Vorgeblättert

Nina Jäckle: Noll, Teil 1

01.03.2004.
Eins

Wie das wohl ist für einen, der den letzten Augenblick gesetzt hat, wie man einen Punkt setzt, nach dem beendeten Satz. Wie das wohl ist, wenn einer geht.
Ein letztes Mal den Hörer des Telefons auflegen, ein letztes Mal den Stuhl unter den Tisch schieben, ein letztes Mal der Griff nach dem Mantel am Haken neben der Tür.
Wie das wohl ist, wenn einer geht, zuvor jedoch die täglichen Dinge tut, unwichtige Handgriffe, die plötzlich etwas Abschließendes bedeuten, das Spülen des Geschirrs, das Einräumen der Wäsche in die Kommode, das Abschalten des Radios.
Noll hält ein Glas Marmelade in der Hand, dann jedoch stellt er das Glas wieder in das Regal zurück.Er nimmt noch eine zweite und noch eine dritte Tasse Milch, obwohl er keinen Durst mehr hat, und Noll trinkt, bis die Milchtüte leer ist, nichts soll angebrochen zurückbleiben. Irgendwann dann wird Noll pünktlich die Wohnung verlassen.
Wie das wohl ist, ein letztes Mal mit dem besten Freund in einer Bar zu stehen, zu lächeln, wie immer, Geschichten zu hören, wie immer, zu erzählen, wie immer, ohne sich das Wissen um den selbst gewählten Augenblick anmerken zu lassen, oder aber während des letzten Händedrucks auf der Straße ein nächstes Treffen mit dem Freund zu vereinbaren, in dem Wissen darum, dass es nicht stattfinden wird. Nicht zusammenzufassen, in diesem Moment, nach all den Jahren Freundschaft.
Wie das wohl gehen mag, nicht doch zu zögern und die Hand des Freundes zu lange und zu fest zu drücken.Bis dann zu sagen, mach es mal gut.
Nolls Blick in den Spiegel ist anders als sonst, ein Abrufen der Momente, während er sein Gesicht betrachtet. Noll entfernt die Haare aus dem Kamm und behält sie lange in der Hand, als wollte er nichts mehr abgeben von sich.
Zuerst war der selbst gewählte Augenblick ein Datum. Mittlerweile ist er ein Wochentag geworden, ein Dienstag irgendwann, ein Dienstag in ein paar Wochen, morgen.
Man muss es sich vorstellen, wie das wohl ist, wenn irgendwo in dieser Stadt einer die Augen aufschlägt und weiß, morgen wird es sein, und er bleibt noch einen Moment im Bett liegen. Morgen, denkt Noll, und er dreht sich nicht auf die andere Seite, wie es jetzt Gewohnheit wäre, um noch ein paar Minuten zu schlafen. Ein paar Minuten, denkt Noll, und er streckt die Beine aus, die Arme, dann steht er auf.

Vielleicht wird jemand anrufen, vielleicht wird Nolls Schwester anrufen, um einen Streit weiterzuführen, doch es wäre Noll kein Streit möglich. Was ist denn nur mit dir, würde die Schwester lachen, versöhnt, ohne zu wissen, weshalb.
Mit der Mutter wird Noll nicht sprechen, die Mutter würde es bemerken, sie würde es sofort wissen. Nolls Mutter würde über die Nachbarschaft sprechen, oder über das Essen und all die Gäste, sie würde etwas über die Familie zu berichten haben, und plötzlich würde die Mutter während des Sprechens wissen, wie unwichtig alles geworden ist.
Es gibt Verpflichtungen in Nolls Leben, so zum Beispiel der Hund, und Noll fährt bereits Wochen vor dem selbst gewählten Dienstag aus der Stadt heraus und er sucht auf dem Land nach einer Bleibe für das Tier. Der Hund lässt Noll nicht aus den Augen, er verfolgt jeden der Handgriffe, während sie von Dorf zu Dorf fahren, auf der Suche nach einer Familie, der die Begründung, ein Hund gehöre nicht in die Stadtwohnung, ausreicht, um das Tier aufzunehmen.

Noll setzt sich an den Tisch in der Küche und er will nicht aufhören zu lächeln und so erinnert er sich an die Zeit in dem elterlichen Haus, an die Zeit, als Noll und die Schwester heimlich den Fernseher anschalteten, spätabends, sobald die Eltern einmal nicht zu Hause waren. Sie sahen die verbotenen Filme, die sie über Wochen weiterträumten. Verschwitzt erwachten sie oder sie weckten sich gegenseitig, weil sie im Traum gesprochen hatten, doch sie durften den Eltern nicht von ihrer Furcht erzählen, das hätte sie verraten.
Noll erinnert sich an sein erstes eigenes Zimmer, er bezog es zur Weihnachtszeit, ein großes Zimmer im Kellergeschoss des Hauses, mit separater Eingangstür. Da kannst du sehen, wie sehr wir dir vertrauen, hatte Nolls Mutter gesagt, ein Zimmer mit eigenem Ein- und Ausgang bekommst du von uns.
Noll nimmt die Tüte mit dem Müll, er bringt sie hinunter in den Innenhof des Hauses.
Wie das wohl sein mag, wenn einer geht, zuvor jedoch die täglichen Dinge tut, die plötzlich etwas Abschließendes bedeuten. Noll setzt sich wieder an den Tisch und er will nicht aufhören sich zu erinnern.
Noll zog im Kellergeschoss des Hauses ein, die Kisten mit Spielzeug brachte er auf den Dachboden, die Freunde kamen durch die eigene Tür herein und durch die eigene Tür gingen sie auch wieder hinaus, die Schwester durfte Nolls Zimmer nicht betreten. Eines Abends ließ Noll die Kerzen des Adventskranzes auf dem Tisch brennen und so war plötzlich Rauch überall.
Noll sitzt in der Küche an dem Tisch aus Holz, in dessen Mitte eine adventskranzgroße Stelle ausgebessert worden war, und Noll denkt an sein erstes eigenes Zimmer, das er einige Zeit nicht bewohnen konnte wegen des Gestanks nach kaltem Rauch. Nolls Vater stand an dem Fenster und er griff nach dem Vorhang, du wirst nicht auch noch die Vorhänge dran glauben lassen, schrie die Mutter den Vater an, sie hatte bereits einen Eimer voll Wasser in der Hand und das Wasser zischte und es stieg eine schwarze Säule auf, bis hin zur Zimmerdecke.

Das war, kurz bevor der Vater sich den Bart abrasierte, kurz bevor er Gewohnheiten und Rasierwasser wechselte, den Bauch einzog und vor dem Spiegel den Sitz der Frisur überprüfte. Das war, kurz bevor die Mutter sich vornahm, jeden Abend wach zu bleiben, so müde sie auch war, sie trank Kaffee und wartete bis spät in die Nacht hinein, um dann auf die Uhr sehen zu können, sobald der Vater endlich nach Hause gekommen war.

Teil 2