Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.07.2002. In der NZZ beklagt Laszlo F. Földenyi die "Stromlinienförmigkeit des Subversiven". Die FAZ versteht nicht, wie man den genialen Thomas Middelhoff chassen kann, die SZ versteht es ein klein bisschen besser. In der taz porträtiert Gabriele Goettle de Chef des Schiffhebewerks Niederfinow. Die FR kommt noch einmal auf den Weltkongress der Architekten zurück.

NZZ, 29.07.2002

Einen äußerst bedenkenswerten Essay über die "Stromlinienförmigkeit des Subversiven" legt der ungarische Autor Laszlo F. Földenyi vor. Er hat in der Berliner Nationalgalerie das alte Video einer Aktion von Joseph Beuys betrachtet, die ihn tief ergriffen hat, und begab sich dann in die Guggenheim Stiftung, um Videos von Bill Viola anzusehen. Auch sie handeln von letzte Dinge, aber Földenyi bliebt skeptisch: "Viola wollte metaphysische Fragen aufs Korn nehmen, offen und nahezu hemmungslos. Aber die demonstrierten Ereignisse sind perfekt und makellos berechnet und wie Schmuckstücke konstruiert, was mir suggerierte, dass er bei alledem nicht am Zeitgeist kratzt, sondern im Gegenteil ihm gehorcht. Vielleicht gegen seinen Willen. Aber dieser Zeitgeist ist so erfolgreich, dass er auch das vereinnahmt, was sich ihm entgegenstellt, ihm zu widersprechen scheint... So können heute am ehesten die Werke mit der Aufnahme in die großen Museen der Welt rechnen, die offen die Museumsidee attackieren - auch der Zeitgeist sucht, was ihm widerspricht... Was heute subversiv wirkt, ist in Wahrheit nicht aufrührerisch, sondern Bestätigung und Stütze."

Weiteres: Mariano Delgado, Professor für Kirchengeschichte in Freiburg, berichtet über die Heiligsprechung des Indios Juan Diego in Mexiko. Roman Hollenstein gratuliert dem Tessiner Architekten Luigi Snozzi zum Siebzigsten. Besprochen werden eine Urs-Lüthi-Ausstellung im Genfer Museum Rath, das Geschichtspektakel "Red Cross Over" der Gruppe Maß & Fieber bei der Schweizer Expo und Mozarts "Don Giovanni" in Salzburg.

SZ, 29.07.2002

Der Papst, der schwieg, habe geflüstert, kommentiert Gustav Seibt eine neue Veröffentlichung in der Zeitschrift Civilta Cattolica, derzufolge Papst Pius XII. zwischen der britischen Regierung und der widerständischen deutschen Wehrmachtsoffizieren Kontakte hergestellt haben soll. Verfasst wurde die Abhandlung von dem an der Gregoriana in Rom lehrenden Jesuiten Pierre Blet, laut Seibt der beste Kenner der Materie: "Blets neue Abhandlung versammelt mit stark polemischem, stellenweise gereiztem Akzent alle Argumente, die sich zugunsten des Verhaltens von Pius XII. im Zweiten Weltkrieg vorbringen lassen. Das vorsichtige öffentliche Auftreten des Papstes verteidigt Blet wie gewohnt mit der dadurch erhaltenen Möglichkeit, im Einzelfall mit diplomatischen Mitteln zu wirken. So beeindruckend aus vatikanischer Innensicht das Bild des zwischen schwersten Gefahren lavierenden Papstes gerät - der eigentliche Zwiespalt im Streit um Pius XII. bleibt."

Nach Ron Sommer tritt nun mit Thomas Middelhoff ein zweiter deutschen Managerheld ab. Auf der Medienseite schreibt Hans-Jürgen Jakobs: "Nun geht der juvenile Chef, der Mann für die Deals, der Kulturrevolutionär, der die akademischen Titel im internen Geschäftsverkehr abschaffte und den gelegentlichen Muff der ostwestfälischen Provinz mit einem beherzten Sprung nach Manhattan abstreifen wollte. Am Schluss galt er den Gegnern nur noch als windiger Spekulant, abgehoben, vom Glück der Börsen verlassen. Am Samstag schaukelte sich der Krach um Börsengang und Strategie hoch, am Sonntag kam es zum Knall."

Weitere Artikel: Willy Winkler wittert den Jagdtrieb der Medien im Fall Özdemir. Sabine Schmidt erzählt die Geschichte der Professorin Mona Baker an der Universität von Manchester, die ihre israelischen Kollegen boykottiert. Helmut Schödel hat mit Peter Turrini über sein neues Stück "Da Ponte in Santa Fe", Salzburg und die Krise des Theaters gesprochen. Volker Breidecker berichtet vom Thomas-Mann-Festival im litauischen Nidden.

Auf der Medien-Seite verabschiedet Hans-Jürgen Jakobs den Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff; Bernadette Calonego schildert, wie der Verleger Izzy Asper seine politische Macht in Kanada ausspielt.

Besprochen werden: Martin Kusejs und Nikolaus Harnoncourts Aufführung des "Don Giovanni" bei den Salzburger Festspielen, das "gelungene" Bayreuth-Debüt des Dirigenten Andrew Davis, George Taboris "gut gemeinte" Inszenierung der "Entführung aus dem Serail" in Berlin, Bruce Springsteens Album "The Rising", Walt Beckers Film "Party Animals", eine Ausstellung des Fotografen Naoya Hatakeyama in der Nürnberger Kunsthalle und Bücher, darunter Reinhard Schulzes aktualisierter Band "Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert", Helene Hanffs Briefwechsel mit ihrem Buchhändler "84, Charing Cross Road" und Elizabeth Niejahrs und Rainer Pärtners Beobachtungen zur politischen Klasse "Joschka Fischers Pollenflug - und andere Spiele der Macht" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 29.07.2002

Heute ist der letzte Montag im Monat, also Goettle-Tag: Diesmal erzählt Gabriele Goettle mit dem gewohnten Sinn die Geschichte des Schiffshebewerks Niederfinow und seines früheren Leiters, Hans Jürgen Völter. Eine Leseprobe: "Wie ein Riesenspielzeug aus dem Märklin-Baukasten ragt der filigrane Koloss, 60 m hoch, 27 m breit, 94 m lang, über die Baumwipfel hinweg und ins Odertal hinein. Eine 146 Meter lange Kanalbrücke überwindet die Distanz zum Hang und verbindet die obere Ausfahrt des Hebewerks mit dem Kanalbett des Festlandes. Wer von Norden kommt, fährt unter ihr hindurch, während oben die Schiffe schwimmen. Um die 36 m Höhenunterschied zu überbrücken, befördert man sozusagen einen Teil des Kanals, eine Schiffslänge Wasser, in einem Riesenfahrstuhl auf und ab. Scheinbar mühelos schwebt der Trog mit den Schiffen hinauf und hinunter, seit fast 70 Jahren. Nach der Jahrhundertwende geplant, durch den 1. Weltkrieg verschoben, wurde 1924 mit dem Bau der Schiffshebewerkanlagen begonnen ... Das Schiffshebewerk erregte Aufsehen, es sprengte alle Maßstäbe, war ohne direktes Vorbild, übertraf andere und ältere Schiffshebewerke an Größe und Raffinesse. Es war zu jener Zeit das größte und modernste Senkrechthebewerk der Welt. Es gilt auch heute noch, aufgrund seiner hochwertigen Verarbeitung und jahrzehntelanger sorgfältiger Wartung und Pflege, als eine sehr zuverlässige und solide Anlage."

Rolf Lautenschläger berichtet zum Abschluss vom Weltkogress der Architektur in Berlin, der ihm als "Anti-Architekten-Kongress ohne durchschlagende Wirkung" in Erinnerung bleiben wird. Und in der Serie "das personal der wahl" untersucht Kolja Mensing Gerhard Schörder und seine Körpersprache aus den achtziger Jahre.

Schließlich Tom.

FR, 29.07.2002

Vom Weltkongress der Architekten schildert Hans Wolfgang Hoffmann folgende bemerkenswerte Episode: "Langsam ging Karl Ganser zum Pult. Auf den Zettel schaute er nicht. Der war gerade groß genug für den Titel seines Tagesordnungspunkts: 'Bilanz und Ausblick'. Der Sprecher des wissenschaftlichen Komitees schwieg. Als im Publikum Unruhe aufkam, merkte der Referent noch (an), dass ohne exakte Datenbasis nicht zu diskutieren sei. Also wünsche er keine solche Tagung mehr, stattdessen sich und allen Teilnehmern Ruhe für einen Waldspaziergang."

Katharina Rutschky gratuliert dem niederländischen Schriftsteller und "manischen Experimentator" Harry Mulisch zum 75. Geburtstag. Die Kolumne "times mager" beschäftigt sich mit dem Rücktritt in heroischer und banaler Ausprägung.

Besprochen werden Nikolaus Harnoncourt und Martin Kusejs Inszenierung des "Don Giovanni" bei den Salzburger Festspielen und politische Bücher, darunter Ingrid Betancourts Streitschrift "Die Wut in meinem Herzen", Norbert Freis Studie "Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945", Gunter Hofmann Anatomie der Bundesrepublik "Abschiede, Anfänge" sowie der Sammelband "testcard. Beiträge zur Popgeschichte" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 29.07.2002

Auch die FAZ kommentiert Thomas Middelhoffs überraschenden Abgang bei Bertelsmann. Für Michael Hanfeld scheitert hier ein genialer Geschäftsmann an den konservativen Intrigen der Gründergattin Liz Mohn und ihrer Palastwache. Middelhoff ist für ihn der Mann, "der den Streit mit der Dachgesellschaft der Bertelsmann-Sender, der CLT/Ufa, endgültig beendet hat und den Einklang mit der profitablen RTL Group in Luxemburg und dem Hauptsender in Köln suchte wie keiner vor ihm, der auf Fernsehen, Musikgeschäft und Internet setzte, der im ersten Halbjahr 2002 - dieses für die Medien überall sonst so schwarzen Zeitraums - einen Gewinn von 750 Millionen Euro hat erwirtschaften lassen, der für das Jahr 2003 auf eine Umsatzrendite von neun Prozent zusteuerte und insgesamt den Umsatz des Konzerns in seiner Zeit versechsfachte und den Gewinn verdoppelte." Auch im Wirtschaftsteil gibt es einen Bericht.

Mark Siemons analysiert den neuesten Trend der Lebenshilfe-Industrie: "Simplify your life": "Weiß, Wasser, Leere: Auf verschiedenen Ebenen setzt sich in der Trendindustrie eine Mode durch, die, nähme man sie beim Wort, alle übrigen Trends in sich aufnehmen und beenden müsste. Es ist der Trend der Einfachheit, einer radikalen existenziellen Komplexitätsreduktion. 'Simplify your life' hieß eine Buchreihe, mit der die Autorin Elaine St. James Anfang der neunziger Jahre der Bewegung ihre kompakteste Formel gab... Mitte des Jahrzehnts erschienen in Amerika schon drei einschlägige Zeitschriften: Real Simple, Simplicity und Oprah Winfreys Magazin O. Mittlerweile gibt es in den Vereinigten Staaten zwei nationale berufsständische Vereinigungen von 'professional organizers', die das Leben anderer Leute systematisch 'aufräumen'." Eine gute Putzfrau wäre wahrscheinlich billiger!

Weiteres: Heinrich Detering verabschiedet den syrischen Dichter Adonis aus Berlin, wo er ein Jahr im Wissenschaftskolleg verbrachte und sein Opus Magnum, eine Hommage an arabische Häretiker, schrieb. Jochen Hieber untersucht das Ende des Musical-Booms und die Neuordnung der Landschaft durch die einschlägigen Unternehmen. In einer Meldung erfahren wir, dass auf der Buchmesse in Kapstadt eine Liste mit den hundert besten afrikanischen Büchern bekanntgegeben wurde. Andreas Rosenfelder besucht ein Camp von Globalisierungsgegnern in Straßburg. Jürgen Kesting gratuliert dem Bariton Bernd Weikl zum Sechzigsten. Volker Weidermann gratuliert Sten Nadolny, ebenfalls zum Sechzigsten. Werner Berggruen erzählt eine Schnurre aus dem Pariser Gesellschaftsleben. Auf der Sachbuchseite lässt Jürg Altwegg eine ganze Parade französischer Fußballbücher Revue passieren, die nun, nach der französischen Blamage, schnellstens verramscht werden müssen.

Auf der Medienseite erläutert Stefan Niggemeier, warum MTV2 mehr Erfolg hat als der Muttersender - der Ableger verzichtet auf die lästigen Moderatoren. Und Karl-Peter Schwarz setzt die Berichterstattung über das Prager Mordkomplott gegen die investigative Journalistin Sabina Slonkova fort. Auf der letzten Seiten schreibt Siegfried Stadler ein kleines Profil über Michaeil Timofejewitsch Kalaschnikow, Erfinder des gleichnamigen Schießgewehrs. Und Robert von Lucius stellt das neue Halldor-Laxness-Museum auf Island vor.

Besprochen werden der Salzburger "Don Giovanni" unter Nikolaus Harnoncourt und Martin Kusej, Ausstellungen der Sammlung Goetz in der Villa Stuck und im kleinen Museum der Sammlung Goetz selbst, die Wiederaufnahme des "Lohengrin" in Bayreuth und George Taboris Bearbeitung der "Entführung aus dem Serail" in Berlin.