Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Patricia Bosworth: Schwarz & Weiß. Das Leben der Diane Arbus. Teil 3

31.08.2006.
Kapitel 3

Renee Nemerov, Dianes jüngere Schwester, wurde am 13. Oktober 1928 geboren, als Diane fünfeinhalb Jahre alt war. Gertrude Nemerov übergab auch das jüngste Kind der Obhut einer Kinderschwester. Diane war über Renees Geburt sehr aufgeregt. Sie überschüttete sie mit all den Zärtlichkeiten, die sie selber sich immer von ihrer Mutter ersehnt, jedoch nie erhalten hatte. Beim geringsten Anlaß nahm sie nun ihre kleine Schwester in die Arme, wiegte sie hin und her und küßte sie immer wieder.
Diane liebte kleine Kinder. Sie erkannte sich selbst in ihnen wieder - isolierte Wesen, die insgeheim vor Wut kochten. Auf einigen ihrer frühesten Photos, die zugleich ihre besten sind, werden kleine Jungen und Mädchen mit ihrer Energie und Hoffnungslosigkeit konfrontiert. Eins ihrer besten Bilder, betitelt Verärgerter Junge mit Spielzeuggranate machte sie 1961 im Central Park als Teil einer Serie über die Kinder der Reichen, "schließlich war ich ja irgendwie auch ein Kind aus reichem Hause".
Später begleitete Diane Renee mit ihrem Kindermädchen durch den Central Park und erklärte ihnen die Bäume und Statuen am Wegesrand. "Diane war mein Idol", sagt Renee, "sie war für alles meine Bezugsperson."
Als Renee älter war, las Diane ihr aus Grimms Märchen, Weltgeschichte für Kinder, Gullivers Reisen, Peter Pan, den Oz-Büchern und besonders aus Alice im Wunderland vor. Diane war wie verzaubert von Alice als Riese, Alice als Zwerg, von der dicken und dünnen Alice, und oft rannte sie ins Badezimmer, um sich im Spiegel zu betrachten: Bin ich wirklich groß ... bin ich wirklich klein ... bin ich irgendwie unvollkommen ... bin ich gerade richtig? Wie die meisten Kinder war auch Diane von ihrem Spiegelbild fasziniert.
Inzwischen hatte Howard angefangen, Klavierunterricht zu nehmen, und er übte auch gewissenhaft. Diane (die sich weigerte, weiterhin Klavierspielen zu lernen, nachdem ihr Bruder damit begonnen hatte) setzte sich manchmal neben ihn auf den Hocker und korrigierte ihn. "Nein, nein, das spielt man doch nicht so, sondern so", und dann zeigte sie ihm, wie er spielen mußte, wobei ihre Finger nur so über die Tasten flogen. Dann stürzte sie wieder davon, um sich um Renee zu kümmern.
Howard tat Renee unweigerlich als "das Baby" ab, aber er schien sich eine Zeitlang doch darüber zu ärgern, daß Diane sich nicht mehr ausschließlich ihm widmete. "Diane selbst dominierte sowohl ihren Bruder als auch ihre Schwester und konnte ihnen ihren Willen aufzwingen", berichtet ein Nemerov-Cousin, der den beiden oft beim Spielen zuschaute.
Aufgrund ihres Altersunterschiedes gingen die Geschwister nur selten irgendwo gemeinsam hin, es sei denn zum Zahnarzt. "Da war dieser Zahnarzt - ein Freund, der mit einer herzergreifenden Geschichte zu Daddy kam", erzählt Renee, "eine fürchterlich traurige Geschichte darüber, daß seine Praxis vom Bankrott bedroht und seine Schulden so hoch seien, daß er Selbstmord begehen werde. Daddy lieh ihm Geld (was er bei Freunden oft tat) und verschaffte ihm Patienten. So schickte er Diane, Howard und mich zwei Jahre lang fast jeden Monat zu ihm. Wir wurden ständig geröntgt, unsere Zähne wurden angebohrt, er untersuchte uns, meißelte an den Zähnen herum ... Als wir älter wurden, hatten wir dann mit unseren Zähnen furchtbaren Ärger."
Howard schreibt: "Mir kam oft der Gedanke, daß der Zahnarzt vor allem daran interessiert war, daß meine Zähne länger hielten, als ich selbst leben würde, und daß ich eine Art Denkmal für ihn werden sollte. Seine Füllungen würden immer noch existieren, wenn die letzte Pyramide schon längst dem Wüstenboden gleich wäre ... Schon sehr früh assoziierte ich Zähne mit Tod und Ewigkeit, und für mich bedeutete'lux aeterna' die OP-Lampe des Zahnarztes, die ich auch in einer Kurzgeschichte beschrieben habe (über einen Mann, der sich selbst umbringen wollte) ... Jemandem'in den Schlund sehen' ist ein Ausdruck von triumphierender Aggressivität und Feindseligkeit, vor allem beim Pokern."
1930, als sie sieben Jahre alt war, kam Diane in die "Ethical Culture"-Schule am Central Park West. Die meisten Eltern, mit denen die Nemerovs befreundet waren, schickten ihre Kinder auf diese Schule; ihr pädagogisches Konzept basierte auf der religiös-humanistischen Philosophie - auch "Ethische Kultur" genannt -, die von Felix Adler um 1867 in New York entwickelt worden war. Adler, der eine Ausbildung als Rabbiner hatte, vertrat die Ansicht, daß es unwichtig war, ob man an Gott glaubte oder nicht; worauf es im Leben ankomme, sei "Handeln, nicht Glauben". Die "Ethische Kultur" legte Wert auf die Freude am Lernen, wie Elbert Lenrow, einer ihrer profiliertesten Vertreter betont. Lenrow, der auch einer der ersten Lehrer von Howard war, fügt hinzu: "Bei jedem Schüler wurde großer Wert auf die musische Erziehung gelegt, und es ging besonders um die Förderung der Kreativität, sowohl als intellektueller Disziplin wie auch als geistiger Quelle, aus der man schöpft, um sich zu regenerieren."
Andere Lehrer der Ethical-Culture-Schule erinnern sich daran, daß Diane zwar gelegentlich für einigen Wirbel sorgte, sich sonst jedoch ruhig verhielt und überdies "außergewöhnlich intelligent" war. In einem Zeugnis aus der dritten Klasse heißt es: "Diane verfügt über einen großen Wortschatz, sie kann besser lesen und sich besser konzentrieren als ihre Klassenkameraden und hat ein ausgesprochenes Talent zum Zeichnen."
David Nemerov war die geistige Beweglichkeit seiner Tochter, ihre spezielle Begabung schon aufgefallen. Er war stolz, aber irgendwie machte es ihm auch angst. Nachdem er das Zeugnis gelesen hatte, sagte er zu seiner Schwester Bessie Shapiro, daß Diane für ein kleines Mädchen vielleicht zu intelligent sei. Was tun? Er schrieb einen Brief an die Schule und bat darum, Diane mehr Hausaufgaben als allgemein üblich aufzugeben. So verfuhr die Schule auch; trotzdem war Diane immer sehr schnell mit ihren Übungen fertig.
Sie wuchs allmählich heran, wurde schlank und groß, und ihr dichtes braunes Haar fiel ihr in gekräuselten Locken auf den Rücken. Mamsell hatte im Sommer zuvor die Nemerov-Familie verlassen und Diane "verabscheute" das neue Kindermädchen (und alle darauffolgenden). Aus Protest wurde sie eine Zeitlang zur "schmuddeligen Rotzgöre". "Ich weigerte mich, sauber zu sein", erklärte sie. Ihr Vater tobte, "weil ich sein Augenstern war und er wollte, daß ich so hübsch aussehen sollte wie nur irgend möglich".
Sie war überaus schüchtern und befand sich in einem Zustand permanenter Furcht. Jahrelang bildete sie sich ein, daß sie von grausamen, verschlagenen Entführern verfolgt würde, die keuchend hinter ihr herjagten. Schon früh sah sie sich in ihren Vorstellungen als verfolgtes Opfer und mutige Heldin - eine Folge ihrer Wut und ihres Wunsches, beachtet zu werden. Doch wie die meisten phantasiebegabten Kinder erzählte sie niemandem von ihren heimlichen Ängsten; sie hätte auch nie zugegeben, daß sie die Dunkelheit dem Licht vorzog und daß es für sie nichts Schöneres gab, als in einem stockfinsteren Zimmer zu sitzen und auf Ungeheuer zu warten, die sie zu Tode kitzeln würden. Ihre Schwester Renee bestand darauf, daß die ganze Nacht hindurch in ihrem Schlafzimmer eine Lampe brannte. Der Lampenschirm fing einmal Feuer, und Mr. Nemerov hatte Mühe, die Flammen zu ersticken. Das war ungefähr um vier Uhr morgens gewesen. Diane blieb zwischen ihren Kissen in der purpurfarbenen Dunkelheit zusammengerollt liegen und lauschte auf das Hin- und Herhasten und auf die Schreckensrufe.
In ihrem autobiographischen Essay bekannte sie: "Die Lehrer hielten mich immer für besonders klug; diese Vorstellung quälte mich, weil ich wußte, daß ich in Wirklichkeit furchtbar dumm war."
Ungefähr zu dieser Zeit zog die Familie aus dem Apartment an der 90. Straße in ein anderes an der Park Avenue, Ecke 93. Straße. Während der Weltwirtschaftskrise zogen sie noch einmal um, in den Wohnblock San-Remo am Central Park West Nr. 146, wo Diane bis kurz vor ihrer Heirat wohnte.
Das San-Remo-Apartment war riesig - vierzehn Zimmer mit holzgetäfelten Wänden und geschmückt mit französischen und englischen Antiquitäten. "Im Grunde genommen war es trübselig", meinte Diane. Das einzige Detail, an das Howard sich erinnern kann, war "Rodins Le Baiser, der als Bronzereproduktion den Rand eines Aschenbechers aus Jade im Wohnzimmer schmückte".
Von Dianes Schlafzimmer aus hatte man einen Blick über den Central Park. Das Zimmer war mit Büchern vollgestopft. Ihr machte es keinen Spaß, Spielzeug zu horten, wie Howard dies tat; sein Zimmer quoll über von Spielzeugsoldaten und teuren Sportartikeln von Abercrombie & Fitch. Ganz besonders gern mochte sie einen merkwürdig gefleckten Stein, den sie im Park in der Nähe der Sheep Meadow entdeckt hatte. Für kurze Zeit hielt sie Goldfische in einem Aquarium; als diese jedoch eingingen, spülte sie alle die Toilette hinunter und bat: "Keine mehr, bitte."
Im Alter von sieben bis acht Jahren spielte Diane an den Wochenenden mit ihrer Cousine Dorothy Evslin. Sie warfen mit Wasser gefüllte Tüten aus Dianes Schlafzimmerfenster auf die Fußgänger, die in Richtung Central Park West gingen. Oder sie sprachen abwechselnd in Howards "Telefon", zwei durch einen Bindfaden miteinander verbundene Konservendosen. Gelegentlich wanderten sie auch durch die ganze Wohnung, die Dorothy (die in Brooklyn wohnte) als "gigantisch und düster" empfand. Diane zeigte ihr einmal das Ankleidezimmer ihrer Mutter. "Ich rief'Ah' und 'Oh' angesichts Tante Gertrudes Sammlung von Duftfläschchen aus Kristall. Da erklärte Diane: 'In den meisten ist Tee'."

Während der ersten Jahre der Wirtschaftskrise war die finanzielle Lage der Familie so schlecht, daß Gertrude Nemerov einen Teil ihres Schmucks verkaufen mußte; außerdem zogen ihre Eltern für eine Weile in das San-Remo-Apartment, und das Wohnzimmer wurde zum Treffpunkt für Frank Russeks Bekannte von der Rennbahn. Diane erzählte: "Ich entsinne mich vage, daß Familienkonferenzen hinter verschlossenen Türen abgehalten wurden ... es wurden wohl Bedingungen für Kredite und derlei ausgehandelt ... doch nach außen drang davon nichts ... Wenn die Leute aus der Geschäftswelt Wind davon bekamen, daß man in einer Krise steckte, dann war man verloren."
In der Firma machte David Nemerov Überstunden und drängte darauf, daß seine Einkäufer weniger Waren einkauften, "aber die Qualität darf nicht darunter leiden". Um Geld zu sparen, verzichtete er auf den Besuch der Pariser Modeschauen. Er wußte bereits aus dem Branchenklatsch, daß Schiaparelli mit synthetischen Fasern experimentierte, die sich jedoch auflösten, wenn sie gereinigt wurden, und daß die neueste Kollektion von Chanel eine Studie in Baumwolle und Pique war.
Nemerov ließ jede Woche die Schaufensterdekoration auswechseln, um den Umsatz zu steigern. Manchmal arbeitete er mit seiner Assistentin, Miss Christ - einer hübschen kleinen Frau, die ähnliche Energien und Ideen wie er selbst hatte - die Nächte durch. Gemeinsam stellten sie Kleider im Stil der Zeit aus: weite Hausanzüge, "Nachmittagskleider" mit breiten Kragen, und benutzten dabei ganz unterschiedliche, extravagante Dekorationen wie Treibholz, weiß getünchte Zweige, chinesische Lampions und Fischernetze vor einem weißen Hintergrund. "Einmal zeigten sie russische Kosakenkostüme und bauten im Hintergrund so etwas wie eine Schneeverwehung nach", erzählt George Radkai, der früher Dekorateur bei Russeks war. "Ein anderes Mal hängten sie Wandteppiche auf und plazierten davor Dutzende von Schaufensterpuppen, verschwenderisch mit Pelzen und Schmuck ausstaffiert. Das war während der schlimmsten Phase der Wirtschaftskrise ein Wagnis. Von den anderen Warenhäusern auf der Fifth Avenue hatte keines besonders auffällige Schaufenster - sie wirkten eher öde -, und hier war Russeks und schien förmlich zu explodieren vor lauter Rokoko-Geglitzer und surrealistischer, aufregender Mode. Davids Fenster wirkten wie Bühnenbilder - nicht unähnlich den Photographien von George Platt Lynes oder von Hoyningen-Huene; sie waren auf ganz besondere Art ausgeleuchtet, um den Kontrast zwischen dem Schimmern eines Pelzes und einem Hut zu betonen, der mit Blüten übersät war. Die Leute drängten sich vor den Russeks-Schaufenstern."
Dennoch machte die Firma große Verluste, denn Nemerov weigerte sich, das zu tun, was Saks & Best?s taten - das Erdgeschoß in eine Vielzahl kleiner Verkaufsstände für Kosmetika, Schmuck, Handtaschen und Schals umzuwandeln. Wenn man das Russeks-Kaufhaus betrat, sah man als erstes nach wie vor die Pelzwaren. "Es herrschte dort Grabesstille", meint Dorothy Evslin. Trotzdem hielten die Nemerovs "die Fassade aufrecht" (Dianes Ausdruck) und gaben viele Parties und Empfänge in ihrem San-Remo-Apartment. Mindestens einmal pro Woche wurde eine zusätzliche Hausangestellte engagiert, die beim Servieren half, wobei unter den jeweils zwölf Gästen unweigerlich die Millers waren - immer noch die besten Freunde der Nemerovs. (Fragte man Miller, wie er seine Schuhfirma im Vergleich zu anderen einschätzte, antwortete er immer: "Wir sind vorwiegend vorherrschend.") Auch Zigarrenhersteller und Theaterbesitzer wurden eingeladen sowie Leute aus der Textilbranche, etwa Ben Zuckerman, der die Nemerovs oft besuchte. "Es war, als gehörte man zu einem großen Konzern", erzählt eine Jugendfreundin Dianes, deren Vater Immobilienkönig war und zum engsten Freundeskreis gehörte, der regelmäßig bei den Nemerovs dinierte.

Diese Männer waren meistens jüdische Einwanderer aus Polen oder Rußland, deren Eltern vor den Pogromen geflohen waren und sich aus den Slums der Lower East Side hinaufgearbeitet hatten in die "vergoldeten Gettos von Central Park West". Sie kultivierten denselben Snobismus wie die deutschen Juden der besseren Uptown-Wohnviertel - Bankiers wie Seligman, Warburg oder Schiff. Die Seligmans und die Schiffs hätten nie die Russeks oder Nemerovs eingeladen; das war eine Frage der Klassenzugehörigkeit. Um den Snobismus noch ein wenig weiter zu treiben, luden die Russeks nie die Eltern von David Nemerov ein, die in Brooklyn wohnten, und David Nemerov bat nur äußerst selten seinen Vater und seine Mutter in das San-Remo-Apartment. In diesem monströsen Apartment deutete nichts mehr auf mystischen Aberglauben oder Armut hin.
Diane und die meisten ihrer Freundinnen waren dazu erzogen worden, sich alle Fähigkeiten einer kultivierten englischen Lady des 18. Jahrhunderts anzueignen - Malen, Klavierspielen, Fremdsprachen, gute Manieren und umfassende Kunstkenntnisse. "Unsere Erziehung war ein kulturelles Phänomen", berichtet eine Klassenkameradin von Diane. "Es wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht unsere Eltern sehr schnell sehr viel Geld verdient und nicht gewußt hätten, wie sie damit umgehen sollten. Die Art der Reichtümer, über die unsere Familien verfügten, steigerte noch ihr Gefühl von Unzulänglichkeit, von persönlichem Versagen. Wir wuchsen in einer emotionalen Leere, geprägt von Schande, auf und erlebten nie ein Gefühl der Bestätigung - und diejenigen, denen man beigebracht hatte, sich anzupassen, litten unter einem zunehmenden Verlust an Selbstachtung."
Eine andere Jugendfreundin erinnert sich, daß sie, Diane und Renee wie auch andere junge Mädchen trotz der Wirtschaftskrise wie "jüdische Prinzessinnen" erzogen wurden. Sie hatten überaus beflissene "Kvelling Mamas", die ihnen ununterbrochen einredeten, daß sie etwas Besonderes seien - sie nahmen Tanzunterricht bei Viola Wolff, bekamen eine Zahnregulierung und einige mußten sich sogar einer Schönheitsoperation unterziehen, um die Form der Nase zu verändern. "Wir waren isoliert, wir wurden verhätschelt und verwöhnt, wir kannten nichts außer der Welt am Central Park West - so daß wir diese Welt als die normale betrachteten."
Sie erinnert sich auch an Dianes Reaktion, als sie beide als Teenager einmal auf Arthur Loews riesiges Grundstück an der Oyster Bay eingeladen wurden. Sie schwammen im Swimmingpool draußen im Freien und sahen sich anschließend eine Filmvorführung von Der Kleine Oberst an. "Wir unterhielten uns über den Eindruck, den dieser Nachmittag auf uns gemacht hatte, und plötzlich sah Diane mich an und rief aus: 'Ich bin ja Jüdin!' Als ob sie es vergessen hätte."
"Ich war mir bis jetzt nie bewußt gewesen, daß ich Jüdin bin", erklärte sie. "Ich wußte nicht, daß das ein Makel ist. Ich wuchs in einer jüdischen Stadt, in einer jüdischen Familie auf, mein Vater war ein reicher Jude, und ich besuchte eine jüdische Schule, und all dies verstärkte das Gefühl der Unwirklichkeit. Alles, was ich empfinden konnte, war ein Gefühl von Irrealität." (1967, nach ihrer ersten großen Ausstellung im Museum of Modern Art, erklärte Diane in einem "Newsweek"-Interview: "Es ist irrational, daß man zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort mit einer bestimmten Geschlechtszugehörigkeit geboren wird. Es ist irrational, wie sehr man die äußeren Umstände verändern - oder eben nicht verändern kann. Die Vorstellung, daß ich reich und als Jüdin geboren wurde, ist Teil dieser Irrationalität. Wenn man aber als jemand Bestimmter geboren wurde, kann man es wagen, es riskieren, zehntausend andere Möglichkeiten durchzuspielen.")
Aber obwohl ihr Judentum nie von zentraler Bedeutung für ihr Leben oder für das von Howard war (sie besuchten den Emanu-El-Tempel nur an religiösen Feiertagen und gingen nur ungern in die Sonntagsschule), war ihr Judentum doch eine Tatsache. Und die wurde jedes zweite Jahr auffällig demonstriert, wenn sie das Passahfest im Apartment von Meyer und Fanny Nemerov in Brooklyn feierten. Das war praktisch die einzige Gelegenheit, bei der sie ihre Großeltern väterlicherseits trafen, und sie fanden dies merkwürdigerweise irgendwie tröstlich. Inmitten von Einwanderern und den Söhnen und Töchtern von Einwanderern, die alle eine gemeinsame Vergangenheit hatten, war das Bewußtsein, jüdisch zu sein, von grundlegender Bedeutung.
Howard hat später, in Harvard, mit dem Gedanken gespielt, zum Katholizismus überzutreten ("aus albernen ästhetischen Gründen"). Doch er tat es nicht, und in seinen Gedichten* betont er häufig sein Judentum. Die vielleicht eindeutigste Aussage hierüber findet sich in seinem Gedicht Gespräch mit dem Rabbi, von dem ein Auszug hier zitiert sei:

Der Rabbi rief Störrischer, halsstarriger Mann!
Du bereitest mir Schmerz, antwortete ich.
Statt Dich zu beugen, sagte er,
Pflegst Du Deinen Starrsinn noch mehr.
So sind wir Juden, erwiderte ich.


Später machte Diane Dutzende von Photos von jüdischen Matronen: Auf diese Weise erforschte sie nicht nur deren kollektive Erinnerungen, sondern auch die Beziehung zwischen Rollenverhalten und kultureller Identität. Später empfand sie dann eine gewisse Affinität zu dem berühmten Modephotographen Richard Avedon, da auch dessen Vater - ein russischer Einwanderer - ein Modegeschäft in der Fifth Avenue besaß. Sie lachte jedesmal, wenn Garry Winogrand bemerkte: "Die besten Photographen sind Juden!"
Einige Zeit später machte sie dann zusammen mit Ben Fernandez Aufnahmen von Angehörigen der amerikanischen Nazi-Partei in Yorkville. Schwer beladen mit ihren Kameras, hörte sie sich die bösartigen antisemitischen Tiraden des Parteivorsitzenden an. Sie zeigte jedoch keinerlei Reaktion; sie hörte nur aufmerksam zu und beobachtete, beobachtete sehr genau. Und sie traf Vorbereitungen, um die Nazis zu photographieren. Und sie waren von ihr entzückt.
"Für Diane war die reale Welt immer eine Phantasiewelt", meinte eine Freundin.

Mit freundlicher Genehmigung des DuMont Literatur und Kunst Verlages

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