Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Leda Forgo: Der Körper meines Bruders. Teil 1

27.08.2007.
Das verknotete Laken bohrte sich in Mos Wirbelsäule, sie bemerkte es aber nicht. Blut breitete sich auf dem verrutschten Stoff aus. Es verließ die Nähte am Stoffrand und bildete eine sich stetig vergrößernde Pfütze auf dem weißen Kunstlederbezug. Meine Mo verlor das Bewusstsein. Die Schwester schüttelte sie und rief ihren Namen, mit ihrer berüchtigten Stimme, die einer ungeölten Maschine glich und die nach der Meinung des Chefarztes selbst die Toten wieder lebendig werden ließ: "Fräulein, aufwachen!" Mo öffnete die Augen und sah die halblangen chlorgebleichten Strähnen der Schwester. Sie sah zwei tiefe Grübchen, die das aufgeschwemmte Gesicht etwas kindlich erscheinen ließen. Was die Schwester ihr durch Gesten sagen wollte, verstand sie nicht. Sie fühlte, wie die Schwester einen feuchten Umschlag auf ihre Stirn klatschte, der ihr Auge halb verdeckte. Kalte Tropfen liefen zwischen ihren Haaren auf ihre Schädeldecke.

Sie hörte ein klagvolles Stöhnen, ungefähr, wie wenn eine Lokomotive Dampf ablässt. Sie begriff auf einmal, dass noch jemand in ihrem Bett lag, auf ihrem Kopfkissen. Palko. Mein verrunzelter Bruder fuchtelte neben ihr mit zusammengekniffenen Augen und roten Fingerchen vor seinem winzigen Gesicht. In Mo breitete sich Erleichterung aus, die sie in dieser körperlichen Form noch nicht kannte. Dann leuchtete in ihr die Erinnerung auf, warum sie hier lag und das alles über sich ergehen ließ. In den Stunden der Geburt hatte sie gar nicht mehr an ihn gedacht. Sie zog das fertige Geschöpf auf die Brust. Das Geschöpf atmete jetzt ruhig und lag ausgestreckt, wie ein Frosch, der auf der Wasseroberfläche schwebt. Es hatte unendlich lange Finger und tausend hauchdünne Falten darauf. Mos Brüste reagierten auf den kleinen Menschen, der zwischen ihnen lag, wie bei einer schmerzhaften Erregung. Sie berührte das weiche Köpfchen, fuhr den weichen Nacken entlang und ließ ihre Hand auf dem kleinen Rücken ruhen, der ungefähr die gleiche Größe hatte wie ihre Hand. Um ihren Herzschlag zu bremsen, atmete sie tief ein. Sie hatte Angst, ihn durch das Pulsieren zu wecken. Im gleichen Augenblick versank sie selbst in einen bodenlosen Schlaf. Er hielt allerdings nicht lange an. Der Doktor trat an ihr Bettende und sagte "Hoho".

Mo dachte zu träumen. Das lange eckige Gesicht des Chefarztes, aus dem überproportional große Augen rausragten, vermischte sich mit den gelblichen Haarsträhnen der Schwester, die ebenfalls wieder am Bett auftauchte. Der Arzt, der noch nie ein Wort direkt zu Mo gesprochen, aber lange Zeit zwischen ihren Beinen verbracht hatte, schälte jetzt ihre Oberschenkel aus der Decke. Mo scherte es nicht, was er tat, solange mein Bruder auf ihrem Bauch schlief. "Da ist noch was drin", murmelte der Arzt. Die Krankenschwester beugte sich über Mo. Mo starrte aus schlaftrunkenen Lidern auf ihre zwei Grübchen, die beim Sprechen manchmal verschwanden oder zu einem tiefen Krater wurden. Sie verstand immer noch nicht, was sie von ihr wollten. Dann riss ihr die Schwester meinen schlafenden Bruder von der Brust.

Mo griff nach ihm und wollte schreien, aber eine neue Schmerzwelle ballte ihren Körper zusammen. Sie dachte, die Geburt hinter sich zu haben. Als die neue Wehenwelle sie überraschte, hatte sie nicht mal Zeit nachzudenken, was das zu bedeuten hatte. In den Wehenpausen fühlte sich die leere Stelle meines Bruders wie eine klaffende nasse Wunde auf ihrer Brust an. Widerstandslos, stumm begann sie zu weinen.

Der Arzt schob ihre Beine hoch und brummte: "Es scheint sich verklemmt zu haben." Er griff nach der Zange. Mo schrie kurz auf. Obwohl die Tränen, die ihren Hals herunterkullerten, heiß waren, fror sie. Sie zitterte heftig. Irgendetwas schmerzte höllisch. Der Kopf des Arztes verschwand aus ihrem Blickwinkel. Sie spürte seine Finger grob in ihrem Unterleib wühlen. Der Schmerz wollte nicht abklingen. Die stummen Tränen wandelten sich zu einem leisen Klagen. Zunächst flüsternd, entglitt ihr jegliche Kontrolle über ihre Worte. Über Inhalt und Lautstärke. Sie schimpfte und schrie. Vom Arzt perlten die Beleidigungen ab, wie Wassertropfen von einer Plastiktüte. Er schaute nicht ein einziges Mal auf Mo. Er konzentrierte sich auf den zweiten Zwilling, der nicht aus dem Bauch seiner Mutter wollte. Auf mich.


Obwohl ich und mein Bruder Zwillinge waren, fielen unsere Geburtstage auf zwei verschiedene Tage. Bevor mich das Krankenhauspersonal aus Mos Bauch gefischt hatte, war Mitternacht schon vorbei. Palko kam am 13. November 1953, an einem Freitag, und ich, Borka Pataki, am 14. November 1953, einem Samstag, zur Welt.


In den ersten Tagen bekam mich Mo nicht zu Gesicht. Als sie nach mir fragte, erhielt sie die Antwort, es sei alles in Ordnung. Wenn sie Vater bat, etwas zu unternehmen, zuckte er mit den Achseln. "Wenn es nicht geht, dann geht es halt nicht!" Mo schlief, und Vater hielt Palko auf dem Arm. Bis die Schwester kam, ihm den Säugling abnahm und ihn vor die Tür schickte. Die meiste Zeit verbrachte er auf dem Flur. Mo war einige Tage geduldig, dann ließ sie nicht mehr nach. Sie wollte mich sehen. Sie flehte Schwester und Ärzte an, drohte mit einer Anzeige bei der Partei und einem Blitzschlag von Gott. Die diensthabende Schwester, wieder die Blonde, holte mich. Am Kopf hatte ich eine tiefe rosige Schnittwunde, schon halbwegs verheilt. Entsetzen und Fassungslosigkeit rangen in Mo. Sie konnte zunächst kein Wort herausbringen. Ihr Gesicht musste aber den inneren Kampf widergespiegelt haben, weil die Krankenschwester sich erbarmte und Mo kurz die Schulter tätschelte.
"Nur die Haut wurde verletzt, Frau Pataki, nicht erschrecken. Es ist kein tiefer Schnitt. Es werden dort wahrscheinlich keine Haare wachsen, aber man kann ja von der anderen Seite ein paar Strähnchen rüberkämmen."
Vater zuckte die Achseln erneut.
"Es wird schon. Sie ist sonst gesund."
"Geh doch nach Hause", sagte Mo zu ihm. "Hier kannst du nichts ausrichten."
Er zuckte zum dritten Mal mit den Achseln und ging.


Als Vater weg war, starrte Mo auf meine hässliche Wunde. Es war der Augenblick, in dem ihr das erste Mal klar wurde, mit einer Sicherheit, die ihr auch später keiner nehmen konnte, dass sie keine Mutter sein wollte.

Es war nicht die Wunde, die sie abschreckte. Ich war nicht endgültig entstellt oder lebenslang erkrankt. Es war einfach insgesamt zu viel für sie. Die Wunde war einfach der letzte Tropfen. Nur war es etwas zu spät, keine Mutter sein zu wollen. Sie geriet ganz tief in etwas hinein, wo sie sich nicht hingehörig fühlte. Sie hatte die böse Vorahnung, dass es kein glimpfliches Ende nehmen würde.

Sie wollte uns nicht mehr in ihrem Bett haben. Als die empörten Krankenschwestern uns doch bei ihr ablegten, begann sie zu heulen, als ob sie zwei bissige, stinkende Köter zu ihr gelegt hätten. Wir wiederum weinten, weil wir ihre Brust rochen, die sie uns verweigerte. Die Krankenschwestern sammelten uns kopfschüttelnd ein. Aus verdünnter Milch, die die Schwestern sonst für ihren Kaffee verwendeten, bereiteten sie uns eine Flasche. Da unsere Verdauung noch nicht voll entwickelt war, hatten wir mit Durchfall, Erbrechen und Bauchkrämpfen zu kämpfen.

Mo bekam davon herzlich wenig zu Gesicht. Sobald sie sich bewegen konnte, zog sie sich an und verließ das Krankenhaus - ohne uns. Sie ging nach Hause, wo Vater mit einer Freundin saß und gerade über uns berichtete. Seine Augen müssen geglänzt haben wie poliertes Silberbesteck. Aber Mo scherte sich nicht um die beiden. Sie ging durch das Vorzimmer an ihnen vorbei, ließ sich auf ihrer neuen Sofagarnitur nieder, unter ihren Kopf schob sie ein Kissen mit Kalocsaer Motiven. Die Beine legte sie über die Armlehne. Sie legte tropfendes Eis auf ihren Busen, machte das Radio an und schlummerte ein. Auf die etwas verwirrte Frage Vaters, wo wir denn wären, konnte sie nicht mehr antworten, weil ihr Kopf etwas zur Seite kippte und sie gerade leicht zu schnarchen begann. So schickte Vater die Freundin nach Hause, eilte ins Krankenhaus, zog uns an, packte uns in ein Körbchen, mit dem er normalerweise Kohle aus dem Keller holte - und das er selbstverständlich vorher etwas reinigte - und brachte uns nach Hause, noch nicht ahnend, dass er von nun an die Mutterrolle übernehmen würde.

Teil 2


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