Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Christina Viragh: Im April. Teil 1

10.08.2006.
Seite 21 ff.

II


Heuer, Sechzigerjahre, haben die Stürme des Vorfrühlings jedenfalls gehalten, was sie versprachen, schon am 4. Juni hat man im See baden können, und jetzt, am 11. Juni, sind es 29 Grad. Jeden Tag kann es soweit sein, denkt der Mann, der im Schlafzimmer angezogen auf dem Bett liegt. Sie räumen aus, es ist schon fast alles ausgeräumt. Seine Tochter Mari, der es verboten ist, hinter das Haus zu gehen, steht hinter dem Haus. Sie ist unsichtbar zwischen Möbeln und Kisten, die aus dem Bauernhaus ausgeräumt worden sind. Es sind auch Tiere zum Vorschein gekommen, aus dem Keller ein Schwein, aus dem Schuppen ein Schrankvoll Kaninchen. Der zum Käfig umfunktionierte Schrank ist ein Empire-Stück. Das Schwein ist mit einem Strick an einem der Birnbäume festgebunden und hat die Augen zu. Mari steht vor einer rotlackierten Kiste und fragt eins der Schacherkinder: Was ist da drin? Geht dich einen Scheißdreck an, sagt der älteste Schacherjunge. Im Neubau wird ein Fenster zugemacht, Mari blickt zum zweiten Stock hinauf, aber hinter den Geranienkisten aus Styropor ist das Schlafzimmerfenster, aus unerklärlichen Gründen die einzige Öffnung des Schlafzimmers zum Balkon, immer noch offen. Mari stellt sich etwas abseits, hinter die im Vorfrühling durch die Stürme gefällte kleine Tanne. Er kann mich nicht sehen, denkt sie, aber sie täuscht sich, vorhin hat er sie gesehen, als er vom Bett aufstand und sich ans Fenster stellte. Es schlägt zwölf, das Mittagsgeläut beginnt, Mari geht vom umgefallenen Baum wieder zur roten Kiste. Bekommst du zu Hause nichts zu fressen? fragt der älteste Schacherjunge, der von seiner Mutter gerade ins Haus kommandiert wird. Und du, verschwinde, sagt die Frau zu Mari. Mari verschwindet hinter dem Schuppen. Steht eine Weile dort, das Geläut hört auf, es wird still, kein Verkehr auf der Straße, nur jetzt eben die Straßenbahn, dann nur das Besteckgeklapper aus den Mietshäusern ringsum und aus zwei oder drei Wohnungen das Radio. Kein Mensch auf dem ganzen Grundstück. Mari blickt hinter dem Schuppen hervor zum Schwein hinüber, das sich hinzulegen versucht, was nicht geht, weil der Strick zu kurz ist. Jetzt, denkt Mari. Sie drückt sich an die morsche Schuppenwand und schaut zum zweiten Stock des Neubaus hinauf. Im linken Teil des Fensters hängt der Nylonvorhang in regloser Dichte, durch das schwarze Rechteck des vorhangfreien Fensterteils sieht man die Schlafzimmerwand als weißlichen Fleck. Mari drückt die Wange so stark an die Schuppenwand, daß ihr Kiefer aufklappt. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, es geschieht nichts, kein Knall in der Stille, sie hört zu zählen auf. Jetzt nicht, denkt sie und löst sich von der Schuppenwand. Was ist in der Kiste? Die Russen werden kommen. Was ist in der Kiste?

An diesem Mittag des 11. Juni in den Zwanzigerjahren schickt Vater Schacher seinen zwölfjährigen Sohn von der Suppe weg auf die Wiese hinaus. Aber ich bin doch am Essen, sagt der Sohn. Geh, sonst hau ich dir eins auf den Grind, sagt der Vater. Das Gras steht immer noch nicht hoch genug zum Mähen, und es ist naß, aber der Nordwind hat schönes Wetter gebracht, Kälte und einen blauen Himmel mit fädigen Wolken, wie man ihn sonst eher im Herbst sieht. Der junge Schacher, der spätere Vater der mit Mari bekannten Kinder, tritt vor die Tür und will umkehren, um seine Jacke zu holen, so im Hemd ist es kalt, aber nein, lieber nicht, er drückt sich die Arme an den Oberkörper und geht hinaus, unter die Birnbäume. Er schielt zur Schuppentür, der Hund hat sich in seiner Hütte verkrochen, der junge Schacher geht zum Wiesenrand und bleibt dort stehen. Tief über den Teller gebeugt löffelt der Vater in der Küche die Suppe, dann ist er fertig, blickt durch das Fenster, sieht seinen Sohn vor der Wiese stehen. Er schiebt seinen Stuhl zurück, geht zum Fenster, reißt es auf, reißt auch den Mund auf, aber der Sohn ruft: Vater, ich kann doch nicht in die Wiese hinein, ich zertrample doch das Gras. Muß ich selber kommen? fragt der Vater. Da läuft der Sohn in die Wiese hinein. Biswind, kaltes, schönes Wetter, die Sterne noch in den Zwillingen, aber die Sonnenwende nicht mehr weit, da finde man es, hat es im Hundertjährigen Kalender geheißen. Was findet man? hat der Junge gefragt. Weiß ich nicht mehr, hat der Vater gesagt, such halt, dann siehst du's dann. Der junge Schacher zieht hinter sich eine Spur durch das Gras und hört, wie drüben in der Villa das Giebelfenster aufgeht. Er erreicht in Sprüngen den anderen Wiesenrand, läuft weiter, hinter das rechts von der Wiese stehende Mietshaus. Er stellt sich an die Hauswand, für das Fernrohr unsichtbar. Das Fernrohr schwenkt auf die dunkle Furche, wo die Grashalme niedergetreten sind. Der ist nicht mehr zu retten, denkt der Benutzer des Fernrohrs, trampelt durch das eigene Gras, sein Vater wird ihn umbringen. Da erscheint, wie auch der Junge vom Mietshaus drüben sieht, der Vater unter den Birnbäumen, das Gewehr geschultert. Er blickt suchend über die Wiese und sieht gleich den Sohn, der da drüben an der besonnten gelben Hauswand steht. Warum sucht er nicht, der Saugoof? Der Vater greift nach dem Gewehrriemen und beginnt ihn über die Schulter herunterzuziehen. Der Sohn sieht die Bewegung, wirft sich herum, rennt zur anderen Hausecke, um die Ecke, auf die Straße hinaus und ohne stehenzubleiben bis zur großen Linde, die etwa zweihundert Meter stadteinwärts an der Kreuzung mit der Hügelstraße steht. In der Villa wird das Giebelfenster ganz aufgerissen, und eine Stimme brüllt: Schacher, hört sofort auf.

Schacher, der Sohn, der ehemalige junge Schacher, sitzt an diesem Sechzigerjahremittag am selben Küchentisch, löffelt Vanillepudding und liest die Zeitung. Es klingelt an der Haustür. Das ist sicher wieder dieser Ausländercheib, sagt die Frau und schreit ohne aufzublicken: Wir sind am Essen. Es klingelt wieder. Der hau ich links und rechts eine um die Ohren, sagt die Frau. Sie will etwas zum Fressen, sagt ihr ältester Sohn. Die Frau ist schon unterwegs zur Tür, Schacher blickt nicht von der Zeitung auf, die fünf Kinder starren ihr nach. Sie öffnet die Tür. Zwei Polizisten. Was ist jetzt das? sagt die Frau. Schacher hebt den Kopf. Die zwei Polizisten, wegen der Wärme nur im hellblauen Hemd, sind, sagen sie, auf Anzeige gekommen. Anzeige wegen des Schweins, auf dem ganzen Areal ist ausschließlich das Halten von Katzen erlaubt. Wir sind ja am Ausziehen, gottverdammt nochmal, sagt Schacher. Das ist gleich, die Anzeige ist rückwirkend, das Schwein war bestimmt die ganze Zeit im Keller. Es gehört dem Großvater, sagt die Frau, während sie die Polizisten hereinläßt. Der Großvater, also Vater Schacher, der vor rund vierzig Jahren mit dem Gewehr unter den Birnbäumen erscheint, liegt im oberen Stock mit Arthritis im Bett, aber es stimmt, er hat das Schwein gekauft und im Keller versteckt. Welcher Sauhund hat uns angezeigt, fragt Schacher, aber die Polizisten dürfen nur sagen, daß die Anzeige aus einem der Mietshäuser kommt. Wahrscheinlich dieser Kommunist, sagt Schacher, wenn ich den erwische. Herr Schacher, sagt der eine Polizist, vor Racheaktionen muß ich Sie ausdrücklich warnen. Schacher stampft durch die Küche und reißt im Vorbeigehen den Kalender von der Wand. Wirft ihn auf die Häkeldecke des schmalen Diwans. Beim Fenster bleibt er stehen, horcht hinaus, man hört die Radios, sonst nichts. Ich finde es schon noch heraus, sagt er. Dann ist es wieder still, Schacher stampft weiter. Hinter dem Schuppen hört Mari das Stampfen nicht, im Haus schlafen alle, denkt sie, auch die Polizisten. Auch das Schwein scheint zu schlafen, es hat die Augen nach wie vor zu, die Kaninchen im Schrank schlafen wie üblich mit offenen Augen. Kaum zu glauben, daß es so früh im Sommer schon so warm ist. Die Kirschen oben am Baum haben schon Farbe, die unteren haben die Schacherkinder abgerissen, obwohl es ihnen verboten ist, das Hintergärtchen des Neubaus zu betreten. Alle schlafen, denkt Mari, ihr Vater im Schlafzimmer im zweiten Stock denkt etwas Ähnliches, es fällt ihm auf, daß man außer den Radios nichts hört. Er steht auf, geht zum Fenster, sieht auf dem ganzen Grundstück keinen Menschen, bemerkt den silbrigen Schimmer auf den Birnbaumspitzen, fast ein Hitze immern, denkt er mit einem kurzen Lachen. Wo sind alle ? Beim Essen. Wo ist Mari? Das Essen steht bereit. Man kann nicht einfach ins Blaue hinaus nach ihr rufen. Da steht ein Schwein. Der Mann tritt vom Fenster zurück und legt sich wieder hin. Stille. Jetzt das Kreischen einer Frauenstimme und jetzt ein Schuß. Wieder Stille. Jetzt mehrstimmiges Geheul, Männerstimmen. Der Mann stürzt zum Fenster, da rennen schon von allen Seiten Leute auf das Bauernhaus zu, er sieht seine Tochter Mari neben dem Schuppen stehen. Mari, brüllt er, komm sofort nach Hause.

Teil 2