Heute in den Feuilletons

Im Rausch der akademisierten Veredelung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.04.2012. In der Zeit warnt Dominik Graf vor dem deutschen Relevanzkino: Der Verlust an Trivialität ist dramatisch. Die taz setzt sich in Wiesbaden unerschrocken der russischen Realavantgarde aus. Im Freitag schildert die Journalistin Hani Yousuf die gefährliche Lage in Pakistan. Die FR eruiert Hintergründe zum berüchtigten "Todesspiel" von 1942 in Kiew. In der NZZ warnt Miriam Meckel vor drastischen Etiketten in Feuilletondebatten. SZ und FAZ widmen sich salafistischen Umtrieben in Köln und Kairo.

TAZ, 26.04.2012

Oksana Bulgakowa berichtet vom Festival GoEast in Wiesbaden, das mit einem Symposium und einer Retrospektive von Filmen aus dem Lenfilm-Studio auf das Schicksal der 1918 gegründeten Institution aufmerksam machte, die nun vor dem Aus steht. "Die Veranstalter entschieden sich für das zweite Glied im Marschblock: melodramatischer Kitsch der zwanziger, SozRealistischer Kitsch der dreißiger bis fünfziger Jahre, romantisch nostalgischer Kitsch der siebziger. Die heterogene Mischung aus Ideologie und Unterhaltung wurde kurzerhand und etwas unerschrocken als Realavantgarde betitelt, was sich nur in Anlehnung an RealSozialismus interpretieren lässt: zwar weit weg von der Vision, doch die einzige Avantgarde, die man nun mal hat."

Weiteres: Claudia Lenssen unterhält sich mit Jeremie Elkaim und Valerie Donzellider über ihren Film "Das Leben gehört uns", der auf der authentischen Geschichte der Krebskrankheit ihres Sohnes basiert. Lawinia Meier-Ewert liefert einen Nachtrag zur Plagiatsdebatte über Heinrich von Kleists Stück "Der zerbrochne Krug", in der es um Kleists Handschrift und die Bedeutung von Faksimiles gegenüber den Originalmanuskripten geht. Hans Christoph Zimmermann informiert über die zur "Schmierenkomödie" geratene Auseinandersetzung zwischen der Stadt Köln und ihrem Opernchef Uwe Eric Laufenberg, in der es um Defizite, Sparpläne und seinen Rücktritt geht.

Besprochen werden der zweite, als "vergnüglich" apostrophierte Spielfilm der chinesischen Regisseurin und Schriftstellerin Xiaolu Guo "Ufo in Her Eyes" mit Udo Kier und das Album "Bum Bum" des Berliner Andromeda Mega Express Orchestra.

Und Tom.

Aus den Blogs, 26.04.2012

Amos Vogel, zentrale Figur der New Yorker Cinephilie, Begründer des legendären Filmclubs "Cinema 16" und nicht zuletzt Autor des Filmbuchklassikers "Film als subversive Kunst", ist tot. Bei mubi finden wir dazu viele weiterführende Links, dem Blog Film Studies for Free verdanken wir außerdem den Hinweis, dass der Regisseur Paul Cronin seinen 2004 auf der Berlinale gezeigten und wirklich großartigen Porträtfilm "Film as subversive Art: Amos Vogel and Cinema 16" (hier unsere Kritik) über seinen Vimeo-Kanal in voller Länge zur Verfügung stellt:



Während die Zeitungsverlage lauthals "Haltet den Dieb!" schreien, entmachten sie die Urheber immer mehr, schreibt Wolfgang Michal auf Carta: "Beim Lizenzhandel (der immer lukrativer werdenden Zweitvermarktung) machen die Verlage den Urhebern bereits direkte Konkurrenz. Autoren, die ihre Produkte früher mehrfach verkaufen konnten (etwa die gleiche Story an 20 verschiedene Regionalzeitungen), können das heute nicht mehr. Die Verlage (und bald auch die Sender) vermasseln ihnen das Geschäft und bieten die Werke der Urheber zahlreichen Dritten zur Weiternutzung an. Mit dem Leistungsschutzrecht würden die Urheber dann auch noch einen Teil ihrer Persönlichkeitsrechte verlieren."

FR/Berliner, 26.04.2012

Über das Fußballspiel zwischen deutschen Wehrmachtssoldaten und einem Team aus Kiew im Sommer 1942 wird bis heute kontrovers diskutiert: handelte es sich bei den Ukrainern um den Werksklub einer Brotfabrik oder um die Meistermannschaft von Dynamo Kiew? Und stand die Ermordung von vier ukrainischen Spielern im Zusammenhang mit deren Sieg, was dem Match den Beinamen "Todesspiel" verlieh? Jetzt löst eine neue Verfilmung der Geschichte in der Ukraine heftige Debatten aus, wie Christian Esch berichtet: "Der russische Spielfilm 'Match' ist nach Aussage seiner Produzenten ein 'patriotischer Action-Film'. Aber was heißt Patriotismus nach dem Zerfall der Sowjetunion?"

Daniela Zinser spricht mit Kluftinger-Schauspieler Herbert Knaup über seine Allgäuer Heimat. Dirk Pilz berichtet von einer Rede Martin Walsers an der Humboldt-Universität. Außerdem besprochen werden Stephen Greenblatts gelehrte Erzählung "Die Wende. Wie die Renaissance begann" und drei Filme: der vierte Teil der Klamaukkomödie "American Pie", das französische Drama "Das Leben gehört uns" und die chinesische Satire "Ufo in her Eyes".

Freitag, 26.04.2012

Die zur Zeit in Berlin lebende pakistanische Journalistin Hani Yousuf erklärt, warum sie vorerst nicht in ihre Heimat zurückkehrt, obwohl sie davon träumt. Ihr Artikel fängt so an: "Es ist Donnerstag, ein normaler Tag in der vergangenen Woche. Wieder ist in Pakistan ein Journalist ums Leben gekommen. Murtaza Razvi, Redakteur und Kolumnist bei Dawn, der größten pakistanischen Tageszeitung, wurde ermordet. Die Leiche ließ man in einem Künstleratelier in einem wohlhabenden Viertel Karatschis zurück. Sein Körper trug Zeichen von Folter, er sah aus, als hätte man ihn erdrosselt. Die Ergebnisse der Obduktion sind noch nicht da..."

Außerdem im Freitag: Marina Weisband erklärt im Gespräch mit Jakob Augstein das Politikverständnis der Piratenpartei. Ruaridh Nicoll porträtiert (in einem aus dem Observer übernommenen Artikel) den superhippen Magazin-Gründer Tyler Brûlé.

NZZ, 26.04.2012

Kein Tag, an dem nicht jemand den "Shitstorm" bemüht. Heute will Miriam Meckel hinter dem Scheißsturm das grundlegende Prinzip der Feuilletondebatte erkennen, dabei ist sie absolut gegen effekthascherische Etikettierung: "Dahinter schimmert etwas Abstoßendes auf: die Instantideologisierung: Man nehme einen Begriff, hafte ihn einem Autor, einem Politiker, einem Dichter an - und schon hat man ihn erfolgreich zum Kindermörder, Nazi oder Antisemiten gestempelt. Selbst wenn der folgende Shitstorm sich gegen den Kritiker wendet, bleibt das Etikett haften, so wie alles, was einmal ins Internet eingeschrieben ist."

Weiteres: Joachim Güntner berichtet, dass die Schweiz erwägt, Inzest als einvernehmlichen Sex zwischen Erwachsenen straffrei zu machen. Sieglinde Geisel war bei einem Autoren- und Kritikertreffen im Literarischen Colloquium Berlin, auf dem über das Verhältnis von Recherche und Literatur diskutiert wurde.

Besprochen werden Ursula Meiers bärenprämierter Film "Sister", Simon Curtis' Hommage "My Week with Marilyn" und Indra Sinhas Roman "Menschentier".

Welt, 26.04.2012

Die Autorin Ines Geipel spricht im Interview mit Annette Prosinger darüber, wie Amokläufer an Computerspielen üben und über das Internet voneinander lernen: "Die neue Schule des Tötens heißt eben auch 15 Jahre Training mit den neuen Medien."

Im Kulturteil erklärt Paul Badde, warum Benedikt XVI. mit einem Machtwort in die Debatte über ein Übersetzungdetail im katholischen Hochgebet eingreift. Außerdem gibt es Besprechungen von Rufus Wainwrights neuem Album "Out of the Game" und dem französischen Kinderkrebs-Drama "Das Leben gehört uns" sowie ein Interview mit dessen Regisseurin Valérie Donzelli.

Zeit, 26.04.2012

Dominik Graf kann es nicht mehr sehen, dieses von "Fördergeldern begießkannte deutsche Relevanzkino", und er polemisiert hübsch angriffslustig gegen dessen korrektes Gesellschafts- und Geschichtsverständnis, seine Sensibilität gegenüber Familienproblemen, Alzheimer und Neonazis. "Der Verlust an Trivialität ist dramatisch. Die selbstgewählte Seriosität des deutschen Gegenwartsfilms widerspricht der Sehnsucht nach Spektakel, nach brüllendem Gelächter, nach Jahrmarktsschock - alles Grundwesenszüge des Kinos. Negiert wird der böse, kreischende Anteil filmischen Erzählens, jener kreativ explodierende Todestrieb, der stets zu herrlich schlechten Filmen führte ... Seit 1990 ist dem deutschen Kino weitgehend jedwede Naivität verloren gegangen. Im Rausch der akademisierten Veredelung von formalen und inhaltlichen Absichten."

Weiteres: Auf zwei Seiten muss Günter Wallraff im Interview zu den ihm immer wieder von der Welt vorgeworfenen Stasi-Kontakten Rede und Antwort stehen. Doch er betont: "Die Stasi hatte am Zustandekommen von 'Ganz unten' keinerlei Anteil." Klaus-Dieter Lehmann umreißt Zukunft und Gegenwart der Goethe-Institute in Europa.

Besprochen Rufus Wainwrights neues Album "Out of the Game", die El-Greco-Ausstellung im Düsseldorfer Museum Kunstpalast, Jette Streckels Inszenierung von "Dantons Tod" in Hamburg, Martin Amis' "Die schwangere Witwe" und Chimamanda Adichies Erzählungen "Heimsuchungen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 26.04.2012

Sonja Zekri meldet, dass der ägyptische Schauspieler Adel Imam in Kairo auf Anzeige eines salafistischen Anwalts zu einer Geld- und Haftstrafe verurteilt wurde - wegen einer Rolle, die er in einem Film gespielt hat: "Ägyptens Islamisten - angetreten, das Land zu neuer Blüte zu bringen - brechen nicht nur politisch ein Versprechen nach dem anderen. Sie verspielen auch unter Kulturschaffenden jeden Kredit. Und dass sich der Militärrat mit seinen Drohungen gegen Schriftsteller und Aktivisten ähnlich undemokratisch zeigt, macht die Aussichten nur trüber."

Weiteres: Jesu Blut floss nicht, wie in der deutsch übersetzten Liturgie seit 1970 behauptet, "für alle", sondern bloß "für viele", ermahnt Josef Ratzinger derzeit deutsche Gläubige, informiert Matthias Drobinski. Dass diese Textänderung philologisch durchaus heikel ist, ist Burkhard Müllers Kommentar zu entnehmen. Beim Münchner Gastspiel des Birmingham Royal Ballet verliebte sich Eva-Elisabeth Fischer in die einzigartige Eleganz dieser Kompanie. Annett Scheffel hat bei einer Veranstaltung des Literarischen Colloquiums Berlin Autoren und Literaturkritikern bei einer Diskussion über die literarische "Herausforderung eines veränderten Zeitempfindens" zugehört. Christine Dössel erlebte beim Filmfestival in Bozen einen grantelnden Josef Bierbichler. Michael Struck-Schloen hat wenig Verständnis dafür, dass Köln den nach anhaltenden Querelen mit der Lokalpolitik frühzeitig das Haus verlassenden Opernintendant Uwe Eric Laufenberg ziehen lässt. Nach dem Münchner Konzert der Geigerin Hilary Hahn, die "musikalisch wie interpretatorisch" nach neuen Wegen Ausschau hält, vernahm Reinhard Brembeck "kurzen, leicht ratlosen Beifall". Andrian Kreye unterhält sich mit dem experimentierfreudigen Jazzmusiker Rober Glasper. Hier verjazzt er Nirvana:



Besprochen werden neue Kinofilme, darunter ausführlicher die Superhelden-Revue "The Avengers", Karin Henkels "Idiot"-Inszenierung am Schauspiel Köln, die Martin Krumbholz neuerlich über die Bedeutung des "Paradigmenwechsels vom Dramatischen zum Epischen, der auf unseren Bühnen seit geraumer Zeit triumphiert," rätseln lässt, und ein Buch von Ines Geipel über Amokläufe (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 26.04.2012

Joseph Croitoru beleuchtet Hintergründe der umstrittenen Koran-Verteilaktion in Deutschland und stellt dafür den Übersetzer Muhammad Ahmad Rassoul vor, über den er auch andere Einzelheiten zu berichten weiß. So schrieb dieser bereits 1993 das Pamphlet "Das deutsche Kalifat": Darin zog er "gegen die Staatsform der Demokratie zu Feld, prophezeite ihren Untergang und propagierte die Errichtung eines deutschen Kalifats. Er plädierte dafür, die 'Herzen der Deutschen für den Islam schlagen zu lassen und das Kalifat . . . auf dem deutschen Boden als leuchtendes Beispiel für Europa und die übrige Welt entstehen zu lassen'. Dass der Verfasser wegen des Pamphlets von staatlicher Seite sanktioniert wurde, ist nicht bekannt."

Rundum begeistert ist Dietmar Dath von "The Avengers", dem Superheldenfilm seines seit "Buffy"-Tagen Säulenheiligen Joss Whedon, der damit "seine in drei Fernsehserien, zwei Kinofilmen, einer Web-Show und zahlreichen Comics unternommene fortlaufende Inventur des ästhetischen Ressourcenbestands von Science-Fiction, Fantasy und Horror um ein weiteres Glanzstück ergänzt" habe.

Weiteres: Martin Schult berichtet von den auch durch fiskalische Gängelung bedingten Problemen der ungarischen Literaturszene im zweiten Jahr unter der nationalkonservativen Regierung Orbáns. Pirat Christopher Lauer weist die kürzlich in der FAZ von Björn Böhning geäußerte Kritik an seiner Partei weit zurück. Wiebke Hüster fiel beim Gastspiel des Birmingham Royal Ballet in München vor tiefempfundenem Glück auf die Knie. Seinerseits tief beglückt ging Eric Pfeil von Chuck Prophets "Ausnahmeauftritt" in Köln nach Hause. Hans-Jörg Rother berichtet vom goEast-Filmfestival in Wiesbaden. Wolfgang Schneider war bei einer Tagung im Literarischen Colloquium Berlin über Gegenwärtigkeit in der deutschen Literatur.

Besprochen werden die große "El Greco"-Ausstellung im Museum Kunstpalast in Düsseldorf, in der sich Swantje Karich von "vierhundert Jahre altem Eigensinn" gerufen fühlt, neue Schallplatten von Bonnie Raitt und The Shins, eine Ausstellung über August Endell im Bröhan-Museum in Berlin, der gerade auf DVD erschienene und für den Deutschen Filmpreis nominierte Film "Dreiviertelmond", die in Frankreich gerade enorm erfolgreiche Marsupilami-Verfilmung und Bücher, darunter John Boynes Roman "Das späte Geständnis des Tristan Sadler" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).