Vorgeblättert

Neal Stephenson: Quicksilver. Teil 1

21.09.2004.
(Seite 244 - 260)

Die Kutsche hielt an. Pepys stieg aus. Daniel lauschte auf das leiser werdende Klack-klack-klack seiner glattsohligen Stiefel auf den Pflas-tersteinen.Wilkins starrte ins Leere, versuchte nicht zu entschlüsseln, was immer Pepys gesagt hatte.
In einer Kutsche durch London zu fahren war nur geringfügig besser als von Männern mit Knütteln systematisch verprügelt zu werden - Daniel hatte das Bedürfnis, sich zu strecken, stieg deshalb ebenfalls aus, drehte sich um - und stellte fest, dass er eine Allee entlangblickte, die geradewegs auf die Vorderseite des St. James?s Palace zuführte, ein paar Hundert Ellen entfernt. Er drehte sich um hundertachtzig Grad und erblickte Comstock House, einen atemberaubenden gotischen Klotz, der sich zwischen Gärten und Pflastersteinen emporwuchtete. Pepys? Kutsche war von der Piccadilly in eine Nebenstraße eingebogen und hatte im Vorhof des Anwesens gehalten. Daniel bewunderte dessen Lage. Wenn Comstock wollte, konnte er sich mitten in seinen Vordereingang stellen und eine Muskete abfeuern, einen Schuss quer durch seinen Garten, zu seinem Haupttor hinaus, über die Piccadilly hinweg, genau die Mitte einer von Bäumen gesäumten, pseudoländlichen Allee entlang, quer über die Pall Mall und geradewegs in den Haupteingang des St. James?s Palace hinein, wo er wahrscheinlich jemand sehr gut Gekleideten treffen würde. Steinmauern, Hecken und schmiedeeiserne Gitter waren so raffiniert angeordnet, dass sie die Sicht auf die Piccadilly und die benachbarten Häuser versperrten und den Eindruck verstärkten, Comstock House und der St. James?s Palace gehörten ein und demselben Familienverbund an.
Daniel schob sich zu Comstocks Eingangstor hinaus und stand am Rand der Piccadilly, den Blick nach Süden, auf den St. James?s Palace gerichtet. Er konnte einen Gentleman mit einer Tasche den Palast betreten sehen - wahrscheinlich ein Arzt, der gekommen war, um ein paar Liter Blut aus Anne Hydes Jugularvene abzuzapfen. Links von ihm, ungefähr in Richtung Fluss, befand sich offenes Gelände - mittlerweile eine riesige Baustelle mit einer Seitenlänge von etwa einer Meile, an deren gegenüberliegender Ecke Charing Cross lag. Da es Nacht war und keine Arbeiter da waren, schien es, als wüchsen Steinfundamente und Mauern aufgrund irgendeines Vorgangs von Urzeugung aus dem Boden, wie Pilze, die mitten in der Nacht aus dem Boden schießen.
Von hier aus war es möglich, Comstocks Haus in seine Umgebung einzuordnen: Eigentlich war es nur eines von mehreren vornehmen Häusern, die gegenüber dem St. James?s Palace entlang der Piccadilly aufgereiht waren wie zur Parade angetretene Soldaten. Dazu zählten unter anderem Berkeley House, Burlington House und Gunfleet House. Aber nur Comstock House hatte den direkten Palastblick die Allee hinunter.
Er spürte ein riesiges Tor knirschend aufgehen, hörte würdevolles Gemurmel und sah, dass John Comstock, Arm in Arm mit Pepys, aus seinem Haus getreten war. Er war dreiundsechzig Jahre alt, und Daniel hatte den Eindruck, dass er sich ganz leicht auf Pepys stützte. Aber er war mehr als einmal in der Schlacht verwundet worden, sodass man nicht unbedingt auf Altersschwäche schließen konnte. Daniel sprang zur Kutsche, holte Isaacs Fernrohr heraus und ließ es vom Kutscher sicher auf dem Dach verstauen. Dann setzte er sich zu den anderen dreien, die Kutsche wendete und ratterte quer über die Piccadilly und die Allee entlang auf den St.James?s Palace zu.
John Comstock, Earl von Epsom, Präsident der Royal Society und Berater des Königs in allen naturphilosophischen Fragen, trug eine persische Weste - ein schweres, rockartiges Kleidungsstück, das zusammen mit der Krawatte der letzte Schrei bei Hofe war. Pepys war ähnlich ausstaffiert, Wilkins trug vollkommen altmodische Kleidung, und Daniel war wie üblich als mittelloser, wandernder Puritaner von vor zwanzig Jahren gekleidet. Nicht, dass irgendwer ihn beachtete.
"So spät noch bei der Arbeit?", wollte Comstock von Pepys wissen, dessen kleidung er offenbar irgendeinen Hinweis entnahm.
"Das Zahlamt hat in letzter Zeit außerordentlich viel zu tun", sagte Pepys.
"Der König war mit Geldangelegenheiten beschäftigt - jedenfalls bis vor kurzem", sagte Comstock. "Jetzt ist er darauf bedacht, seine Aufmerksamkeit wieder seiner ersten Liebe zuzuwenden - der Naturphilosophie."
"Dann haben wir etwas, das ihn entzücken wird - ein neues Fernrohr", begann Wilkins.
Aber Fernrohre standen nicht auf Comstocks Tagesordnung, deshalb ignorierte er die Abschweifung und fuhr fort: "Seine Majestät hat mich beauftragt, morgen Abend in Whitehall Palace eine Versammlung einzuberufen. Der Herzog von Gunfleet, der Bischof von Chester, Sir Winston Curchill, Ihr, Mr. Pepys und ich sind eingeladen, zusammen mit dem König einer Demonstration beizuwohnen: Enoch der Rote wird uns Phosphorus zeigen."
Kurz vor dem St. James?s Palace bog die Kutsche nach links auf die Pall Mall ab und fuhr weiter in Richtung Charing Cross.
"Lichtträger? Was ist das?", fragte Pepys.
"Eine neue elementare Substanz", sagte Wilkins. "Sämtliche Alchimisten auf dem Kontinent sind ganz aus dem Häuschen darüber."
"Woraus ist sie gemacht?"
"Sie ist aus nichts gemacht - das bedeutet elementar!"
"Von welchem Planeten stammt sie? Ich dachte, sämtliche Planeten wären schon vergeben", wandte Pepys ein.
"Enoch wird es erklären."
"Hat sich denn in der anderen Angelegenheit der Royal Society etwas getan?"
"Ja!", sagte Comstock. Er schaute Wilkins in die Augen, bedachte Daniel jedoch mit einem ganz kurzen Seitenblick. Wilkins antwortete mit einem ähnlich kurzen Nicken.
"Mr. Waterhouse", sagte Comstock, "ich freue mich, Euch folgende Order von Lord Penistone* übergeben zu dürfen", und er zog ein furchteinflößendes Dokument hervor, an dessen unterem Rand ein dickes Wachssiegel baumelte. "Zeigt dies morgen Abend den Wachen am Tower - und während wir uns am einen Ende von London befinden und der Demonstration des Phosphors beiwohnen, werdet Ihr und Mr. Oldenburg am anderen zusammenkommen, damit Ihr Euch um seine Bedürfnisse kümmern könnt. Ich weiß, dass er neue Saiten für seine Theorbe braucht - Federkiele - Tinte - bestimmte Bücher - und dann gibt es natürlich noch eine gewaltige Menge ungelesener Post."
"Das heißt, von GRUBENDOL ungelesen", scherzte Pepys.
Comstock drehte sich um und bedachte ihn mit einem Blick, bei dem Pepys zumute sein musste, als starre er direkt in den Lauf einer geladenen Kanone.
Daniel Waterhouse wechselte einen kurzen Blick mit dem Bischof von Chester. Jetzt wussten sie, wer Oldenburgs Briefe aus dem Ausland las: Comstock.
Comstock wandte sich um und lächelte Daniel höflich - aber nicht liebenswürdig - an. "Ihr wohnt im Hause Eures älteren Halbbruders?"
"So ist es, Sir."
"Ich werde die Sachen morgen früh dorthin schicken lassen."
Die Kutsche fuhr am Südrand von Charing Cross entlang und hielt vor einem schönen neuen Stadthaus. Daniel, dessen Relevanz sich offensichtlich erschöpft hatte, wurde auf die denkbar artigste und höflichste Weise aufgefordert, aus der Kutsche auszusteigen und auf dem Dach Platz zu nehmen. Er tat es und stellte, ohne sich eigentlich darüber zu wundern, fest, dass sie vor dem Apothekerladen von Monsieur LeFebure, dem Chemiker des Königs, angehalten hatten - ebenjenem Haus, in dem Isaac den größten Teil des Vormittags zugebracht und eine sorgfältig inszenierte Zufallsbegegnung mit dem Earl von Upnor gehabt hatte.
Die Eingangstür ging auf, heraus trat ein Mann in langem Mantel, dessen Silhouette sich vor dem Lampenlicht von drinnen abzeichnete, und näherte sich der Kutsche. Als er den aus dem Haus dringenden Lichtschein hinter sich ließ und durch die Dunkelheit schritt, war zu erkennen, dass der Saum seines Mantels und seine Fingerspitzen in einem seltsamen grünen Licht schimmerten.
"Gut, dass ich Euch treffe, Daniel Waterhouse", sagte er, und ehe Daniel antworten konnte, war Enoch der Rote schon in die Kutsche eingestiegen und schloss den Schlag hinter sich.
Die Kutsche folgte einfach der Biegung von Charing Cross, sodass sie an das eine Ende des langen, gepflasterten Platzes vor Whitehall gelangten. Sie hielten direkt auf das Holbein Gate zu, ein gotisches Schloss mit vier Türmen, das höher als breit war und das andere Ende des Platzes beherrschte. Ein Gewirr unscheinbarer Giebel und Schornsteine verbarg die großen Flächen zu ihrer Linken: zuerst Scotland Yard, ein unregelmäßiges Mosaik aus Holzhöfen, Brühplätzen und Apfelweinkellern, übersät mit Kohlenhaufen und Holzstapeln, und danach der große Palasthof. Rechts von ihnen - wo es in Daniels Kindheit nichts als Park und eine Aussicht auf den St. James?s Palace gegeben hatte - erhob sich nun eine lange, bis auf die Schießscharten undurchbrochene Steinmauer von doppelter Mannshöhe. Weil Daniel auf dem Kutschendach saß, konnte er über der Mauerkrone ein paar Äste und die Dächer der Holzgebäude sehen, die Cromwell dahinter hatte errichten lassen, um seine Gardekavallerie unterzubringen. Der neue König hatte - vielleicht in Erinnerung daran, dass sich auf diesem Platz einst eine Menschenmenge gedrängt hatte, um der Enthauptung seines Vaters zuzusehen - beschlossen, die Mauer samt Schießscharten und Gardekavallerie beizubehalten.
Links zog das Great Gate, das große Palasttor, vorbei und gewährte einen flüchtigen Blick in den Great Court, den Haupthof, und auf ein, zwei zum Fluß hin liegende große Hallen und Kapellen. Mehr oder weniger gut gekleidete Fußgänger gingen in Zweier- und Dreiergrüppchen bei diesem Tor ein und aus und bedienten sich dabei eines öffentlichen Durchgangs, der über den Great Court führte (wo er sogar nachts als tief in den Boden gefurchter Pfad sichtbar war), sich schließlich zwischen verschiedenen Palastgebäuden und durch sie hindurch schlängelte und an den Whitehall Stairs endete, wo Fährleute mit ihren kleinen Booten anlegten, um Fahrgäste aufzunehmen und abzusetzen.
Dann wurde der Blick durch das Great Gate von der Ecke des Banqueting House verdeckt, einer riesigen weißen Schnupftabakdose von einem Gebäude, die man nachts meist dunkel ließ, damit die drallen Göttinnen, die Rubens an die Decke gemalt hatte, nicht von Fackelund Kerzenrauch geschwärzt wurden. Heute Nacht brannten drinnen ein, zwei Fackeln, und Daniel konnte durch ein Fenster hindurch flüchtig Minerva erblicken, wie sie den Aufstand erstickte. Aber die Kutsche war mittlerweile fast am Ende des Platzes angelangt und bremste ab, denn dies war eine derart erbärmliche ästhetische Sackgasse, dass sogar den Pferden leicht schwummrig davon wurde: unmittelbar vor ihnen die alten, pseudoholländischen Giebel von Lady Castlemaines Quartier; zur Rechten der gedrungene gotische Bogen des Holbein Gate, dessen mittelalterliche Schlosstürme hoch über ihre Köpfe ragten; zu ihrer Linken noch immer das im Stil der italienischen Renaissance gehaltene Banqueting House; und diesem gegenüber die mit Schießscharten versehene und ansonsten undurchbrochene Steinmauer, die noch am ehesten dem entsprach, was man als eigenständigen architektonischen Stil der Puritaner bezeichnen könnte.
Das Holbein Gate führte auf die King Street, und diese wiederum würde sie zu einer Art Pied-a-terre bringen, das Pepys in diesem Viertel besaß. Doch stattdessen manövrierte der Kutscher sein Gespann in eine diffizile Abzweigung nach links und sodann in eine dunkle, abwärts führende Durchfahrt, die kaum breiter war als die Kutsche selbst und hinter dem Banqueting House in Richtung Fluss verlief.
Nun konnte jeder Engländer in anständiger Kleidung in Whitehall Palace fast überall hingehen, selbst durch das Vorzimmer des Königs - eine Praxis, die nach Meinung des europäischen Adels über Vulgarität weit hinausging und schon tief im Reich des Bizarren anzusiedeln war. Dennoch war Daniel diesen Engpass, der ihm immer als unpassender Ort für einen jungen Puritaner erschienen war, nie hinabgegangen - er war sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt einen Ausgang gab, und stellte sich immer vor, dass Leute wie der Earl von Upnor dorthin gingen, um sich an Dienstmägden zu vergreifen oder Degenduelle auszutragen.
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* Kein anderer als Knott Bolstrood, der aus protokollarischen Gründen geadelt worden war, als der König ihn zum Minister ernannt hatte - der König hatte beschlossen, ihn zum Grafen Penistone zu machen, weil Bolstrood, der Ultrapuritaner, auf diese Weise nicht mit seinem Namen unterzeichnen konnte, ohne das Wort 'Penis' zu schreiben.

Teil 2