten.
     Den ihm bevorstehenden Posten in der Wünsdorfer Garnison empfand Gribojedow deshalb als eine Demütigung. Doch eine Absage kam nicht in Frage. Schließlichwar er Soldat - wenn auch einer unsichtbaren Armee. Seinem Chef General Dawydow, dem Leiter des deutschen Referats, war die kaum verhohlene Enttäuschung Gribojedows nicht entgangen. Deshalb hatte er ihn zu einer persönlichen Unterredung in sein Büro in die Zentrale der Hauptverwaltung Aufklärung einbestellt - in den Wald, der sich hinter hohen Zäunen in einem Moskauer Außenbezirk verbarg.
     Zaghaft klopfte Gribojedow an die Tür.
     "Herein!" Der stattliche Dawydow, auf dessen Adlernase eine Hornbrille thronte, erhob sich hinter seinem gewaltigen Holzschreibtisch, auf dem neben einer ganzen Batterie Telefone lediglich ein leeres Blatt Papier lag. Hinter ihm an der Wand hing ein Porträt des sowjetischen Spions Richard Sorge; Bilder der Dreieinigkeit MarxEngelsLenin wie auch das obligatorische Führerbild des gegenwärtigen Generalsekretärs fehlten jedoch.
     "Oberleutnant Gribojedow, du weißt, warum ich dich herbestellt habe", sagte Dawydow und deutete auf einen Stuhl. "Du bist sicher der Ansicht, wir würden dich auf ein Nebengleis abschieben, dich in irgendein Loch stecken, in dem du mit den Vollidioten vom KGB und den Stabsratten saufen musst, wo du doch zu Höherem berufen bist. Es kränkt dich, und du findest, das sei keine Karriere für einenNachrichtendienstler, sondern käme einer Bestrafung gleich. Habe ich recht?"
     "Genosse General, ich habe mich auf eine ernsthafte, verantwortungsvolle Aufgabe vorbereitet und möchte mit all meinem Wissen und Können dem Vaterland dienen. Was soll ich in Wünsdorf? Abhöraufnahmen übersetzen oder die Stabsratten, wie Sie richtig sagen, bespitzeln und Ihnen Meldung machen, wenn eine von ihnen eine Nähmaschine per Militärtransporter in die Heimat schickt?"
     Dawydow musterte den Absolventen schweigend, als überlegte er, was man mit ihm anstellen sollte.
     "Hör zu, Gribojedow", sagte der General schließlich und ging zur Tür, um anzudeuten, dass das Gespräch vorerst beendet war. "Komm heute Abend ins 'Schild und Schwert', da können wir in Ruhe darüber reden."

Der geschlossene, nur für Mitarbeiter der Geheimdienste zugängliche Klub "Schild und Schwert" lag im Erdgeschoss eines siebenstöckigen Gebäudes Stalin?scher Bauart in der Nähe der Lubjanka verborgen. An seiner Tür befand sich kein Schild, und seine riesigen Spiegelfenster warfen den Passanten lediglich ihr eigenes Abbild zurück. Die Gäste des Klubs hingegen konnten das Geschehen auf der Straßebeobachten. Doch die schlecht gekleidete, mürrische Masse des Büroplanktons wurde von diesen Unsichtbaren eigentlich gar nicht zur Kenntnis genommen. Sie hatten Wichtigeres im Sinn.
     Gribojedow traf eine Viertelstunde zu früh ein und setzte sich an einen kleinen Tisch am Fenster, den eine grüne Lampe dezent beleuchtete. Der Kellner war sofort zur Stelle, doch Gribojedow entschied, mit seiner Bestellung auf Dawydow zu warten. Seine Stimmung war auf dem Nullpunkt.

zu Teil 2