Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.07.2002. In der NZZ erinnert sich Ralf Dahrendorf an seinen Lehrer Karl Popper. Die FAZ erklärt, warum in der russischen Literatur die Verschwörungstheorien so beliebt sind. Die SZ läutet die Salzburger Festspiele ein. In der taz spricht die Autorin Juli Zeh über ihre Bosnien-Reise. Die FR beschwert sich, dass sich die deutschen Vertriebenen nicht multiperspektivisch erinnern.

FAZ, 27.07.2002

In der russischen Literatur blühen Kolportage und Verschwörungstheorien, berichtet Kerstin Holm: Für Alexander Prochanow ("Herr Hexogen") ist die russische Demokratie eine einzige Veranstaltung Im Sinne Amerikas und des Weltjudentums. Und Alexander Olbik lässt Präsident Putin in einem Thriller einen Tschtschenenführer umbringen, was er "schrecklich, aber gerecht" findet. So die Erfolge der Saison. Und Holm kommentiert: "Die nachsowjetische Verwestlichung des Landes hat bekanntlich neben vielfältiger neuer Nahrung auch neue Enttäuschungen gebracht und in neue Sackgassen geführt. Vielleicht macht gerade der entschiedene Westkurs von Präsident Putin vielen Russen besonders deutlich, dass sie von Europa immer ein Abgrund trennen wird. Das gemeine Volk begreift, dass der europäische Massenwohlstand für ihre Heimat eine Fata Morgana bleibt."

Im Baskenland geht's nicht viel besser zu. Paul Ingendaay erzählt, wie nun selbst ein kleiner Prieter unter Personenschutz gestellt werden musste, weil er gesagt hatte, er fühle sich in "Feindesland". Dabei, so Ingendaay, weiß jeder in diesen Tagen, was damit gemeint ist, "zumal in den baskischen Dörfern, in denen man sich kennt und beim Gang zum Bäcker täglich begegnet. Professoren, Künstler, Unternehmer, die Zahl der Auswanderer ist Legion. Unlängst hieß es, in manchen Kleinstädten könne keine politische Opposition mehr betrieben werden, weil es in den gesamtspanischen Volksparteien PP und PSOE an Kandidaten für den Gemeinderat fehle."

Weiteres: Wolfgang Sandner findet den neuen Tannhäuser in Bayreuth recht schal und dekorativ und ist selbst von Christian Thielemanns Leistung als Dirigent nicht hundertprozentig hingerissen. Peter Richter resümiert den Weltkongress der Architektur in Berlin. Andreas Rossmann fürchtet das Aus für das Filmbüro NRW. Zhou Derong meldet, dass der Kung Fu-Romancier Jin Yong nach Jahrzehnten des Schweigens wieder einen Roman schreibt.

Auf den Medienseite erfahren wir in einem von Michael Hanfeld mit heißer Nadel gestrickten Artikel (mindestens so viele Verschreiber wie im Perlentaucher!), dass nun ein Konsortiums des Spiegels, der Springer-Verlags und des Bauer-Verlags an einer Übernahme des Kirch-Imperiums interessiert sei. Stefan Niggemeier schildert die bisherigen Umtriebe des Spiegels im Fernsehen. Und ferner lesen wir die Meldung, dass die Netzeitung vom Bertelsmann-Fachverlag Bertelsmann-Springer gekauft worden ist (der seinerseits zum Verkauf steht).

In den Ruinen von Bilder und Zeiten erinnert Jürgen Kaube an Karl Popper, der in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre. Und Gerhard R. Koch findet, dass sich die Bayreuther Festspiele auch der Klavier- und Liedkompositionen Wagners annehmen sollten.

Besprochen werden eine Ausstellung der Bilderbögen des Wartburg-Kommandanten Bernhard von Arnswald in der Wartburg, Charles Herman-Wurmfelds Film "Kissing Jessica" und eine Ausstellung des Hollywood-Modeschöpfers Gilbert Adrian in New York.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um eine Bruckner-Aufnahme unter Riccardo Chailly, um CDs mit Werken von Edward Elgar, um eine neue CD des Soulsängers Solomon Burke und um eine Hommage von Gilberto Gil an Bob Marley.

In der Frankfurter Anthologie stellt Tanja Langer ein Gedicht von Hofmannsthal vor - "Vorfrühling":

"Es läuft der Frühlingswind
Durch kahle Alleen,Seltsame Dinge sind
In seinem Wehn..."


NZZ, 27.07.2002

Der südafrikanische Autor Lewis Nkosi blickt in die "Grauzonen der Post-Apartheid-Gesellschaft". Er beschreibt die Stadt Durban, deren Hafen und Strand einst verbotenes Terrain für die Schwarzen war: "Die großen Passagierschiffe gibt es inzwischen nicht mehr; doch die Handelsschiffe kreuzen noch immer geschäftig in der Bucht und wecken nach wie vor dasselbe Fernweh, das ich als Kind verspürte. Aber diejenigen, die heute den Schiffen nachsehen, sind ihrer Armut wegen genauso wenig frei, das Land zu verlassen, wie ich es damals war; es ist die 'befreite' Unterklasse der enttäuschten Schulabgänger, der arbeitslosen Hausangestellten und der Prostituierten aus Not, der Drogenhändler und der auf krumme Wege Geratenen. Sie alle drängen sich nun auf einem Terrain, von dem sie noch vor wenig mehr als zehn Jahren mit der grünen Minna abgeholt und für 'unbefugtes Herumlungern' in Arrest gesetzt worden wären."

Weiteres: Claudia Schwartz resümiert den Berliner Weltkongress der Architektur. Besprochen werden Wagners "Tannhäuser" bei den Bayreuther Festspielen, eine Jana-Sterbak-Ausstellung in München und einige Bücher, darunter Durs Grünbeins neuer Gedichtband "Erklärte Nacht" (siehe unsere Bücherschau morgen ab 11 Uhr).

Literatur und Kunst erinnert in einem größeren Dossier an Karl Popper. Ralf Dahrendorf denkt noch einmal über Poppers Idee der "Offenen Gesellschaft" nach, die er in seinem berühmten Buch "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" entwickelte. Es sind persönlich gefärbte Erinnerungen eines Schülers - eigentlich, so berichtet Dahrendorf hätte sich Popper viel lieber mit Quantenphysik befasst. " Nicht nur die 'Offene Gesellschaft' war Popper fremd und fern geworden, sondern auch die London School of Economics war eigentlich nicht der richtige Ort für ihn. Indes war er so dankbar, dass Friedrich von Hayek und Lionel Robbins ihm dort eine readership, also ein Extraordinariat, beschafft hatten, dass er nur wenigen gestand, wie viel lieber er in Oxford oder auch am Londoner University College gewesen wäre. Als ich ihm mein Büchlein 'Lebenschancen' schickte, gab er mir den köstlichen Kommentar: 'Wenn ich über Politik und Gesellschaft schreiben würde, dann sicher genauso wie Sie; aber Sie müssen verstehen: Ich habe so viele wichtigere Dinge zu tun.'"

In weiteren Artikeln würdigt Lothar Schäfer Leben und Werk des Philosophen. Und Uwe Justus Wenzel untersucht das Verhältnis Poppers zum Begriff des "Common Sense".

Weiteres: Peter Jost bespricht sehr ausführlich den auf französische erschienenen Briefwechsel zwischen Richard Wagner und dem Früh-Wagnerianer und Librettisten Charles Nuitter. Albert Gier lässt lässt Jules Massenets Leben in (ebenfalls auf französisch erschienenen Briefen) Revue passieren. Und Udo Bermbach setzt sich gründlich mit Brigitte Hamanns Buch über Winifred Wagner auseinander (mehr hier).

TAZ, 27.07.2002

Die Schriftstellerin Juli Zeh ist durch Bosnien gereist. Im Gespräch mit Ulrich Noller setzt sie ihre Tour durch das ehemalige Krisengebiet von derjenigen Peter Handkes ab und erklärt, wie der Krieg sie plötzlich einholte, als "diffuses und hintergründiges Gefühl, das immer da ist": "Manchmal hat man fast den Eindruck einer Verschwörung im Hintergrund. Nach dem Krieg ist ein Land voller Zeichen, die immer wieder darauf verweisen. Diese Zeichen sorgen für eine diffuse Bedrückung oder Bedrängung, obwohl jedes für sich nichts Schlimmes bedeutet. Das ist wie eine Gehirnwäsche. Und man kann es literarisch besonders gut wiedergeben, weil das Ausstreuen dieser Motive schon fast ein literarisches Verfahren ist. Das Land selber enthält diese Zeichen, man muss sie nur aufsammeln und aufschreiben."

Außerdem verreißt Sabine Zurmühl Philippe Arlauds Eröffnungs-"Tannhäuser" bei den 91. RW-Festspielen in Bayreuth ("Außer Lichteffekten und Bühnendesign gibt es kaum Inszenierungsspuren"). Und im tazmag-Interview spricht der Regisseur Romuald Karmakar ("Der Totmacher") über seine Vorliebe für deutsche Themen und bringt den Unterschied zwischen Kino und Flimmerkiste auf den Punkt: "Zweifel gehören zum Kino. Keine Zweifel ist die Domäne des Fernsehens."

Schließlich TOM.

FR, 27.07.2002

Im FR-Magazin porträtieren der israelische Journalist Uri Avnery und sein palästinensischer Kollege Daoud Kuttab Yassir Arafat. Während Avnery ihn als einzigen Palästinenser verehrt, "der sein Volk in der jetzigen verzweifelten Situation führen kann und der die Autorität hat, nicht nur einen Frieden zu schließen, sondern auch sein Volk zu überzeugen, ihn zu akzeptieren", bleibt Kuttab respektvoll kritisch: "Im Laufe der Zeit hat sich Arafat den Ruf erworben, trügerisch und irreführend zu sein. Manche nennen ihn sogar einen Lügner. Menschen aus seiner nahen Umgebung bekommen zumindest, heißt es, selten eine klare Antwort." Geschadet aber hat ihm das nicht. Einer seiner Biografen, so Kuttab, geht so weit, ihn deswegen als "Teflon Guerilla" zu bezeichnen. "Weil der Palästinenserführer es immer wieder schafft, dass alle Vorwürfe an ihm abperlen wie bei einer gut beschichteten Bratpfanne."

Ebenfalls im Magazin erklärt die Opernsängerin Grace Bumbry (mehr hier), wie es kam, dass ihr Bayreuth-Auftritt von 1961 als "erste schwarze Venus" ihr trotz aller rassistischen Anfeindungen zum Durchbruch verhalf: "Weil nur der Starke überlebt - so sagt man unter bei uns. Only the strong survives. Zum Thema Rassendiskriminierung in Bayreuth sollte das dringend erwähnt werden."

Im Kulturteil zu lesen: Ein Auszug aus Karl Heinz Götzes neuem Buch "Immer Paris", der uns durch die Pariser Bastille führt, die zwar, wie Götze schreibt, momentan so "out" ist wie ein Viertel nur sein kann, das gerade noch so "in" war, aber eben noch lang nicht tot: "Sie ist nicht einmal umfassend saniert. In der Rue Basfroi leben heute die neuen Immigranten so elend wie früher die in der Rue de Lappe, mit einem türkischen Klo für Dutzende von Hausbewohnern auf dem Flur ... Die Markthalle bietet alle kulinarischen Köstlichkeiten Frankreichs und Arabiens, während sich draußen auf dem Platz die Gemüse zu gigantischen Stillleben stapeln..."

Auf dem Grünen Hügel in Bayreuth ließ Hans-Klaus Jungheinrich Philippe Arlauds ebenso oberflächlichen wie geschniegelten Bilderbuch-"Tannhäuser" über sich ergehen (Grund genug für den Bund, die Zuschüsse zu erhöhen, wie dpa meldet). In ihrer "Zimt"-Kolumne denkt Renee Zucker nach über Schuld und Sühne unter Politikern. Michael Buselmeier durchstreift neue Nummern von "ndl", "wespennest", "manuskripte" u.a. Periodika. Helmut Ploebst schildert die Höhepunkte (Steve Paxton und Anne Teresa De Keersmaeker) beim Wiener Tanzfestival. Norbert Hummelt erkundet den neuen Osten als "funkelnde ästhetische Leerstelle" und wird von "Wostalgie" erfasst. Und Eberhard Döring erinnert an den einflussreichen Philosophen Karl R. Popper, der heuer 100 geworden wäre.

Besprechungen widmen sich Bruce Springsteens 09/11-Album "The Rising", Moritz Baßlers germanistischer Studie "Der deutsche Pop-Roman", einer sehr irdischen Sexualkomödie von Hans-Ulrich Treichel sowie dem letzten "Lucky Luke"-Album von Meister Morris' Hand (auch in unserer Bücherschau Sonntag um 11).

SZ, 27.07.2002

Beinahe monothematisch heute das SZ-Feuilleton: Informationen zu den heute abend beginnenden Salzburger Festspielen (hier die offizielle Website), wohin man auch blickt.

Wolfgang Schreiber kommentiert das Ende der Ära Mortier, den Beginn der neuen Ära Ruzicka (nicht mehr ganz aktuelle Informationen zu Ruzicka finden Sie hier). Da gibt es im Rückblick viel Lob für Mortier: "Es gab geradezu eine Lust an der Auseinandersetzung mit diesem in schlagfertigen Zungen redenden Intendanten, am geistigen Schlagabtausch mit ihm. Auch die Gegner hatten ihren Schmerz-Genuss." Und leise Zweifel an den Erfolgsaussichten des Nachfolgers: "Die Unantastbarkeit des Kunstwerks war für Mortier am Ende nur noch ein ungültiges Dogma. Die Frage ist, ob sein Nachfolger Peter Ruzicka, der heute abend seine erste Salzburger Festspielsaison eröffnet, wirklich Neuland, ein - wie er vor einem Jahr wünschte - von der Postmoderne befreites Territorium der zweiten Moderne betritt, betreten kann. Und ob man ihn salzburgseits gewähren lässt."

Reinhard J. Brembeck stellt den Festspielleiter Ruzicka ausführlicher vor, als Komponisten, Dirigenten, Juristen und Adorno-Anhänger und gelangt zu diesem Fazit: "Ruzicka ist eine Sphinx, der man sich am ehesten über ihre Musik nähert." Im Interview sieht sich der neue Schauspielchef Jürgen Flimm mit der aktuellen Festspiel-Kolportage konfrontiert: "Man hört ja die abenteuerlichsten Dinge aus Salzburg. Der 'Don Giovanni' dauert bislang noch sieben Stunden, und Claus Peymann hat sich im Landestheater eingesperrt. Peter Turrini durfte erst gestern einen kurzen Blick auf sein eigenes Stück werfen. Haben Sie noch alles im Griff?" Hat er, sagt er.

Da alles neu ist, gibt es - erstmals seit 1984 - auch einen neuen "Jedermann", inszeniert vom einstigen Oberammergauer Passionsspielleiter Christian Stückl (mehr hier), Christine Dössel hat bei den Proben zugesehen. Veronica Ferres gibt die Buhlschaft als "geiles Superweib", Tobias Moretti den Teufel. Die Fanfaren sind gestrichen, die Kulisse ist geändert, die Musik neu komponiert, Gott tritt auf - als Penner. Klingt nach einer richtigen Salzburger Revolution. Der SZ-Chefkritiker C. Bernd Sucher will, im ersten Teil einer Salzburg-Kolumne, keine Zweifel an den Festspielen aufkommen lassen: "Kein besserer Ort, nirgends."

Außerdem: Nicht nur Salzburg fängt gerade an, auch Bayreuth ist in eine neue Saison gestartet. Und was wäre, im Ernst, Bayreuth ohne Joachim Kaiser? Der hat sich den neuen Tannhäuser angesehen und angehört, lobt des Dirigenten Thielemann "extreme, ausdrucksvolle, sprechende Langsamkeit", ist insgesamt nicht enthusiasmiert, aber doch angetan. Oliver G. Hamm resümiert den zuende gegangenen Berliner Architektenkongress und fragt sich und die Veranstalter ernsthaft nach dem Sinn der "Mammutveranstaltung". Aus größerer räumlicher und zeitlicher Ferne berichtet Alexander Kissler, nämlich von einer Trientiner Ausstellung "Gotik in den Alpen", aber die Reise hat sich gelohnt: "ein großer Wurf".
Nach soviel E auch ein wenig U: Fritz Göttler kommentiert die Entscheidung des Filmproduzenten Dino de Laurentiis, sein großes Alexander-Epos nun von Baz Luhrman ("Moulin Rouge") inszenieren zu lassen. Außerdem bespricht er Monika Treuts neuen Film "Kriegerin des Lichts". Karl Bruckmaier hat auf einer britischen Compilation mit dem Titel "Sonic Mook Experiment 2" die Zukunft des Rock'n Roll kennengelernt, oder auch nicht. Kurz glossiert wird die Schnapsidee eines amerikanischen Kongressabgeordneten, Profi-Hacker auf private Festplatten mit illegaler Musik loszulassen.

In der SZ am Wochenende erinnert Klaus Podak an den Philosophen Karl Raimund Popper, der heute seinen 100. Geburtstag feiern könnte. Roger Willemsen denkt lang und länger über das Verstehen, das Nicht-Verstehen, und zwar beim Übersetzen nach. Und Paul Sahner gibt eine Einführung ins Gemütsleben von Boris Becker.