Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Doris Konradi: Frauen und Söhne. Teil 1

06.08.2007.

1
Als sie das Reh überfuhr, dachte sie nicht an Ruben. Ich habe ein Reh überfahren, schien der erste Gedanke seit Stunden. Cosima erinnerte sich nicht an Straßenschilder, die vor Wildwechsel warnten. Sie erinnerte sich auch nicht, das Haus verlassen und auf die dunkle Landstraße hinausgefahren zu sein. Der vergangene Abend hatte alles Denkbare wie in einem Strudel fortgesogen.
Beinahe froh war sie Reh zu denken und nicht Ruben. Reh und Ruben, als wären es zwei beliebige Worte, die sie nur gegeneinander auszutauschen brauchte, um der Vorstellung zu entgehen, dass Ruben in ihrer Wohnung gewesen war, jetzt noch dort schlief, auf dem Sofa oder in seinem Zimmer, mit den schwarzen Haarsträhnen auf dem Kissenbezug. Doch in Wahrheit konnte sie nicht einmal ein Reh anfahren, ohne an Ruben zu denken.
Cosima stellte den Wagen am Straßenrand ab und schaltete das Warnblinklicht ein. Sie musste sich zusammenreißen und sich endlich um das Tier kümmern. Auf dem Begrenzungsstreifen ging sie zurück zu dem Fleck auf der Fahrbahn. Sie beeilte sich jetzt, ein weiteres Fahrzeug könnte ankommen und dem Körper, der groß genug war einem Reifen Widerstand zu bieten, weiteren Schaden zufügen. Gleichzeitig fürchtete sie, dass es noch lebte und sie dem sterbenden Tier in die Augen sehen müsste. Sie kämpfte gegen den Impuls, wieder einzusteigen und weiterzufahren. Wie wohl die meisten Menschen in dieser Situation, dachte sie, oder nur solche wie sie, die sich mit dem Helfen schwer taten, und sei es bei einem verletzten Tier.
Ob es Fahrerflucht wäre, wenn es sich bloß um ein Tier handelte, ein totes Tier, wusste sie nicht. Nicht bei einer Ratte oder einem wilden Kaninchen. Musste sie einer Ratte helfen? Einer Katze bestimmt. Vielleicht gab es eine Regel, ab wann sie sich zuständig fühlen sollte, Verantwortung tragen und das Fortlaufen strafbar war.
Der Fleck, der sich trotz der Dunkelheit immer deutlicher vom Asphalt abhob, war groß, der Aufprall deutlich zu hören gewesen, ein knochiger Aufprall am rechten Kotflügel. Das Tier lag verrenkt am Straßenrand, zur Schau gestellt im Aufleuchten des Blinklichtes, um gleich wieder im Dunkeln zu versinken. Die Schnauze war spitzer, als sie es sich bei Rehen vorgestellt hatte. Die Augen standen offen, auch das Maul, aus dem ein Rinnsal Blut auf die Straße lief. Es war zweifellos tot.
Einen Moment nur war sie erleichtert, bis das Licht eines Scheinwerferpaares aufblinkte und wieder in einem Waldstück verschwand. Nicht mehr als einen Kilometer entfernt, dachte Cosima, sie sollte sich beeilen. Doch das ausgewachsene Tier ließ sich nicht leicht von der Stelle bewegen. Erst als sie ihre ganze Konzentration auf das Ausmaß dieses Körpers richtete, konnte sie sein Gewicht einschätzen und es gelang ihr, ihn an den Vorderläufen einen halben Meter zu ziehen. Sie setzte zitternd ab. Das Motorengeräusch näherte sich, sie versuchte es noch einmal. Erst nur Zentimeter, dann ging es besser, der Straßenrand fiel ab in einen Graben. Sie hatte Angst, dem Reh weitere Verletzungen zuzufügen, auch wenn es jetzt nichts mehr spürte. Sein Tod war der Beweis, es war falsch zu dieser Zeit an diesem Ort zu sein.
Am Tag zuvor noch hatte alles eine Ordnung gehabt. Sie war nach Dienstschluss die Regale entlanggegangen und hatte liegengelassene Bücher an ihren Platz zurückgestellt. Der Anblick erfreute sie, wie sich die Signaturkärtchen, jeweils auf derselben Höhe angebracht, als gleichmäßiges Band über die Reihen der Buchrücken hinzogen. Ordnung brauchte sie zum Leben. Die nach dem Alphabet aufgelisteten Namen in ihrem Adressbuch und die Hausschuhe, die sie vor dem Bett nebeneinander stellte, bevor sie schlafen ging. Und doch war es fast sicher, wenn sie einen Stapel Papiere auf den Schreibtisch legte, dass ein Windstoß nur darauf wartete hineinzufahren und den Anblick zu zerstören.

Dabei hatte sie darauf geachtet alles richtig zu machen, war gestern Abend viel zu früh zum Flughafen gefahren. Sie hatte dasselbe Kleid angezogen wie ein Jahr zuvor, als Ruben den schweren Koffer noch mit beiden Händen die Treppe hinuntergetragen hatte. Sogar dieselben Schuhe trug sie. Sie hatte noch gedacht: Es ist genau dasselbe, nur dass der Film rückwärts läuft, und hatte sich auf einen der Plastikstühle vor Flugsteig 5 gesetzt, die aufgestellt waren für Leute, die ein ganzes Jahr warten konnten. Lufthansa 3517 Madrid stand auf der Anzeigetafel, Ankunft 17:55. Dort hatte sie lange gesessen und den geblümten Stoff des Kleides über ihre Knie gezogen, der viel zu dünn war für diesen Frühlingstag.
Er war ihr fremd vorgekommen, als er durch die Absperrung direkt auf sie zukam. Erst die etwas übereinander stehenden Schneidezähne und die halbmondförmigen Grübchen, die seinen Mund einklammerten, waren unverkennbar Ruben. Er trug ein Hemd mit kurzen Ärmeln, seine Haut war dunkler als früher, passend zu dem schwarzen Haar. Er war ein Südländer geworden. Wie Enrique, hatte sie gedacht. In einer Hand hielt er eine kleine Reisetasche, in der anderen einen Strauß Blumen, gewachsen war er auch. Mit ausgebreiteten Armen kam er auf sie zu, stellte die Tasche ab. Das Blumenpapier knisterte, als er sie an sich zog. Bevor sie ihm die Wange zuwenden konnte, drückte er einen Kuss auf ihre Lippen. Er nannte sie Co, wie Enrique, und reichte ihr die zerdrückten Blumen.
- Aus Madrid, sagte er mit rollendem R und stieß mit der Zunge an die Zähne, auch wenn es gar nicht nötig war. Er hatte sich nicht nur das Spanische angeeignet, noch etwas anderes war hinzugekommen, das sie am Telefon nicht wahrgenommen hatte. Wenn Ruben sprach, schwang auch die Stimme von Enrique wie ein zweiter Ton mit, und es war ihr, als hörte sie die beiden miteinander reden.
Sie sah die welken Rosen an und hätte doch Ruben ansehen müssen, dessen Schultern ihre überragten, so dass sie nicht mehr hinaufreichte und den Arm nur um seine Taille legen konnte. Stattdessen legte er seinen Arm um sie auf dem Weg in die Garage, nahm ihr den Schlüssel aus der Hand und setzte sich ans Steuer. Während der Fahrt sah er sie immerzu an. Sie fuhr zum ersten Mal mit ihm und wollte ihn ermahnen, sich auf das Lenken des Wagens zu konzentrieren. Aber ihr fielen keine Worte ein, mit denen man sein Kind ermahnt, der passende Tonfall war ihr abhanden gekommen. Sie schwiegen, obwohl ihnen das Reden hätte leicht fallen können, wie am Telefon, wo Ruben ihr regelmäßig berichtet hatte, über den Fortschritt des Studiums, über Prüfungen und Konzerte, wo er zu Anfang gesagt hatte, er vermisse sie - jedes Mal. Ruben fuhr schnell, ließ den Motor dröhnen, bevor er schaltete. Auf der Autobahn trat er das Gaspedal durch und drehte das Radio an. In der Stadt benutzte er Schleichwege, als wäre er sie hundertmal gefahren, dabei hatte er den Führerschein erst kurz vor seiner Abreise gemacht.
Er fuhr auf den Parkplatz eines Supermarktes und zog den Zündschlüssel.
- Warte hier, sagte er.
Den federnden Gang hatte er behalten, die Beine waren dünn wie früher, nur die Schultern breiter. Er trainiere in einem Fitnessstudio, hatte er in seinem letzten Brief geschrieben, und sie solle keinesfalls etwas vorbereiten - Überraschung.
Die Arme voller Tüten kam er zurück, stellte sie auf den Rücksitz und fuhr behutsamer, er hielt vor einer Weinhandlung und brachte weitere Tüten zum Auto. Er achtete nicht auf das Viertel, nicht auf die neuen Geschäfte, die renovierten Häuser, fuhr die geänderte Straßenführung, als wäre alles immer so gewesen.

Cosimas verschwitzte Hände drohten am Fell abzurutschen, sie packte fester zu. Mit einem letzten Ruck schaffte sie das Reh von der Fahrbahn und blieb neben ihm sitzen, als das Auto vorüberfuhr. Der Fahrer bremste auf der Höhe ihres Wagens ab, doch gleich beschleunigte er wieder und die Rücklichter erloschen kurz nacheinander, als er der Straße in die nächste Kurve folgte. Sie verharrte bei dem Reh, als müsste sie es beschützen. Vielleicht verständigte der Fahrer die Polizei, um ihr herrenloses Auto am Straßenrand anzuzeigen. Der gelbe Schein des Blinklichts machte das Fell heller, doch aus der Nähe konnte sie sehen, dass die Haarspitzen dunkel ausliefen, sie überzogen das Tier mit seinem eigenen Schatten.
Was würde sie erzählen, wenn jemand sie fragte, was passiert war? Eine Landstraße, die aus der Stadt hinaus zur Autobahn führte, in den frühen Morgenstunden nicht stark befahren, das Wild bewegte sich häufig auch am Waldrand. Sie war zu schnell gefahren, das würde man ihr vorwerfen. Aus der dunklen Wand am Straßensaum hatte sich ein Schatten gelöst, reine Bewegung, kaum als Lebewesen zu erkennen. Sie hatte es aus den Augenwinkeln gesehen, aber erst mit dem Aufprall hatte ihr Gehirn aus der Erscheinung eine Konsequenz gezogen. Sie könnten ihr die Trägheit vorhalten, wenn sie genau waren einen Bluttest veranlassen, bei dem der Restalkohol nachweisbar wäre. Die Fakten waren eindeutig. Wie aufgereiht standen sie dort, um das Unverzeihliche offen zu legen.

Cosima hatte Wasser in eine Vase gefüllt und die Rosen auf den Flügel gestellt. Ruben brachte die Einkaufstüten in die Küche. Wie er die Stadt nicht beachtet hatte, schenkte er auch der Wohnung keine Beachtung, als liefe er durch eine eigene Welt und berührte die ihre nicht.
- Ich ziehe mich kurz zurück, sagte er und küsste sie wieder.
Sie setzte sich mit einem Buch auf das Sofa. Das gleichmäßige Rauschen der Dusche lenkte sie bald vom Lesen ab wie eine Musik im Hintergrund. Auch das Zimmer lenkte sie ab, es hatte sich verändert, seit Ruben hindurchgegangen war. Es wusste, ob jemand hierher gehörte. Bei Fremden gab es sich erwartungsvoll. Der Tisch wartete, der Sessel, der Flügel wartete mit den Rosen darauf.
Als Ruben zurückkam, trug er schwarze Frotteeshorts und ein weißes T-Shirt, er ging barfuß zum Flügel. Sie sah die rosigen Fersen und seine weißen Fußsohlen, als er sich auf den Klavierhocker setzte. Er betrachtete das Instrument lange, bevor er den Deckel anhob. Das Schwarz und Weiß der Tasten vervielfältigte das Weiß und Schwarz seiner Kleidung, spaltete es auf in sinnvolle Einheiten. Jede Farbe zwischen Ruben und dem Klavier hätte gestört. Er legte die Hände über die Tastatur und hielt einen Moment inne.
- Was hast du mit meinen Büchern gemacht, fragte er, sie zurückversetzend in die Zeit ohne ihn.
Cosima hatte sie alphabetisch geordnet wie in der Bibliothek, an dem Tag, als sein Fortsein bei ihr angekommen war.
- Du machst Sachen, sagte Ruben und schlug das g an.

Teil 2

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