Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.07.2002. Die FR zieht eine verheerende Bilanz der rotgrünen Stadtentwicklungspolitik, außerdem verteidigt Margarete Mitscherlich den deutschen Fußball. Die SZ sucht die weithin gerühmte Rationalität der Märkte (findet sie aber nicht). Die taz erinnert an den Gipfel von Genua - die Welt hat sich seitdem kein bisschen gebessert. Die NZZ fand die Ursprünge des Frühkapitalismus in Mexiko.

FR, 17.07.2002

Nächste Woche beginnt in Berlin der 21. Weltkongress der Architektur. Der Tübinger Stadtplaner Andreas Feldtkeller zieht schon mal eine vernichtende Bilanz der rotgrünen Stadtentwicklungspolitik: "Stadtrandwanderung und Zersiedlung finden keine Grenzen, der Landschaftsverbrauch hat sogar von täglichen 120 ha auf fast 130 ha zugenommen (dabei ist auch der Osten kräftig beteiligt, trotz des horrenden Wohnungsleerstands); 'Funktionsmischung' bleibt nichts als eine schöne Floskel; die Innenstädte werden immer mehr zu Orten der Freizeit, des Konsums und des Luxuswohnens; funktionale, soziale und ethnische Segregation nehmen zu und werden in beängstigendem Umfang als etwas ganz Selbstverständliches betrachtet. Nur der Stau in den Städten und ihrem Umland erzeugt den Ruf nach Abhilfe - am besten einfach mit noch mehr Straßen."

Martin Altmeyer unterhält sich mit der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich, die 85 wird. Man wird nie vergessen, meint sie: "Hitler wird immer erinnert werden. Wenn man etwas so Welterschütterndes in die Welt gesetzt hat, wird man noch in Hunderten von Jahren darüber reden. Aber sehen Sie, auch ich hätte es den deutschen Fußballern gegönnt, dass sie gewinnen. Sie waren angenehm, sympathisch, fair - aber die anderen, die Brasilianer, waren eben die Besseren, leider."

Weiteres: Caroline M. Buck berichtet vom Festival der Filmarchive "Il Cinema Ritrovato" in Bologna, wo der Leiter der afghanischen Kinemathek Siddiqullah Barmak erzählte, wie man die Filmbestände vor den Ikonoklasten rettete - zum Beispiel, indem man sie hinter falschen Wänden versteckte. Ulrich Speck kommentiert in Times Mager die Machenschaften der russischen Jugendorganisation "Gemeinsamer Weg" gegen Wladimir Sorokin. In der FR-Serie über die Documenta geben sich der Filmemacher Willem de Rooij und Nicolas Schafhausen vom Frankfurter Kunstverein eher kritisch: "Vielleicht ist die documenta11 auch deswegen so erfolgreich, weil sie sehr nah an den populären, allgegegenwärtigen Katastrophenthemen die Kunst in den Vordergrund stellt, die nicht mehr will, als politisch total korrekt eine Diagnose der Gegenwart mit den Mitteln der Dokumentation zu erstellen."


Auf der Medienseite porträtiert Jenny Niederstadt die beiden Dokumentarfilmer Jules und Gedeon Naudet, die sich am 11. September im World Trade Center aufhielten, als über ihnen die Türme zusammenbrachen (aber sie haben überlebt und gefilmt!) Besprochen wird Tina Laniks Inszenierung von Fassbinders Stück "Tropfen auf heiße Steine" in München.

SZ, 17.07.2002

Nicolas Berg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig, blickt zurück auf eine "Urszene deutscher Geschichtswissenschaft nach 1945 und ihren Umgang mit dem Holocaust", die die Mär von der subjektiven jüdischen Erinnerung und der objektiven deutschen Zeitgeschichtsforschung widerlegt. "Es handelt sich dabei um eine bislang unbekannte Kontroverse zwischen Joseph Wulf (1912-1974) und dem Münchner 'Institut für Zeitgeschichte' (IfZ) im Verlauf der so genannten 'Hagen-Affäre'. An ihr kann verdeutlicht werden ... warum die Kommunikation zwischen einem einzelnen ostjüdischen Historiker-Autodidakten und der sich am IfZ etablierenden noch jungen Zeitgeschichtsforschung in Deutschland scheiterte. Wer wurde seinerzeit als Täter, wer als Opfer wahrgenommen? Welchen Quellen wurde dabei vertraut, welchen nicht?" Berg kritisiert vor allem Martin Broszat (1926-1989), "seinerzeit Wortführer des Münchner Instituts", dessen Deutung der Judenvernichtung für Berg rückblickend in der "Tradition der Entlastungssehnsucht" stand.

Gustav Seibt sucht an der Börse die "berühmte 'Rationalität der Märkte'", findet jedoch nur Phantasiekapitalismus. Seinem Text lässt sich entnehmen, dass er definitiv keine "Volksaktien" gekauft hat: "Eine Aktie, die von Boulevardzeitungen propagiert wurde, zu kaufen, musste für jeden denkenden Nichtökonomen heißen, sich auf hohe See zu begeben. Dann lieber noch mal in den Massage-Club!"

Weitere Artikel: Jens Bisky hat einer Debatte über Pisa und die Folgen zugehört. Mit dabei waren Annet Aris, Partnerin bei McKinsey & Co. in München, und Julian Nida-Rümelin. Franziska Augstein kommentiert die Berufung "junger, begabter Christdemokratinnen aus dem Osten" wie Katherina Reiche, die sich erst von Helmut Kohl und jetzt von Kardinal Meisner sagen lassen, wo's lang geht. Im Interview erklärt Moritz de Hadeln, neuer Leiter der Filmfestspiele in Venedig, dass er "auf keinen Fall den Fehler machen (will), den Dieter Kosslick, mein Nachfolger in Berlin, beging. Er hat einfach zu viele deutsche Filme in den Wettbewerb genommen ..." Stefan Koldehoff meldet, dass kein Flick-Museum in Berlin geplant ist. Und Fritz Göttler schreibt einen kurzen Nachruf auf die Filmkritikerin Frauke Hanck.

Besprochen werden eine Ausstellung über Nürnberg als historisches Handelszentrum Europas im Germanischen Nationalmuseum, Barry Sonnefelds Film "Men in Black II", ein Abend mit Mahler-Liedern, vorgetragen von Uri Caine und Sepp Bierbichler in München, eine Aufführung von Gerhard Hauptmanns "Versunkene Glocke" auf der Berliner Museumsinsel, und Bücher, darunter Marcos Giralt Torrentes Roman "In deinen Augen", ein Sammelband zum Dialog zwischen Literatur und Kunst und Felix Burda Stengels Studie über "Andrea Pozzo und die Videokunst" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 17.07.2002

Matthias Greffrath erinnert auf der Meinungsseite an den Gipfel von Genua vor einem Jahr und zieht folgende Lehre aus den Anschlägen in New York: "Der 11. September hat die Alternative sichtbar gemacht, die sich seit zehn Jahren vorbereitet. Entweder eine durch die Regeln der WTO gesicherte Hegemonie der großen Kapitale, militärisch gestützt von der imperialen Schutzmacht - oder eine demokratische Welthandelsordnung." Hätte sich bin Laden da aber nicht auch ein bisschen höflicher ausdrücken können?

Im Kulturteil zeichnet Wladimir Kaminer ein Porträt des ehemaligen Dissidenten und heutigen National-Bolschewisten Eduard Limonow. Politisch scheint er nicht so gefährlich zu sein: " Bei den letzten Regionalwahlen bekam er 0,0015 Prozent der Stimmen." Henrike Thomsen porträtiert den neuen Chef der Frankfurter Schirn-Halle, Max Hollein. Auf der Medienseite berichtet Peter Nowak über einen Antisemitismusstreit beim alternativen Internet-Netzwerk Indymedia. Besprochen werden Kerstin Spechts Stück "Das goldene Kind" in München und einige neue Bücher.

Schließlich Tom.

NZZ, 17.07.2002

Andreas Essl besucht für einen "Schauplatz Mexiko" die "Ursprünge des Frühkapitalismus": "Der frühe spanische Silberzug in den Norden verdankt sich den Erzählungen des Eroberers Cabeza de Vaca. Dieser durchstreifte 1528 als erster Europäer die wüstenhafte Peripherie Mexikos, über die sich damals noch Wälder gebreitet haben sollen. Heute steht hier kein einziger Baum mehr - alles verheizt während der kalten Winter und in den Silberöfen. Oder als Stützen für die Stollen in den Berg gezimmert. Cabeza de Vaca stachelt die Gier nach glänzenden Metallen an. In Zacatecas wird man fündig. Wie U-Bahn-Schächte unterhöhlen heute Silberminen die Stadt."

Weiteres: Lilo Weber schildert die Angst der Briten vor der Wiedereinführung einer "Identity Card". Besprochen werden eine Ausstellung über den Architekten Aldo van Eyck im Stedelijk Museum Amsterdam, eine Karin-Sander-Ausstellung in Stuttgart, das neue Kursbuch über "Die Rückkehr der Biographien" und einige Bücher, darunter Elke Schmitters Roman "Leichte Verfehlungen" (mehr hier), Jerome Charyns Roman "Der schwarze Schwan" (mehr hier) und eine bisher nur auf englisch erschienene neue Biografie über Rudyard Kipling (mehr hier).

FAZ, 17.07.2002

Paul Ingendaay besucht für eine leicht anorektische Sommerausgabe der FAZ das "Allgemeine Archiv des Spanischen Bürgerkriegs", in dem sich alle Akten befinden, die das Franco-Regime gegen seine Gegner sammelte: "Das Archiv in Salamanca bewahrt die Namenskärtchen von drei Millionen Menschen auf. Zunächst einmal nur das: Namen, Namen, Namen. Hinter manchen jedoch steht ein Vermerk, der auf eine andere Kartei verweist. Dann wird es gefährlich."

Weiteres: Joseph Hanimann hat den jüngsten Tagebuchband von Renaud Camus gelesen, der auf die vor zwei Jahren durch den Vorläuferband ausgelöste Antisemitismusdebatte eingeht. Andreas Rosenfelder resümiert eine Tagung über den Begriff der Authentizität in Tutzing. Renate meldet die Restaurierung der Klosterkirche von Rott am Inn. Auf der letzten Seite zeigt Gina Thomas in einer betrüblichen Blütenlese aus britischen Zeitungen, dass man auch in London die Israelis am liebsten mit der SS vergleicht. Christian Schwägerl zeichnet ein kleines Profil der Gehirnforscherin Susan Greenfield. Und Siegfried Stadler meldet, dass Fritz Cremers stalinistisches Buchenwald-Denkmal restauriert werden muss. Auf der Medienseite wird gemeldet, dass nun auch die SZ ihre Berlin-Seite einstellt. Und Dietmar Dath erklärt in einem längern Artikel zu den Emmy-Nominierungen "warum Amerika das Land popkritischer Banausen ist.

Besprochen werden der Film "Men in Black 2", eine Ausstellung des Bildhauers Hans Josephson (Bilder) im Stedelijk Museum und ein Wayne-Shorter-Konzert beim "Jazz Baltica"-Festival.