Vorgeblättert

Thomas Levenson: Einstein in Berlin. Teil 1

24.01.2005.
KAPITEL EINS
"Misstrauen gegen jede Art von Autorität"

Dahlem ist noch immer ein schöner, ruhiger Stadtteil von Berlin. Heute findet sich dort neben den vielen Forschungseinrichtungen der einstigen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die nach den katastrophalen Weltkriegen zu Ehren von Max Planck umbenannt wurde, auch die Freie Universität. 1914 war Dahlem in einer guten halben Stunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln aus der Stadtmitte zu erreichen. Die Villen in diesem Viertel waren groß und komfortabel, ideal für einen Professor samt Familie. Einstein bezog eine Etage, die seine Frau Mileva im Winter zuvor angemietet hatte. Zwei Wochen später, Mitte April, folgte sie ihm mit den beiden zwölf und vier Jahre alten Söhnen nach. Der gemeinsame Haushalt sollte keine vier Monate überdauern.

Ehen enden. Menschen, die einander einst in inniger Liebe zugetan waren, werden älter und distanzierter. In dieser Hinsicht waren Albert und Mileva ein geradezu erbarmungslos durchschnittliches Paar. Sie heirateten, sie trennten sich und schließlich ließen sie sich (trotz Einsteins gegenteiligen Schwüren) scheiden. Auf den ersten Blick scheint nur das Tempo des Zusammenbruchs dieser Beziehung erstaunlich. In Zürich schienen die Einsteins noch eine funktionierende Familie gewesen zu sein, in Berlin weigerte sich Albert Einstein bereits nach wenigen Wochen, auch nur dasselbe Gebäude mit seiner Frau zu teilen. Doch es war kein Zufall, dass das Ende dieser Ehe mit dem Umzug nach Berlin einherging: Die räumliche Veränderung, die ja an sich nur der Karriere hatte dienen sollen, wurde zum Anlass für einen noch viel tieferen Bruch mit der Vergangenheit, oder anders gesagt: von Einstein genutzt, um diesen zu vollziehen. Er hatte Mileva am Ende einer stürmischen Adoleszenz geheiratet, und die Konsequenzen dieser Wahl wollte oder konnte er nach dieser Übersiedlung in seinen mittleren Lebensjahren nicht länger tolerieren. Seine Ankunft in der deutschen Reichshauptstadt stand für einen völligen Neubeginn - und damit auch für das trostlose Ende eines Dramas, in dem Einstein einst den Helden gegeben hatte.

Albert wurde 1879 in Ulm als erstes Kind von Hermann und Pauline Einstein geboren. Die Familie des Vaters stammte aus Buchau, einem kleinen Ort in Württemberg, und gehörte zu der Gruppe von bodenständigen Juden aus den alten jüdischen Gemeinden, die sich in den Kleinstädten und Dörfern Süddeutschlands angesiedelt hatten. Einsteins hatte es in Buchau bereits 1665 gegeben (anfänglich noch mit der Schreibweise Ainstein), doch zur Zeit von Hermanns Geburt im Jahr 1847 hatte sich der jüdische Alltag auf dem Land und in den Kleinstädten bereits zu verändern begonnen. Die jüdische Emanzipation war zwar schon im Zuge der napoleonischen Reformen eingeleitet worden, doch im Königreich Württemberg wurde jüdischen Untertanen die staatsbürgerliche Gleichstellung erst 1862 in vollem Umfang gewährt. Hermann ergriff diese Chance und schrieb sich in einer Realschule in Stuttgart ein, wo er sich dann als guter Schüler mit besonderen mathematischen Talenten erwies. Doch seine Familie war groß und nicht eben wohlhabend, außerdem musste das Geld für die Mitgiften seiner Schwestern gespart werden, also kam eine Universitätsausbildung nicht in Frage. Konfrontiert mit der Notwendigkeit, schnell den eigenen Lebensunterhalt verdienen zu müssen, übersiedelte er nach Ulm und trat als Teilhaber in die Bettfedernhandlung von Verwandten ein. Dort lernte er den Backfisch Pauline Koch kennen. 1876 heirateten sie, 1881 übersiedelte die junge Familie dann nach München.

Hermann hatte eine gute Partie gemacht. Auch die Kochs waren Händler im Schwäbischen gewesen, hatten sich aber schon frühzeitiger und entschlossener als die Einsteins nach Größerem umgetan. Paulines Vater gründete 1852 in der Nähe von Stuttgart mit seinem Bruder einen Getreidehandel, der bald schon zum "kgl.-Württembergischen Hoflieferanten" ernannt wurde, außerdem pflegten die Kochs ihren Töchtern eine gute Bildung mitzugeben. Pauline war also relativ wohlhabend und hatte eine Erziehung auf Großstadtniveau genossen. Doch sie war nicht nur eine gebildete, sie war auch eine kluge Frau und sollte, obwohl elf Jahre jünger als ihr Ehemann, zum strahlenden Mittelpunkt der Familie werden. 1878 wurde sie schwanger. Praktisch vom Moment der Geburt ihres Sohnes an begann sie den ganzen Ehrgeiz einer intelligenten und ambitionierten jungen Mutter auf Albert zu konzentrieren.

Der kleine Einstein gab allerdings zu so manchem Kummer Anlass. Seine Großmuter klagte, dass er "zu dick, viel zu dick" war, und seine sprachliche Entwicklung kam nur langsam voran. Der Familienlegende zufolge soll er sogar bis ins dritte Lebensjahr geschwiegen haben - bis er sich endlich in der Lage sah, einen vollständigen Satz herauszubringen. Seine erste familiär belegte Äußerung machte er als Zweieinhalbjähriger. Pauline erwartete ein zweites Kind. Bevor Mutter und Tochter aus dem Krankenhaus nach Hause zurückkehrten, war Einstein ein "Spielzeug " versprochen worden. Als er seine Schwester Maja dann zum ersten Mal sah, soll er gefragt haben, wo denn nun aber die "Rädele" an diesem Spielzeug seien. Albert konnte ein sehr eigensinniges Kind sein und neigte zum Jähzorn, der sich manchmal in wahren Gewaltausbrüchen äußerte. Seine Schwester bekam so manche Backpfeife von ihm, einmal versuchte er ihr sogar mit einer Kinderhacke ein Loch in den Schädel zu schlagen. Auch gegen die ersten Erziehungsversuche setzte er sich so heftig zur Wehr, dass er schließlich sogar einen Stuhl nach seiner Hauslehrerin warf. Sie floh entsetzt und ward nie wieder im Hause Einstein gesehen. Doch für Pauline war und blieb Albert das Goldstück, und sie gab sich offensichtlich redlich Mühe, um ihm mit allen möglichen Überredungskünsten, Schmeicheleien und arbeitsintensivsten Überlistungsmethoden eine Erziehung angedeihen zu lassen. Maja erinnerte sich später, dass die Mutter zum Beispiel so lange am Klavier verbracht und den sechs- oder siebenjährigen Albert mit so viel Geduld und Liebe zu Geigenübungen angetrieben habe, bis der streitsüchtige Junge schließlich tatsächlich eine große Leidenschaft zu diesem Instrument entdeckte. In der Schule wurde sein störrisches Benehmen allerdings nicht so leicht hingenommen und ihm laut Maja anfänglich sogar nur geringes Talent beschieden: "Von seiner Spezialbegabung für Mathematik war vorderhand nichts zu bemerken, er war nicht einmal ein guter Rechner im Sinne der Geläufigkeit, wohl aber zuverlässig und ausdauernd."(1) Unglücklicherweise bestand Einsteins erste Begegnung mit den modernen deutschen Lehrmethoden ausgerechnet aus einem Lehrer, der die Aufmerksamkeit seiner Schüler zu wecken verstand, indem er jedem mit einem Stock auf die Finger klopfte, der für seinen Geschmack nicht schnell oder korrekt genug antwortete. Einstein litt.

Aber nicht allzu heftig. Auch wenn Maja es anders in Erinnerung behalten hatte, brachte Einstein zur großen Befriedigung seiner Mutter doch immer gute Leistungen nach Hause. Im ersten Jahr des Siebenjährigen an der Grundschule schrieb Pauline ihrer Schwester: "Gestern bekam Albert seine Noten, er wurde wieder der Erste?"(2) Der Mythos über Einsteins schlechte schulischen Leistungen und das Gerücht, dass er im Mathematikunterricht sogar gänzlich versagt habe, ist nichts anderes als eben das - ein Mythos. Von wenigen Ausnahmen abgesehen bewegten sich seine Noten von der Grundschule bis zur Hochschulreife zwischen Einsen und Zweien, auch in Fächern, die weit jenseits seiner eigentlichen Interessen angesiedelt waren. Im Gymnasium wurde er in Latein wie Griechisch immer mindestens mit einer Zwei benotet, und auch in den Hochschulseminaren, in denen er sich auf Wunsch des Vaters zumindest eine blasse Ahnung von so nützlichen Dingen wie "Bank- und Börsengeschäften", den "Grundlehren der Nationalökonomie" oder von den "Einkommensverteilung und sozialen Folgen der Freien Konkurrenz" verschaffen sollte, schnitt er gut ab. Es gibt zwar keinerlei Nachweise, dass er jemals Gebrauch von diesem Wissen gemacht hätte, doch die Vorstellung von Einstein an der Wall Street wäre in der Tat nicht ohne Charme gewesen.

Obwohl Pauline also allen Grund hatte, stolz auf die Leistungen des Sohnes zu sein, gab es doch ständig Anlass zur Sorge. Schon als kleiner Junge konnte Einstein seine Verachtung für den Schulbetrieb nicht verhehlen, weil er ihm künstlich, erzwungen und oft ganz einfach dumm erschien. Da Religionsunterricht in Bayern ein Pflichtfach, aber nur christlicher im Angebot war, wurde Einstein im Hause eines orthodoxen Verwandten in der Thora unterwiesen. Mit neuneinhalb Jahren begann er sich trotz des geringen Interesses, das seine Eltern für die jüdische Religion an den Tag legten, plötzlich selbst sehr für die Tradition zu begeistern und zur Orthodoxie hingezogen zu fühlen.(3) Doch am Ende sollte diese Hingabe nur zwei Jahre währen. In dieser Zeit weigerte er sich Schweinefleisch zu essen, komponierte religiöse Gesänge, die er dann auf dem Schulweg vor sich hin trällerte, und sann über die biblische Schöpfungsgeschichte nach. Doch dann bekam er zu seinem elften Geburtstag Aaron Bernsteins Naturwissenschaftliche Volksbücher geschenkt, illustrierte Naturatlanten, die auf verständliche Weise die großen Ideen jener Zeit darstellten. Es traf ihn wie der Blitz. Noch über ein halbes Jahrhundert später sollte er sich erinnern, mit welch "atemloser Spannung" er Bernsteins Reihe gelesen hatte.(4) Durch sie und die Lektüre von weiteren populärwissenschaftlichen Büchern gelangte er bald zu der Überzeugung, "dass vieles in den Erzählungen der Bibel nicht wahr sein konnte. Die Folge war eine geradezu fanatische Freigeisterei, verbunden mit dem Eindruck, dass die Jugend vom Staate mit Vorbedacht belogen wird".(5)

Dieser Glaubensverlust war "ein niederschmetternder Eindruck": "Das Misstrauen gegen jede Art von Autorität erwuchs aus diesem Erlebnis, eine skeptische Einstellung gegen die Überzeugungen, welche in der jeweiligen sozialen Umwelt lebendig waren - eine Einstellung, die mich nie wieder verlassen hat?"(6) Eine unmittelbare Folge dieser Offenbarung erlebte er dann auf dem angesehenen Münchner Luitpold-Gymnasium, wo er sich buchstäblich mit jedem Lehrer bekriegte. Noch Jahrzehnte später erzählte er, dass sich dieser "Moloch" an Überheblichkeit und Dummheit - im schulischen Auftrag und als verlängerter Arm des Staates - mit jeder nur denkbaren psychischen Gewalt auf die Unabhängigkeit seines Geistes und auf seinen freien Willen gestürzt habe.
Fast möchte man noch nachträglich Mitleid mit seinen Lehrern haben. Maja zufolge verlor ein Lehrer eines Tages schließlich die Geduld und warf Einstein an den Kopf, dass nie etwas Rechtes aus ihm werden würde. Als Einstein daraufhin zu diskutieren begann, weil er sich keines Unrechts bewusst war, erwiderte der Lehrer: "Schon allein deine Anwesenheit verdirbt den Respekt der Klasse vor mir!"(7) Einstein hasste es, so behandelt zu werden. Allein schon der normale Unterrichtsstil, schrieb Maja, sei ihm ein Gräuel gewesen, aber den militärischen Ton, die systematische Erziehung zur Obrigkeitshörigkeit, mit der die Schüler bereits in jungen Jahren an Disziplin gewöhnt werden sollten, habe er als besonders unangenehm empfunden.(8)

Die Krise kam 1894, als Einsteins Eltern mitsamt Schwester und seinem Onkel von München nach Mailand und kurze Zeit später nach Pavia in Oberitalien übersiedelten, wo Hermann Einstein und sein Bruder eine neue Firma gründen wollten. Albert blieb bei entfernten Verwandten in München zurück, um noch die drei Jahre Gymnasium bis zum Abitur abzuschließen. Wieder einmal geriet er mit einem Lehrer in Konflikt, aber diesmal nahm er es zum Vorwand, um einen mit der Familie befreundeten Arzt zu überzeugen, ihm eine unspezifische "neurasthenische Erschöpfung" zu bescheinigen, die es erforderlich machte, den Schulbesuch auszusetzen. Er bestieg einen Zug, fuhr nach Italien, stand ohne jede Vorwarnung vor seinen perplexen Eltern und teilte ihnen mit, dass er die deutsche Staatsbürgerschaft ablegen wollte. Ein Leben als Staatenloser erschien ihm in jedem Fall der Untertanenpflicht gegenüber einem Deutschen Reich vorzuziehen, für das er schon damals nur Verachtung empfand.

Natürlich war das nicht die ganze Geschichte. Einstein hatte durchaus auch praktische Gründe für seine Flucht. Wäre er über seinen sechzehnten Geburtstag hinaus in München geblieben, hätte er die allgemeine Wehrpflicht kaum umgehen können. Und wer seiner Einberufung in die Reichswehr nicht Folge leistete, galt vor dem Gesetz als Deserteur. Wie schrieb doch der Historiker Fritz Stern? "Wer könnte sich auch schon Einstein als Rekruten in feldgrauer Uniform vorstellen?"(9) Außerdem hätte bestimmt auch der arme Leutnant Mitleid verdient, der den jungen Einstein in etwas Soldatisches hätte verwandeln müssen! Doch tatsächlich ging es hier bereits um mehr als nur den schlichten Wunsch, den Militärdienst zu umgehen. Denn als Einstein 1901 die Schweizer Staatsbürgerschaft annahm (nachdem ein Detektiv dem Züricher Stadtrat bestätigt hatte, dass er "ein sehr eifriger, fleißiger und äußerst solider Mann" sei (10), tat er dies trotz seines Wissens, dass die Rechte dieser Staatsbürgerschaft mit der Pflicht einhergingen, Wehrdienst in der Schweizer Armee zu leisten. Wie gefordert stellte er sich am 13. März 1901 zur Musterung ein. Doch der Arzt attestierte ihm "Krampfadern, Plattfüße und Fußschweiß" und erklärte ihn für wehruntauglich.(11) Nichts lässt darauf schließen, dass sich Einstein diese Abfuhr sehr zu Herzen genommen hätte, aber es macht deutlich, dass er zu diesem Zeitpunkt seines Lebens noch nicht alle Uniformen hasste - nur eben die des deutschen Kaisers.

Bevor Einstein München den Rücken kehrte, hatte er noch ein paar Vorsichtsmaßnahmen getroffen: Mit dem ärztlichen Attest für die Befreiung vom Unterricht zur Hand, holte er sich ein offizielles Entlassungsschreiben vom Direktor seines Gymnasiums, um dem Stigma des schulischen Versagers zuvorzukommen. Kaum im neuen italienischen Heim seiner Eltern eingetroffen, versprach er dann, sich autodidaktisch auf die Aufnahmeprüfung des Züricher Polytechnikums vorzubereiten, eine der führenden Technischen Hochschulen im deutschsprachigen Raum, die jedoch glücklicherweise von den Kandidaten keinen Nachweis eines bestandenen Abiturs verlangte. Die Eltern waren von Alberts anmaßendem Verhalten bestürzt und unternahmen offenbar alles, um ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Doch er erklärte resolut, dass er unter gar keinen Umständen nach München zurückkehren würde. Gezwungenermaßen fügten sich Pauline und Hermann trotz großer Zweifel in die neue Situation.

Einstein stand zu seinem Wort. Laut Majas Bericht begann er sich systematisch durch die notwendigen Lehrbücher zu arbeiten. "Seine Arbeitsweise war ganz sonderbar: selbst in größerer Gesellschaft, wenn es ziemlich laut herging, konnte er sich auf das Sofa zurückziehen, Papier und Feder zur Hand nehmen, das Tintenfass in bedenklicher Weise auf die Lehne stellen und sich in ein Problem so sehr vertiefen, dass ihn das vielstimmige Gespräch eher anregte als störte."(12) Aber nicht dass er das Ganze als ein Spiel empfunden hätte, im Gegenteil, er unterwarf sich dem selbst aufgestellten Lehrplan fast ebenso hingebungsvoll wie einst der Thora. Die religiöse Metapher stammt von ihm selbst, denn er selbst führte die Entdeckung seiner Berufung auf ein Geschenk zurück, das er im Alter von zwölf Jahren erhalten hatte - das "heilige Geometriebüchlein". Es war ihm eine Offenbarung: "Da waren Aussagen", schilderte er später, "wie z.B. das Sichschneiden der drei Höhen eines Dreiecks an einem Punkt, die - obwohl an sich keineswegs evident - doch mit solcher Sicherheit bewiesen werden konnten, dass ein Zweifel ausgeschlossen zu sein schien. Diese Klarheit und Sicherheit machte einen unbeschreiblichen Eindruck auf mich."(13)

Bei diesem heiligen "Büchlein" handelte es sich um das Lehrbuch der ebenen Geometrie von Theodor Spieker. Der Medizinstudent Max Talmud, der bei der Familie Einstein einen Freitisch hatte und Albert mit natur- und geisteswissenschaftlicher Lektüre zu versorgen pflegte, hatte es ihm geschenkt. Immer schwieriger wurden die Texte, mit denen Talmud den geistigen Hunger des Jungen stillte, bis der Lehrer schließlich nicht mehr mit dem eigenen Schüler Schritt halten konnte.

Die Aufnahmeprüfung am Polytechnikum fand im Oktober 1895 statt, zehn Monate nachdem Einstein München verlassen hatte. Wie von ihm erwartet und seinen Eltern versprochen bestand er die Prüfungen in Mathematik und Physik problemlos. Doch mit den "sprachlich-deskriptiven" Fächern war das eine andere Sache. Später gab Einstein selbst zu, dass seine Prüfer, die er immerhin "geduldig und verständnisvoll" fand, durchaus Anlass zur Kritik hatten: "Dass ich durchfiel, empfand ich als voll berechtigt."(14) Auf jeden Fall fühlte er sich gedemütigt genug, um freiwillig noch einmal die Schulbank zu drücken, und meldete sich an der Kantonsschule in Aarau an, diesmal allerdings schon mit der Gewissheit, nach der Matura einen Studienplatz am Polytechnikum sicher zu haben.

Die schulischen Erfahrungen in Aarau glichen in nichts Einsteins Erlebnissen an den deutschen Lehranstalten. Er wohnte als zahlender Gast bei Jost Winteler, dem Kantonsschullehrer für Griechisch und Geschichte, dessen großer Clan für ihn zu einer Art Ersatzfamilie wurde. Winteler galt als "Radikal-Republikaner " und empfand für die Vorliebe, die Deutsche für Kanonen und Großmannsgetue zu haben schienen, nicht weniger Verachtung als sein junger Gast. Abends pflegten sich die Wintelers um den Tisch zu versammeln, um einander vorzulesen und miteinander zu diskutieren. Einstein war herzlich in diesen Kreis aufgenommen und aufgefordert, offen seine Meinung zu äußern. Und die Kantonsschule von Aarau war mindestens so progressiv. Gerade erst war ihr "physikalisches Kabinett" zu einem frisch ausgestatteten Labor erweitert worden und damit ein geradezu idealer Tummelplatz für Einstein. Sogar sein musikalisches Talent machte hier auf sich aufmerksam. Der Kontrast zum Münchner Luitpold-Gymnasium hätte nicht größer sein können. Aarau wurde "'zu einer unvergesslichen Oase' in der europäischen Oase Schweiz".(15)

Einstein reagierte überschwänglich auf diese so ganz anderen Bedingungen und hielt brav seinen Teil des Handels mit den Eltern ein. Die Abschlussprüfung fand im September 1896 statt. Er bestand sie als Klassenbester. Wieder hatte er die Prüfungen in Mathematik und Naturwissenschaften problemlos gemeistert, doch eine Ahnung, wie wichtig dieses Jahr in Aarau gewesen war, bekam er wohl bei seiner Französischprüfung. Seine ausgesprochen mittelmäßige Durchschnittsnote Drei (von sechs möglichen Noten, wobei Sechs die Beste war) war angesichts seines sorglosen Umgangs mit der französischen Grammatik und Syntax völlig berechtigt, aber viel interessanter ist, dass bereits sein Prüfungsaufsatz mit dem Titel "Mes projets d?avenir" ("Meine Pläne für die Zukunft") in nur drei Absätzen mit knappen Worten Einsteins Selbstvertrauen, Ehrgeiz und Vorliebe für ironische Untertöne verriet: "Andererseits sind es vor allem die jungen Leute, die sich gern mit kühnen Plänen beschäftigen", heißt es da, und weiter: "Übrigens ist es auch eine natürliche Sache für einen ernsthaften jungen Mann, dass er sich eine Vorstellung so präzise wie möglich vom Ziel seiner Wünsche macht." Und da es gewiss niemand Ernsthafteren gab als ihn, verkündete er auch gleich, wie er seine Zukunft gestalten wollte: "Wenn ich das Glück habe, meine Prüfungen zu bestehen, werde ich an das Polytechnikum in Zürich gehen. Ich werde dort vier Jahre bleiben, um Mathematik und Physik zu studieren. Ich stelle mir vor, Lehrer in diesen Gebieten der Naturwissenschaften zu werden und dabei den theoretischen Teil dieser Wissenschaften zu wählen." Und was trieb ihn zu diesem Plan? "Es ist vor allem die individuelle Veranlagung für die abstrakten und mathematischen Gedanken und der Mangel an Phantasie und praktischem Talent." Die bezeichnendste Aussage sparte er sich für sein Schlusswort auf: Theoretiker und Lehrer wollte er werden, weil "es auch eine gewisse Unabhängigkeit des wissenschaftlichen Berufes (ist), die mir sehr gefällt".(16)

Teil 2