Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.10.2002. Die Zeitungen würdigen heute ausgiebig den neuen Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz. In der FAZ verbessert MRR heute die Wortwahl von Günter Grass. Die FR berichtet aus New York von einer Tagung der städtischen Gemüseanbauer-Vereinigung. Die taz fürchtet um den multikulturellen Charakter des HipHop. In der SZ erinnert Kardinal Lehmann an das Zweite Vatikanische Konzil.

FAZ, 11.10.2002

Imre Kertesz, dem gestern der diesjährige Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde (siehe auch unser Link des Tages), thront heute über dem Feuilleton. Hubert Spiegel erzählt, wie er mit Kertesz durch das Konzentrationslager von Auschwitz gegangen ist. Über das Lager habe Kertesz gesagt: "Um die Nichtigkeit unserer Person, unserer Individualität, unseres Daseins zu erkennen, gibt es keine bessere Schule, als die, durch die ich gegangen bin." Doch für Spiegel erscheint Kertesz alles andere als nichtig: "Vielleicht sind die Bücher, die Imre Kertesz geschrieben hat und für die er nun den Nobelpreis erhält, die Gegenschule zu Auschwitz gewesen. Indem sie von der Nichtigkeit unserer Existenz erzählen, beweisen sie das Gegenteil."

Außerdem gibt es noch ein Porträt von Tilman Spreckelsen und die Gratulation des Schriftstellers Alexander Tisma, der Kertesz' "Roman eines Schicksallosen" ins Serbische übersetzt hat. Auch der Preisträger selbst kommt zu Wort, in einem kurzen Gespräch mit Johanna Adorjan und Nils Minkmar.

Marcel Reich-Ranicki geht in einem offenen Brief auf Günter Grass' vorgestriges Versöhnungsangebot im WDR ein, wenn auch im Krebsgang. Immerhin kann er nicht darauf verzichten, Grass ob seiner Wortwahl zu belehren: "Eine veröffentlichte Kritik lässt sich nicht zurücknehmen. Aber vielleicht ist Ihnen etwas unterlaufen, was auch großen Schriftstellern passieren kann? Sie haben offensichtlich das falsche Wort gewählt. Denn Sie meinen vermutlich nicht die Rücknahme, sondern eine Revision." Und was die Richtigkeit seiner Kritik angeht, so lässt Reich-Ranicki keinen Zweifel daran, dass eher ihm als dem Autor selbst zu vertrauen sei: "Meinen Sie wirklich, dass Sie berufen und imstande sind, das Fehlerhafte einer Kritik zu erkennen, die Ihrem Buch gewidmet ist?" Amen.

Weitere Artikel: In der Abteilung "Hanf- und Bachblüten" rät Dietmar Dath allen Hanf- und Haschisch-Anhängern, das magische Kraut zu vergessen, und Siegfried Stadler berichtet über die Leipziger "Bachpflege". Kerstin Holm porträtiert Alexander Iwanow, den Verleger des russischen Skandal-Autors Wladimir Sorokin. "Rh" meint, dass es der PDS auch nach der Wahlniederlage an selbstkritischen Ansätzen mangelt. Gleich zwei siebzigste Geburtstage werden gefeiert: Michael Jeisman gratuliert dem Historiker Saul Friedländer und Jürgen Kaube dem Philosophen Michael Theunissen. "Csl" berichtet, dass der Nationale Ethikrat von nun an öffentlich tagt. Und auch heute gibt es sie wieder, die vier Skizzen von der Frankfurter Buchmesse.

Auf der Medienseite berichtet Paul Ingenday von der baskischen Tageszeitung "Gara", die dem kompromisslosen baskischen Nationalismus ein Forum bietet, und Frank Olbert schreibt über die finanzielle Krise am Grimme-Institut (mehr hier).

Besprochen werden Ausstellungen, Ernst Wilhelm Nay in der Münchner Hypo-Kunsthalle, Imi Knoerer in der Hannoveraner Kestner-Gesellschaft, Burkhard C. Kominskis Inszenierung von Tankred Dorsts "Merlin oder Das wüste Land" an der Berliner Schaubühne, Filme - Laurent Cantets "Auszeit" und Ken Loachs "The Navigators" -, Theodor Fontanes "Frühe Erzählungen" und Sachbücher (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 11.10.2002

Imre Kertesz (mehr hier) als ersten Ungarn und zweiten Holocaust-Überlebenden nach Nelly Sachs (mehr hier) mit dem Literaturnobelpreis auszuzeichnen, preist Ina Hartwig als gute Entscheidung. Und lässt ihn gleich selbst über sein einziges literarisches Thema sprechen: "Das wirklich Irrationale und tatsächlich Unerklärbare ist nicht das Böse, im Gegenteil: es ist das Gute. Gerade deshalb interessieren mich schon lange nicht die Führer, Reichskanzler und sonstigen Titularusurpatoren, sondern einzig noch das Leben der Heiligen, denn das finde ich interessant und unfassbar, dafür finde ich keine rationale Erklärung; und Auschwitz hat sich, wie sehr das auch nach einem traurigen Witz klingt, unter diesem Gesichtspunkt geradezu als lohnendes Unternehmen erwiesen." Die Glückwünsche übernehmen Schriftstellerkollegen wie Tilman Spengler und Georges-Arthur Goldschmidt.

Dass Gärtnern bedeutet, Kriminalität zu vermeiden, hat Elisabeth Meyer-Renschhausen auf einer Tagung der städtischen Gemüseanbauer-Vereinigung Green Thumb in New York erfahren. Und dass die Umwandlung von brachliegenden Grundstücken in blühende Gärten ganz unerwartete nachteilige Folgen haben kann. Die Stadtteile sind jetzt so schön, "dass heute die Menschen, um die es damals insbesondere ging, die arme Bevölkerung nämlich, durch die steigenden Mieten vertrieben werden."

Weiteres: Oliver Fink berichtet vom Comic-Zentrum auf der Frankfurter Buchmesse, wo entgegen dem allgemeinen Trend die Umsätze und die Stimmung von Jahr zu Jahr besser werden. "loi", "P.I." und "tt" steuern kurze Messe-Beobachtungen über Trondheim, Ächten und die Grußpolitik bei. Hans-Klaus Jungheinrich macht sich Gedanken zur Krise des Musiktheaters in Deutschland und fordert eine Opernreform. Eva Schweitzer verfolgt die Diskussion über den Pinochet-Putsch in Argentinien und die amerikanische Beteiligung daran, die in den USA anlässlich des Starts zweier Dokumentarfilme über die blutigen Tage im Jahre 1973 angelaufen ist. Und "alz" erzählt von einem Treffen mit Imre Kertesz, damals noch ohne Nobel-Lorbeeren. Offensichtlich ein schönes Erlebnis: "Wir hatten dann einen sehr lustigen, beschwingten Abend."

Besprochen werden eine Aufnahme von Ralph Benatzkys Operette "Bezauberndes Fräulein" als CD der Woche, Ridley Scotts Kriegsfilm "Black Hawk Down", die groteske Esoterik-Farce "Der Super Guru", Tankred Dorsts Weltenmärchen "Merlin oder Das wüste Land" an der Berliner Schaubühne und Bücher, darunter Jorge Volpis Roman "Der Würgeengel" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 11.10.2002

Auch die taz widmet sich dem frischgebackenen Literatur-Nobel- und taz-Hans-Sahl-Preisträger Imre Kertesz. Ralf Bönt erinnert sich an seine Leseerfahrungen mit Kertesz, während Gerrit Bartels und Kolja Mensing auf der Buchmesse den Jubel am Rowohlt-Stand beobachtet haben. Ein kurzes Porträt des ungarischen Schriftstellers schließt die Kertesz-spektive auf den Tagesthemenseiten ab.

Auf den Kulturseiten unterhalten sich Daniel Bax und Thomas Winkler mit Hannes Loh und Murat Güngör, Autoren von "Fear of a Kanak Planet" über die Verdrängung der Migranten aus der HipHop-Szene. Der Rap ist deutsch geworden. Und damit politisch brisant. Denn "der Verlust des multikulturellen Charakters von HipHop hat auch eine dramatische Bedeutung: Weil damit ein Integrationsmodell verloren gegangen ist."

Weitere Artikel: Ralph Bollmann ist sich nicht so sicher, ob eine Opernstiftung die Berliner Kulturmisere wirklich beenden kann. Kolja Mensing berichtet von der Buchmesse, wie sich "bei Laugenbrötchen und Rotwein (...) im Hause Suhrkamp das große Gefühl der Zusammengehörigkeit" einstellt.

Ausführliche Besprechungen widmen sich der Schau mit Werken Daniel Richters (mehr hier) am Düsseldorfer Ständehaus K 21 und dem neuen Album der deutschen Soul-Hoffnung Sarah Connor (ihre Website). Außerdem zu lesen: ein Streifzug durch aktuelle Ausstellungen.

Und nun zum Schmankerl des Tages: der Le Monde diplomatique, die heute der taz beigelegt ist. Darin erinnert Norman Birnbaum an den republikanischen Präsidenten Abraham Lincoln, der sich jeder "unrechtmäßigen Einmischung" in andere Länder enthalten wollte. Birnbaum fragt sich nun, wie sein Parteikollege und jetziger Amtsinhaber so ganz anderer Meinung sein kann. "Heute haben wir es nicht mehr mit einem Wechselspiel zwischen Idealismus und Realismus zu tun, sondern mit einer surrealen Verschmelzung beider Motive. Die Bush-Regierung tritt für die Menschenrechte im Iran ein, verlangt aber zugleich von einem US-Gericht, das Verfahren gegen den Ölmulti Exxon einzustellen, dem die Beteiligung an Repressionen in Indonesien zur Last gelegt wird."

NZZ, 11.10.2002

Dass Imre Kertesz der erste ungarische Schriftsteller ist, dem die Ehre des Literaturnobelpreises zuteil wird, macht Andreas Oplatka nachdenklich: "Ungarn hatte sehr lange darauf gewartet, dass der Nobelpreis für Literatur einmal in dieses Land kommen würde. Dies nicht nur aus nationaler Ambition. Der Wunsch nährte sich auch aus der Überzeugung, dass Ungarn eine traditionsreiche, gehaltvolle Literatur besitzt; verstärkt wurde er durch die Tatsache, dass es hierzulande ein literarisches Leben gibt, in dem Bücher zum Ereignis werden können. Zugleich allerdings kennt man in Ungarn von jeher das lähmende Gefühl der sprachlichen Isoliertheit, die zu durchbrechen so schwer fällt. Anerkennung, die ungarischer Kunst von jenseits der Grenzen zuteil wird, bedeutet für die Magyaren stets auch einen Beweis der lange unter schweren historischen Umständen erstrebten Zugehörigkeit zur westeuropäischen Kulturwelt." Die NZZ hatte gestern bereits ein kleines Dossier mit Buchkritiken und einem Essay von Kertesz aus dem Jahre 2001 ins Netz gestellt.

Weitere Artikel: Micha Brumlik stimmt anlässlich des siebzigsten Geburtstags des Historikers Saul Friedländer ein Loblied an, Roman Bucheli verschreibt dem "Buchmessen-Lazarett" ein Rezept voll positiver Fakten, die es trotz gesundheitlich angeschlagener Buchbranche durchaus zu verkünden gibt. Und schließlich äußern sich die Vertreter der beiden Schweizer Schriftstellerverbände SSV und GO im Gespräch mit Roman Bucheli zur geplanten Wiedervereinigung.

Besprochen werden die im "unverkennbaren Stil" des "chinesischen Action-Spezialisten" John Woo verfilmte Code-Breaker-Geschichte "Windtalkers", der Debütfilm der neuseeländischen Regisseurin Christine Jeffs "Rain", der Frauen-und-Fußball-Film "Bend it like Beckham" und ein "verblüffender" Dokumentarfilm von Marcel Schüpbach über den 75-jährigen Choreographen Maurice Bejart und dessen Kunst: "B comme Bejart". Zu guter Letzt ein achtbändiges "Personenlexikon des Films" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 11.10.2002

Die SZ feiert den Literaturnobelpreis für Imre Kertesz mit drei Artikeln. Thomas Steinfeld reflektiert über den Schriftsteller, der von sich sagt: "Ich bin ein Medium für den Geist von Auschwitz." Im Gespräch nennt Kertesz die Auszeichnung eine "Glückskatastrophe, eine schöne Katastrophe, wie ich sie jeden Tag haben möchte". Kollege Peter Nadas zeigt sich erfreut, dass seiner "kleinen Nation mit der großen Literatur" die langersehnte Ehre nun endlich zuteil wurde. Den Preis kommentieren auch andere, etwa der ungarische Ministerpräsident Peter Megyessy, Schriftsteller György Konrad und Marcel Reich-Ranicki.

Kardinal Lehmann erinnert an das Zweite Vatikanische Konzil (alle Dokumente hier), das vor vierzig Jahren von Papst Johannes XXIII. in Rom eröffnet wurde. "Am Abend hält er auf das Drängen seines Sekretärs zum Abschluss des eindrucksvollen Fackelzugs auf dem Petersplatz vom Fenster seines Arbeitszimmers aus die berühmte, frei gehaltene Mondscheinrede. 'Man könnte sagen, dass sogar der Mond sich heute Abend beeilt hat.'"

Weitere Artikel: Kleine Beobachtungen von der Buchmesse liefern ijo, W.S. und augf. Reinhard J. Brembeck stellt das neue Modell vor, dass den Berliner Opernstreit endgültig beenden soll. Henning Klüver berichtet über Giuseppe Verdis wichtigstes Werk, die Casa di Riposo Per Musicisti in Mailand, ein Altersheim für Musiker. Fritz Göttler amüsiert sich über den Aufruhr, den der weltexklusive Start des neuen Scorcese-Films "Gangs of New York" in Japan verursacht - vier Tage vor dem USA-Release! "Rop" weiß, dass der umstrittene Gesetzentwurf zur Errichtung einer Stiftung für die bayerischen KZ-Gedenkstätten nun in die nächste Runde geht. Frank-Rutger Hausmann war auf dem Jubiläum der rührigen "Arbeitsgemeinschaft Mittellatein".

Jürgen Ziemer kündigt die Deutschlandtournee des traurigen und genialen Songwriters Daniel Johnston an (hier seine recht erfrischende Website). Ulrich Raulff gratuliert dem Historiker und der moralischen Autorität Saul Friedländer (mehr hier) zum Siebzigsten, aus dem gleichen Grund beglückwünscht Hartwig Wiedebach den Fundamentalphilosophen Michael Theunissen. Kristina Maidt-Zinke meldet kurz, dass Amazon nun ein Antiquariat eröffnet. Aus einer dpa-Meldung erfahren wir vom Tod des Dokumentarfilmers Charles Guggenheim.

Auf der Medienseite beäugt Christian Kortmann die neue ARD-Fernsehshow "Was passiert, wenn...?" mit Thomas Elstner (genau, der Sohn von...). Und Hans Hoff sichtet die Pläne für eine WDR-Programmreform.

Besprochen werden Kosminskis überflüssige Inszenierung des "Merlin" von Tankred Dorst an der Berliner Schaubühne, eine Fotoausstellung über gebrochene Bodenplatten aus Marmor im Münchner Haus der Kunst sowie ein Gedichtband des litauischen Lyrikers Tomas Venclova (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).