Vorgeblättert

Pawel Huelle: Castorp. Teil 1

14.01.2005.
III

Das erste war ein kleiner Streit mit dem Schaffner, auf der Plattform der Straßenbahn Linie 2. Diese schnurrbärtige, nach feuchtem Tuch und Tabak riechende Person fragte - statt dem jungen Passagier, wie dieser es verlangte, eine Fahrkarte nach Langfuhr, das heißt, bis zur Haltestelle im Kastanienweg zu verkaufen - statt dessen also verlangte der Schaffner von Castorp, er solle ihm sagen, in welche Zone er zu fahren gedenke. Das war eine so unerwartete, eine so dumme und unverschämte Forderung, daß der junge Mann mit erhobener Stimme verkündete, er sei nicht von hier und es werde wohl genügen, den Namen der Haltestelle zu nennen, zu der er wolle.

"Sind Sie sich da sicher?" fragte der Schaffner und verkaufte seine Fahrkarten an die nächsten Passagiere, als sei nichts geschehen, gab das Restgeld heraus und lochte die kleinen rechteckigen Kärtchen den Wünschen entsprechend - "Olivaer Tor" - "zweimal Polytechnikum" - "einmal Endstation" -, was Hans Castorp noch mehr aufbrachte, da dieser demonstrativ unhöfliche Mensch in Uniform nur von ihm die Angabe der Zone verlangte, während er die anderen Fahrgäste freundlich und zuvorkommend behandelte. Die Straßenbahn hielt schon das zweite Mal an, Leute stiegen aus und ein, und Castorp stand unentschlossen mit einer Handvoll Kleingeld da, in dem Bewußtsein, daß er in dieser Situation lächerlich, ja erbärmlich aussah.

"Sie lehnen es also ab, mir eine Fahrkarte zu verkaufen?" fragte er schließlich so laut, daß man ihn zumindest in den nächsten Reihen hören konnte, "soll ich fahren, ohne zu zahlen?!"

"Am Kastanienweg gibt es keine Haltestelle", erwiderte der Schaffner ebenso laut, "woher soll ich wissen, wo Sie aussteigen wollen?"

Eine Hitzewelle stieg Castorp zu Kopf. Noch nie war er einer so unverblümten, öffentlich demonstrierten Arroganz zum Opfer gefallen, auf die er, was noch schlimmer war, nicht unmittelbar zu reagieren wußte. Konnte man mit diesem schrecklichen Menschen denn kultiviert umgehen? Das heißt, ihm zunächst mit aller Ehrerbietung erklären, sein Benehmen sei völlig unangemessen, um dann zu den Einzelheiten überzugehen, nämlich denen, die aus Frau Wibbes Brief resultierten, wo schwarz auf weiß geschrieben stand, daß es am Kastanienweg eine Haltestelle gebe? Zum ersten Mal in seinem Leben empfand Hans Castorp - wie man in seinen Kreisen in solchen Fällen zu sagen pflegte - die Notwendigkeit, jemandem eine Lektion zu erteilen - ja, man hätte, in diesem Sinne, streng die Stirn runzeln und in einem keinen Widerspruch duldenden Ton noch lauter sagen müssen: "Ihre Dienstnummer, bitte! Das ist unerhört, Sie haben wohl vor, ihre Stelle aufzugeben? Ich werde mich noch heute bei der Direktion beschweren!" Doch statt irgend etwas zu sagen, setzte sich Hans Castorp auf den nächsten freien Platz und schaute, das Gesicht dicht an die Fensterscheibe gepreßt, zerstreut auf das Spalier der hundertjährigen Linden, hinter denen sich die Fahrbahn der Allee und der Friedhof erstreckten. Das Bewußtsein, daß er ohne Fahrkarte fuhr, wenn auch ohne jegliche eigene Schuld, setzte ihm schwer zu. Nach dem, was vorgefallen war, konnte er jedoch auf gar keinen Fall den Schaffner noch einmal ansprechen, das wäre, wie sein französisches Kindermädchen, Madame Choissel, zu sagen pflegte, tout a fait impossible gewesen. Er dachte auch über den seltsamen Akzent des Schaffners nach: Er erinnerte keinesfalls an das Platt, in dem der Großvater, Senator Hans Lorenz Castorp, gewöhnlich mit seinem Diener Fiete redete. Auch jenen sonderbaren Lauten aus dem Süden, die er als kleiner Junge bisweilen im Hamburger Kontor seines Vaters gehört hatte, wenn ihn Geschäftsleute aus Bayern besuchten, war er nicht im mindesten ähnlich. Der Akzent des Schaffners gehörte in eine vollkommen andere, gesonderte Kategorie, die unserem Helden in diesem Moment außergewöhnlich abstoßend vorkam, fremd und feindlich zugleich. Zu allem Überfluß erklang in einem Winkel seines Gedächtnisses eine biblische Phrase, die er vor langer Zeit, wahrscheinlich bei den häuslichen Vorbereitungen auf die Konfirmation, einmal gelesen hatte. Der Satz lautete: "Mißachte seine Sprache nicht", doch aus welchem Buch er stammte und ob er ihn als Kommentar zu der Situation in der Straßenbahn betrachten sollte - auf diese Fragen fand er keine Antwort. Bedrückt von all dem, registrierte er fast unbewußt das Gebäude der Technischen Hochschule, an dem sie gerade vorbeifuhren. Wäre es - wie ein paar Stunden zuvor die Stadt - während seiner euphorischen Stimmung vor ihm aufgetaucht, so hätte er sicher seine subtile, durchdachte Schönheit zu schätzen gewußt, die in einer Verbindung der jahrhundertealten örtlichen Tradition mit der Idee der Moderne bestand. Doch jetzt konnte ihn kein Maßwerk und keine Attika bezaubern. Er dachte nur: "Und das soll meine Schule sein, so etwas..." Dabei empfand er eine Art innerer Beschämung, ganz so, als müßte er seinem Onkel, Konsul Tienappel, lauthals Recht geben, was seine gegenwärtige, bedauernswerte Lage natürlich nicht zuließ. Womöglich wäre er in seiner Verwirrung zur Endstation beim Straßenbahndepot gefahren, wäre nicht eine junge Dame in einem schicken Hut gewesen, die sich über die Lehne beugte und mit freundlicher Stimme sagte: "Gleich kommt die Haltestelle am Ahornweg, mein Herr. Da ist der Eingang in den Kastanienweg, auf der anderen Seite der Gleise!"


Castorp murmelte ein kaum hörbares "danke" und verließ die vordere Plattform der Straßenbahn. Es kam ihm vor, als seien alle Blicke der Passagiere auf ihn gerichtet. Mit diesem unangenehmen Gefühl überquerte er die gepflasterte Fahrbahn und fand ohne Mühe das ansehnliche, noch nach frischem Putz riechende Eckhaus. Die großen Fenster und die ausladenden Balkone auf allen Stockwerken, die an heißen Tagen den Bewohnern die Möglichkeit gaben, sich zu erholen, ohne das Haus verlassen zu müssen, all das machte auf den jungen Mann den besten Eindruck. Der Zwischenfall mit dem Schaffner war zwar nicht vergessen, aber sein Gewicht verblaßte angesichts der jetzigen, neuen Situation. Als Castorp über die breiten, mit einem braunen Läufer bedeckten Stufen des Treppenhauses hinaufging, hielt er auf dem Zwischenstockwerk an, wo ein großer, in Stuck gerahmter Spiegel wie im Foyer eines Theaters seine Gestalt erfaßte. Instinktiv fuhr er sich mit der Hand über den Scheitel und über den Kragen. Es war ein sonderbarer Moment für ihn. Plötzlich wurde ihm in voller Schärfe etwas Offensichtliches bewußt, was er vorher gar nicht bedacht hatte: Er würde zum ersten Mal bei völlig unbekannten Menschen wohnen. Nicht im Hotel oder in der Pension, wo man gegen Bezahlung Dienstleistungen sowie einen Ersatz für die eigenen Räumlichkeiten erhält, sondern inmitten eines fremden Lebens mit einer ganzen Skala fremder Geräusche und Gerüche. Und wenn auch mit dieser Beobachtung keine konkrete Befürchtung verbunden war - beispielsweise, wie er nach dem Waschen vom Bad in sein eigenes Zimmer gelangen würde -, so erschien ihm allein die Tatsache der großen, ja permanenten Nähe der Körperlichkeit fremder Menschen, mit denen ihn nichts verbinden würde, plötzlich als etwas unerhört Schwieriges, um nicht zu sagen Unmögliches. Mit nicht ganz unbeschwertem Herzen schritt er also noch ein halbes Stockwerk höher, um endlich den Porzellanknopf der elektrischen Klingel zu drücken, die zu jener Zeit in einer Provinzstadt ein Zeichen modernen Wohlstands sein mußte. "Zu wem wollen Sie?" hörte er die gedämpfte Stimme eines Mädchens durch den Türspalt, "die Dame des Hauses ist nicht hier, wir kaufen nichts, gehen Sie weg!"

"Ich bin Hans Castorp", sagte er, "ich habe mit Frau Wibbe wegen eines möblierten Zimmers korrespondiert! Man hat mein Gepäck hierhergebracht!" Den letzten Satz sprach Castorp gezwungenermaßen etwas lauter aus, denn er redete gegen die geschlossene Tür. Da er sein Verhalten für keineswegs tadelnswert hielt, drückte er ein zweites Mal den Klingelknopf, diesmal länger als beim ersten Mal. Und ebenfalls länger als beim ersten Mal mußte er auf das Dienstmädchen warten.

"Ich weiß von nichts." Diesmal sah sie ihn genauer an. "Die Herrin sagt mir nicht immer alles. Gepäck? Man hat nichts gebracht, mein Herr, oder vielleicht..."

"Wie bitte?" fiel er ihr ins Wort. "Ich habe doch genau die Adresse angegeben, Kastanienweg 1, erster Stock, Vorderhaus, Frau Hildegard Wibbe, Witwe des Oberleutnants im Kaiserlichen Regiment der Husaren. Stimmt's?"

Das Dienstmädchen nickte, aber das nützte nicht viel.

"Deine Herrin will ein möbliertes Zimmer vermieten, und du weißt nichts davon? Hat sie dir nicht gesagt, du sollst das Bett machen? Staub wischen? Blumen in eine Vase stellen?"

Das Gesicht des Mädchens verriet zwar eine gewisse Verlegenheit, aber ihr Schweigen brachte ihn nicht weiter. Ungeduldig fragte Castorp schließlich, wann er Frau Wibbe unfehlbar antreffen könne, denn er müsse auf jeden Fall mit ihr sprechen.

"Unfehlbar?" wiederholte das Mädchen lachend, denn das Wort, das der junge Herr gebraucht hatte, amüsierte sie. "Was weiß ich, vielleicht in einer Stunde, vielleicht in zwei. Die Herrin sagt mir nicht, wann sie aus der Stadt zurückkommt. Das Mittagessen ist immer um drei."

Teil 2