Vorgeblättert

Reginald Hill: Die dunkle Lady meint es ernst, Teil 1

25.08.2003.
                                                                                                1. Januar

Lieber Mr Dalziel,
Sie kennen mich nicht. Warum sollten Sie? Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich mich selbst nicht kennen. Kurz vor Weihnachten schlenderte ich über den Markt, da blieb ich auf einmal wie angewurzelt stehen. Die Leute rempelten mich an, aber das war mir egal. Ich war nämlich wieder zwölf und trug gerade ganz behutsam Milch, die ich auf einem Bauernhof geholt hatte, in einem Krug über eine Wiese in der Nähe von Melrose Abbey. Vor mir sah ich unser Zelt und unser Auto sowie meinen Vater, der sich im Außenspiegel rasierte, und meine Mutter, die sich über den Campingkocher beugte. Der Duft des gebratenen Specks stieg mir in die Nase. Er roch so gut, daß mir der leckere Geschmack in den Sinn kam und ich vermutlich unwillkürlich einen Schritt zulegte. Im Nu verfing sich mein Fuß in einem Grasbüschel, so daß ich stolperte und die Milch nach allen Seiten spritzte. Für mich ging fast die Welt unter, doch meine Eltern lachten nur. Sie reichten mir einen riesigen Teller mit Speck, Eiern, Tomaten und Pilzen, und zu guter Letzt war es fast so, als liebten sie mich, da ich die Milch verschüttet hatte, mehr, als wenn ich sie heil zu ihnen gebracht hätte. 
Da stand ich also wie ein Idiot, war allen im Weg, während ich innerlich wieder zwölf war und mich unendlich geliebt und behütet fühlte. Und wie war es dazu gekommen? 
Ich war am Marktcafe vorübergegangen, und der Ventilator hatte den Geruch gebratenen Specks in die kühle Morgenluft gewirbelt. Wie kann ich also sagen, daß ich mich kenne, wenn ein schlichter Duft mich in andere Welten versetzen kann?      
Sie hingegen kenne ich. Nein, wie arrogant das klingt, nach dem, was ich soeben geschrieben habe! Was ich meine, ist, daß man mir Sie gezeigt hat. Und ich habe zugehört, wenn die Leute über Sie sprachen. Eine ganze Menge, genaugenommen das meiste, war nicht gerade ein Kompliment für Sie, aber ich schreibe hier keinen Schmähbrief und will Sie nicht kränken, indem ich es wiederhole. Doch selbst diejenigen, die keinen guten Faden an Ihnen ließen, räumten ein, daß Sie gute Arbeit leisten und sich nicht scheuen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Ach ja, und es hieß auch, daß Sie für Dummköpfe nicht unbedingt eine Schwäche hätten. 
Nun, für den Dummkopf hier brauchen Sie keine Schwäche zu haben. Ich schreibe Ihnen nämlich, weil ich mich umbringen will. 
Ich meine nicht sofort. Doch irgendwann demnächst, mit Sicherheit im Lauf der kommenden zwölf Monate. Es ist so eine Art guter Vorsatz fürs neue Jahr. Doch bis es soweit ist, brauche ich einen Menschen, dem ich mein Herz ausschütten kann. Natürlich kommt niemand in Frage, den ich persönlich kenne. Auch keine Ärzte, Psychiater und wer sonst noch das Helfen zu seinem Beruf gemacht hat. Mein Brief ist nämlich nicht der berühmte Hilfeschrei. Mein Entschluß steht fest. Es geht nur noch darum, den Termin zu bestimmen. Doch ich verspüre den merkwürdigen Drang, über mein Vorhaben zu reden, Andeutungen fallenzulassen und Winke mit dem Zaunpfahl zu geben. Gegenüber Freunden wäre das aber ein zu gefährliches Spiel. Für meine Ergüsse brauche ich ein Ventil, das ich steuern kann. Und dafür habe ich Sie erkoren. 
Es tut mir leid. Dergleichen ist immer eine große Belastung. Doch bei dem, was die Leute über Sie reden, kam auch heraus, daß meine Briefe für Sie nichts weiter als ein Fall sein werden. Möglicherweise irritierend, aber keine Gefährdung Ihres Schlafs! 
Ich hoffe, daß ich Sie richtig einschätze. Einem fremden Menschen Leid zuzufügen wäre das letzte, was ich wollte - insbesondere da ich weiß, daß meine allerletzte Handlung darin bestehen wird, meinen Freunden Leid zuzuzfügen.

                                                                                 Ein frohes neues Jahr!

EINS

Ich verstehe noch immer nicht, warum sie sich erschossen hat", sagte Peter Pascoe verbohrt. 
"Weil sie sich gelangweilt hat. Weil sie in der Falle saß", entgegnete Ellie Pascoe. 
Pascoe bediente sich seines Stocks, um die Beschaffenheit der Chaiselongue zu prüfen, über deren Seite vor dreißig Minuten noch der meisterlich zerstörte Kopf der Toten gebaumelt hatte. Das Möbel war so hart, wie es aussah, doch sein Bein tat ihm weh, und er setzte sich mit einem Seufzer der Erleichterung hin, den er aber sogleich in ein Gähnen verwandelte, als er den scharfen Blick seiner Frau auf sich spürte. Er wußte, daß sie seiner Behauptung, er sei fit genug, um am folgenden Tag wieder zum Dienst zu gehen, mit Skepsis gegenüberstand. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er schon heute wieder zu arbeiten begonnen, doch Ellie hatte mit einer gewissen Schärfe darauf hingewiesen, daß der 15. Februar sein Geburtstag sei und sie der Polizei mitnichten die Gelegenheit geben würde, ihn wie das letzte halbe Dutzend zu ruinieren.
Und so hatte er einen weiteren erholsamen Tag mit diversen Geburtstagsüberraschungen verbracht - Frühstück im Bett, ein frühabendliches Feinschmeckermahl, für die hochgelobte Inszenierung von "Hedda Gabler" Plätze in den vordersten Reihen des Kemble- Theaters und, zur Krönung des Tages, auf Einladung von Eileen Chung, der Regisseurin des Kemble, nach der Aufführung ein Glas Wein auf der Bühne.
"Aber so was macht kein Mensch!" versicherte Pascoe mit vollmundigem Yorkshire-Akzent. 
Ellie setzte an, ihm zu widersprechen, aber er fuhr verschwörerisch fort: "Mein Mädchen, ich rieche einen Stinkefisch, wenn ich einen sehe", und mit Verspätung merkte sie, daß er seinen Chef bei der Kripo parodierte. 
Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, und Pascoe erwiderte es.
"Ihr beide seht aber glücklich aus!" sagte Eileen Chung, die sich mit einer neuen Flasche Wein näherte. "Merkwürdig, wenn man bedenkt, wie man euch für teuer Geld gefoltert hat." 
"Gelitten haben wir in der Tat - doch Peter, der Schwarzseher, behauptet, daß Hedda ermordet wurde."
"Wie recht du hast, Pete, mein Süßer", sagte Eileen Chung und setzte vorsichtig ihre goldene Schönheit von einssiebenundachtzig Länge neben Peter auf die Chaiselongue. "Genau das wollte ich nämlich rüberbringen! Laß mich dein Glas nachfüllen." 
Pascoe ließ seinen Blick über die Bühne schweifen. Alles war im Aufbruch. Er stand vorsichtig auf und erwiderte: "Ich glaube, wir sollten uns auf den Weg machen …", doch Eileen Chung zog ihn wieder neben sich auf die Chaiselongue und fragte: "Warum die Eile?"
"Eile mitnichten", sagte er, "das Stadium habe ich längst noch nicht wieder erreicht." 
"Dein Hinken ist doch wirklich distinguiert", sagte sie. "Und der Stock ist einfach wunderbar." 
"Dabei findet er den Stock peinlich", sagte Ellie, die auf Peters anderer Seite saß, so daß er sich angenehm eingezwängt fühlte. "Ich habe den Verdacht, daß er befürchtet, sein Macho-Image könnte Schaden nehmen." 
"Pete. Du Baby!" sagte Eileen Chung, wobei sie ihm die Hand aufs Knie legte und tief in die Augen blickte. "Was ist denn ein Stock anderes als ein Phallus-Symbol? Willst du vielleicht einen größeren? Dann such ich mal in unserer Requisite. Denk doch nur an all die ungestümen Männer, die lahm waren. Ödipus - der hat es sogar mit seiner Mutter getrieben. Und Byron erst. Herr im Himmel, vor dem war nicht einmal die eigene Schwester sicher -" 
"Unglücklicherweise ist Peter sowohl Waise als auch Einzelkind", unterbrach Ellie sie. 
"So ein Mist! Pete, tut mir leid! Ich hatte keine Ahnung. Aber es gibt noch andere, die nicht auf ihre Familie fixiert waren. Der Teufel ,beispielsweise. Der hinkt auch."
Und da wußte Peter Pascoe, daß er verraten und verkauft war. Bis zu diesem Augenblick hatte er das derbe Geplänkel bereitwillig über sich ergehen lassen, weil es ihm als angemessener Preis dafür erschienen war, zwischen Ellie, die er liebte, und Eileen, nach der es ihn gelüstete, eingezwängt zu sein.
Er wollte aufstehen, doch Eileen Chung war vor ihm auf den Beinen, mit vor Schabernack glühendem Gesicht.
"Der Teufel", sagte sie mit schwärmerisch vibrierender Stimme. "Da kommt mir eine Idee! Pete, Süßer, zeig mir dein Profil. Phantastisch. Und mit dem Humpeln, nicht zu überbieten! Ellie, du kennst ihn am besten. Kriegt er das hin? Oder wäre er dazu in der Lage?"
"An diabolischen Eigenschaften fehlt es ihm nicht", räumte Ellie ein.
Das reichte. Einen Stock zu haben hatte auch seine Vorteile! Heftig ließ er ihn auf Hedda Gablers Couchtisch knallen, was er reinen Gewissens tun durfte, da es sein eigener war. Requisiten sammelte Eileen Chung wie die alte Queen Mary Antiquitäten - ihre Bewunderung verwandelte sie in Geschenke. Doch aus ihm würde Eileen Chung kein Geschenk machen können.
Ellie traf ein Gutteil der Schuld, aber nicht so viel wie ihn selbst. Er war es nämlich gewesen, der die goldene Regel vergessen hatte. Jede Freundin Ellies saß bis zum Beweis ihrer Unschuld - besser sogar noch länger! - auf der Anklagebank. Zu Beginn, als die neue Regisseurin des Stadttheaters herumposaunt hatte, sie habe gesellschaftlich relevante Dramen auf ihre Fahnen geschrieben, war er ihr gegenüber so mißtrauisch gewesen, wie Ellie begeistert war. Doch ihre Schönheit und Ausstrahlung hatten ihn schnell erobert. Ihre Zahlmeister, die Stadträte, waren eine weniger leichte Beute gewesen. Ihnen ging es um Flöhe, nicht um Fleisch, und es herrschte große Sorge, daß man sich vielleicht eine linke Natter an den rechtschaffenen Busen geholt habe. Doch als ihre Inszenierung von Noel Cowards "Private Lives" (nach Skegness und Huddersfield verpflanzt) ein Kassenschlager wurde, den nur noch die "Gondeln auf dem Grand-Union-Kanal" überboten, atmeten die Stadtväter höchst erleichtert auf, daß ihr schwarzes Schaf doch goldene Eier legte, und ließen sich auf dem Geldstrom treiben.
Doch bei ihrem neuesten Projekt, bei dem es sowohl um Gott als auch um Geld ging, hätten seine Alarmglocken läuten sollen.
Eileen Chung plante die Aufführung mittelalterlicher Mysterienspiele als riesiges Freiluftspektakel. Ihre Inszenierung sollte auf verschiedenen Quellen basieren, im Mittelpunkt standen jedoch, zur Freude der Lokalpatrioten, die Zyklen von York und Wakefield. Die Veranstaltung war für den Frühsommer vorgesehen, sollte sieben Tage dauern, und alle, die dabei mitmischen durften, hatten das Projekt geprüft und für gut befunden. Die Geistlichkeit war einverstanden, weil der Religion "Relevanz" zukam, die Handelskammer, weil sich die Stadt vor Touristen nicht würde retten können, die kommunalen Vertreter, weil durch die Mitwirkung der zahllosen Einheimischen die kulturellen Bindungen des Gemeinwesens wiederbelebt würden, und der Stadtkämmerer, weil diese Einheimischen nicht von einer Bezahlung ausgehen würden. Einige versprengte Unbelehrbare murmelten etwas von Götzendienst und Blasphemie, doch ihre Stimmen gingen in der großen Woge allgemeiner Zustimmung unter.
Man war davon ausgegangen, daß Eileen Chung die Sprechrollen mit dem Ensemble besetzen und vielleicht einen Fernsehstar mittlerer Strahlkraft engagieren würde, um Jesus mit einer gewissen kommerziellen Zugkraft auszustatten. Doch in diesem Punkt hatte sie alle überrascht.
"Kommt gar nicht in Frage", hatte sie Ellie gegenüber gesagt. "Das Ensemble wird in den Massenszenen eingesetzt. Bei einem solchen Abenteuer braucht man gerade dort eine solide Verstärkung durch Profis. Stars kann ich selber machen!"
Und so ward zur großen Jagd geblasen. Jeder, der in der Region schon einmal auf den Brettern gestanden hatte, schickte seine Zeitungsausschnitte an das Kemble. Angegraute Jack Points, King Lears mit flaumigem Kinn, Lady Macbeths vom Lande; Wunderkinder; Freds ’n’ Gingers; Sir-Laurence-Olivier-Doubles und Sir-John-Gielgud-Stimmenimitatoren; Schmollmäulchen a la Monroe und Streep-Stripperinnen; die Guten, die Schlechten und die Unfaßbaren standen in den Startlöchern, um vor Eileen Chungs scharfem Blick zu schreiten, und gleiten, wüten und brüten, schlachten und schmachten, kuscheln und nuscheln, rezitieren und deklamieren, werben und sterben. 

Teil 2