Magazinrundschau

Keine Sünde, keine Vergebung

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
12.12.2023. Quo vadis, slowakische Kultur, fragt Artalk. La vie des idees erinnert an Qatargate. Eurozine erinnert an den türkischen Feminismus vor Atatürk. Die London Review taucht mit Eric Williams in die kapitalistische Geschichte der Sklaverei ein. Der New Yorker lernt mit Charlie Swanton, wie Krebs entsteht. In Quillette fragt Steven Pinker, wie eine eine Bewegung von frauenfeindlichen, homophoben, völkermordenden Fanatikern zum Darling vieler Linker werden konnte. In Qantara wirft ARD-Korrespondent Stefan Buchen der Bundesregierung vor, eine rechtsextreme Regierung in Israel zu unterstützen. Wired porträtiert Joe Weisberg, Autor der Serie "The Americans", .

London Review of Books (UK), 12.12.2023

Christopher L. Brown bespricht eine Neuauflage des Buchs "Capitalism and Slavery" von Eric Williams, dem späteren Premierminister von Trinidad und Tobago. Das erstmals 1944 erschienene Buch, dessen Grundthese lautet, dass der Sklavenhandel die Grundlage der industriellen Revolution war, und sein Ende nicht aus moralischen Überlegungen, sondern aufgrund schwindender Profitraten erfolgte, war ebenso einflussreich wie umstritten. Nicht alle Überlegungen Williams' sind heute noch haltbar, meint Brown, vieles wurde gerade in den letzten Jahren von einer neuen Generation von Historikern ergänzt. Dennoch ist Williams' Perspektive auch heute noch relevant, insbesondere, da sie nicht auf moralische Urteile zielt. Nicht zuletzt, wenn es um die Sklavenhändler selbst geht: "Er weigerte sich, die Männer und ihre Familien als Bösewichter, oder auch nur als Außenseiter zu beschreiben. Vielleicht besteht die größte Scham des atlantischen Sklavenhandels darin, dass er gar keinen Anlass zu Scham bot. In ihrer eigenen Zeit waren Sklavenhändler hochangesehen: 'ehrenwerte Herren, Familienväter, herausragende Bürger', so Williams. Sie stifteten Schulen, Krankenhäuser, Waisenhäuser und Bibliotheken, was sie zu 'führenden Wohltätern ihrer Zeit' machte. Williams genießt die Ironie. Aber es ist leicht zu übersehen, was ihn an diesem Gegensatz besonders interessiert. Können die Besten einer Gesellschaft sich über die moralischen Normen ihrer Zeit hinwegsetzen? Warum sollten - oder auch: wie können - wir erwarten, dass die Handelsleute Liverpools, Bristols und Londons die Anforderungen, die Lockungen, die ökonomische Logik ihrer Ära zurückweisen? Williams stellt diese Frage nicht, um die Vergangenheit gegen die Gegenwart zu zu verteidigen, so wie einige es in defensiver Manier heute versuchen. Seine Weigerung, den atlantischen Sklavenhandel als eine Sünde zu brandmarken, hat mit einer spezifischen Form der Argumentation zu tun. Wenn es keine Sünde gab, gibt es keine Vergebung."

Kevin Okoth stellt die ruandische Autorin Scholastique Mukasonga vor: "Die Hutu-Behörden in Ruanda, so schreibt sie in 'Frau auf bloßen Füßen', nannten die Tutsi 'inyenzi, Kakerlaken, Insekten, die es zu verfolgen und schließlich auszurotten galt' dar. Der Begriff 'inyenzi' beschwor das Bild eines Feindes herauf, der überall und unter allen Bedingungen überleben konnte, eine allgegenwärtige Kraft, die die Hutu-Zivilisation untergraben hatte. Mukasongas literarisches Projekt, das Memoiren, Romane und Kurzgeschichten umfasst, ist eine Antwort auf diese Entmenschlichung, indem es das Leben der Tutsi aus den Trümmern der ruandischen Geschichte zurückfordert. ... In ihrem Roman 'Kakerlaken' kritisiert Mukasonga die Kultur des Schweigens, die den Versöhnungsprozess nach dem Völkermord geprägt hat. Gegen Ende des Buches erzählt sie von ihrem letzten Besuch in Ruanda vor dem Völkermord. Ihre Eltern geben eine Willkommensparty, um ihre Rückkehr zu feiern, aber die Anwesenheit einer 'Familie von Fremden' beunruhigt Mukasonga. Sie erfährt, dass es sich bei den neuen Nachbarn um Hutus aus dem Norden des Landes handelt, denen ein Platz am anderen Ende unseres Feldes zugewiesen wurde. Siebenunddreißig Mitglieder ihrer Familie werden während des Völkermords getötet, doch als sie ein Jahrzehnt später, im Jahr 2004, zurückkehrt, bewohnen diese Nachbarn immer noch dasselbe Feld. Sie stellt den Familienvater zur Rede, doch der behauptet, nie etwas von Mukasongas Eltern gehört zu haben. Sie beschimpft ihn. Schließlich gibt er zu, dass er sie gekannt hat, fügt aber schnell hinzu, dass er zur Zeit des Völkermords nicht da war ('im Kongo'). Es bleibt uns überlassen, unsere eigenen Schlüsse zu ziehen."

Weitere Artikel: Tom Hickman schreibt über das Scheitern des Versuchs der britischen Regierung, Asylsuchende nach Ruanda zu deportieren. Colin Burrow bespricht den neuen Roman von Zadie Smith, "Betrug". Neal Ascherson liest zwei Bücher über die Deutschen: "Diesseits der Mauer" von Katja Hoyer und "Aufbruch des Gewissens" von Frank Trentmann. Madeleine Schwartz erkundet das brutalistische Paris.

Quillette (USA), 01.12.2023

Im Gespräch mit Matt Johnson hält der Psychologe Steven Pinker daran fest, dass die Welt im Großen und Ganzen ständig besser wird. Es gibt allerdings Ausnahmen: "10/7 hat die moralische Verwirrung - um es wohlwollend auszudrücken - der identitären/kritischen Theorie/sozialen Gerechtigkeit/intersektionellen Ideologie aufgedeckt, die die Welt in Opfer und Unterdrücker einteilt, basierend auf verrückten Vorstellungen von Rasse, Geschlecht und Geschichte. Daraus ergibt sich die bizarre Taxonomie, in der Araber mit Afrikanern südlich der Sahara und schwule Westler und Israelis mit viktorianischen Kolonialisten in einen Topf geworfen werden. Wenn die Wissenschaft nach den Regeln der Logik funktionieren würde, wäre dies eine reductio ad absurdum. Die absurde Schlussfolgerung ist, dass eine Bewegung von frauenfeindlichen, homophoben, totalitären, theokratischen, völkermordenden Fanatikern eine Form der Befreiung und des Widerstands gegen Unterdrückung ist. Irgendetwas muss an den Annahmen, die zu dieser verrückten Schlussfolgerung führen, zutiefst fehlerhaft sein. 'Queers for Palestine' sollte eigentlich ein bissiger schwarzer Humor von The Onion oder Titania McGrath sein, aber es ist alles zu real." Bizarr findet er auch, in welchem Ausmaß das Verhalten der Hamas ignoriert wird: Sei es ihr erklärter und schriftlich niedergelegter Wille, Israel auslöschen zu wollen, sei es ihr Verhalten den eigenen Leuten gegenüber. "Es gibt eine Erfolgsbilanz darüber, wie sie den Gazastreifen tatsächlich regiert und was Schwesterbewegungen wie ISIS und Boko Haram in den von ihnen kontrollierten Gebieten getan haben. Also ja, wenn die Gesetze der Logik auf die intersektionelle Denkweise der sozialen Gerechtigkeit anwendbar wären, wäre dies ein Wendepunkt, der ihre moralische Absurdität entlarvt, wie der Moment der 'Abschaffung der Polizei', der zu einem Rückschlag geführt hat. Leider ist das ein großes 'Wenn'."
Archiv: Quillette

Meduza (Lettland), 08.12.2023

Im Interview mit Eilish Hart spricht Menschenrechtsanwältin und Friedensnobelpreisträgerin Aleksandra Matviichuk über die Erfassung und Bestrafung russischer Kriegsverbrechen, auch ohne ein Ende des Krieges in Sicht. Sie schildert, mit welchen Fällen sie es zu tun hat: "Nehmen wir den Fall des 13-jährigen Jelisej Rjabokon. Im März letzten Jahres versuchten er, seine Mutter und sein dreijähriger Bruder, sich in einem Dorf bei Kiew vor dem Krieg zu verstecken. Sie dachten, dass es auf dem Land wahrscheinlich viel sicherer wäre, aber leider hatten sie sich verkalkuliert. Die Russen besetzten ihr Dorf, und wegen der Explosionen mussten sie sich in einem Keller verstecken, ohne Wasser, Strom, Lebensmittel und angemessene Einrichtungen. Jelisejs Mutter bat die Besatzungsbehörden, ihre Kinder mit dem Auto an einen sichereren Ort bringen zu dürfen. Schließlich willigten die Russen ein und winkten ihnen sogar zu, als ob sie ihnen Lebewohl wünschten. Doch als die Autos mit den Frauen und Kindern das Dorf verlassen wollten, eröffneten die russischen Soldaten plötzlich das Feuer. Einige Kinder und Frauen wurden getötet, darunter auch Jelisej. Seine Mutter sagte, dass alle, die überlebt hatten, ins Dorf zurückkehren mussten. Die Russen erlaubte ihnen zunächst nicht, die Leiche ihres Sohnes abzuholen. Später ließen sie nicht zu, dass sie die Toten auf dem Friedhof beerdigten. Also begrub sie ihren Sohn im Garten neben ihrem Haus. Sie sagte, das Einzige, was ihr von ihm geblieben sei, sei eine rote Mütze, die von einem Granatsplitter zerschnitten worden sei, und ein weißes Hemd, weil sie alle weiße T-Shirts über ihren Jacken trugen, um zu zeigen, dass sie Zivilisten waren. Das sind die Geschichten, die wir dokumentieren."

Außerdem: Wladimir Putin kündigt seine erneute Kandidatur während eines Empfangs von Militärs aus den "befreiten Gebieten" im Donbass an.
Archiv: Meduza

La vie des idees (Frankreich), 11.12.2023

In einem leider etwas drögen Text erinnern Lola Avril und Antoine Vauchez, an ein eigentlich spannendes Thema, das "Qatargate" in Brüssel vor einem Jahr: Es stellte sich damals bekanntlich heraus, dass einige wichtige Abgeordnete des EU-Parlaments, darunter eine stellvertretende Parlamentspräsidentin, von Katar großzügig geschmiert worden waren, damit das Scheichtum seine Fußball-WM in seinem Glanz und mit seinen Toten abhalten konnte. Obwohl die Bestochenen alle Linke waren, machen die Artikelautoren den "Neoliberalismus" für die Korruption in der EU verantwortlich. Aber eine Beobachtung ist sicher nicht falsch: Der Grund für den Einfluss der Lobbys und noch finsterer Mächte in der EU ist "die strukturelle Schwäche der 'Zivilgesellschaft' in der EU, die die Mobilisierungsfähigkeit der europäischen Bürger angesichts von Skandalen untergräbt. Da es keine europaweiten Medien gibt, die die Interessen einer 'europäischen Öffentlichkeit' sichtbar machen könnten, scheint die kleine Gruppe der auf öffentliche Ethik spezialisierten NGOs (Corporate European Observatory, Transparency International, Follow the Money und so weiter) in der 'Brüsseler Blase' ziemlich isoliert zu sein, und alles deutet darauf hin, dass ihre Fähigkeit, die politische Agenda zu beeinflussen, begrenzt bleibt. Korruptionsskandale eröffnen ihnen zwar immer wieder Gelegenheitsfenster, aber nur von kurzer Dauer, wie Katargate gezeigt hat, das nur kurzzeitige Aufmerksamkeit erregte, wobei die Medien der 'direkt' betroffenen Länder aufgrund der Nationalität der Angeklagten (Belgien, Griechenland, Italien) ausgeschlossen waren." Lola Avril und Antoine Vauchez wären keine Franzosen, wenn sie nicht eine neue Behörde forderten, um des Problems Herr zu werden, ein "Observatoire de l'intégrité de la démocratie".

New Statesman (UK), 11.12.2023

Bruno Maçães bereist Taiwan und China und unterhält sich mit diversen Politikern und Beobachtern über den Stand des Konflikts zwischen den beiden Lagern. Offensichtlich befindet sich insbesondere Taiwan in einem andauernden Balanceakt: Die faktische Unabhängigkeit von China ist nur solange gesichert, wie sie nicht zu direkt proklamiert wird. Die USA unterstützen die Unabhängigkeitsbemühungen hinter den Kulissen zwar stärker als früher, ein komplett verlässlicher Partner sind sie jedoch nicht. China wiederum drängt rhetorisch immer stärker auf eine Wiedervereinigung. Selbst wie das Land bezeichnet wird, ist Teil der Auseinandersetzung: "Als ich in dieser Woche am Präsidentenpalast in Taipei ankam, bemerkte ich Schilder mit der Aufschrift 'Taiwan National Day'. Laut Verfassung ist der Name des Landes 'Republik China'. So steht es auch auf meinen Visum, und in China wird gemeinhin angenommen, dass eine Namensänderung einer Unabhängigkeitserklärung gleichkommen würde. Wurde ich Zeuge eines entscheidenden Wandels? Vermutlich nicht. Ein Beamter des Außenministerums versicherte mir, dass der Name nicht offiziell ist, sondern lediglich ein branding darstellt. Eine andere Rechtfertigung, die man in Taipei hört, ist, dass 'Republik China' schlicht zu lang ist, 'Taiwan' hingegen ist praktisch und kurz. Als ich Wissenschaftlern und Journalisten in Beijing einige Tage später von diesen Schildern erzählte, waren die Reaktionen ganz anders. Einige waren empört, andere alarmiert. Einige beides. Wieder andere erklärten empört, dass die Schilder nicht verfassungskonform seien, was vermutlich nicht ganz korrekt ist, da es sich schließlich lediglich um Straßenschilder handelt. Noch am verständnisvollsten reagierte ein Wissenschaftler, der die informelle Namensänderung als 'die übliche taiwanesische Salamitaktik' bezeichnete: es gehe darum, die Grenzen langsam und unmerklich zu verschieben, um ja keine Reaktion Chinas zu provozieren."
Archiv: New Statesman
Stichwörter: Taiwan, China

Artalk (Tschechien / Slowakei), 12.12.2023

Bild: Andrej Dúbravský

"Quo vadis, slowakische Kultur?", fragt die slowakische Kunsthistorikerin und Kuratorin Barbora Komarová besorgt. Was sich Martina Šimkovičová, einst Fernsehmoderatorin, zuletzt Betreiberin des Desinformationsportals TV Slovan und jetzt neue Kulturministerin der Fico-Regierung, auf die Fahnen geschrieben hat, lautet, wie Komarová zitiert, so: "Andere Kulturen zu respektieren, bedeutet nicht, die slowakische Kultur mit einer anderen zu vermischen, und das, meine Damen und Herren, ist meine Vision: den Kultursektor auf dem slowakischen Kulturerbe, den Erbauern und geschichtlichen Meilensteinen der slowakischen Nation zu errichten." Zwar habe man, so Komárová, den zunächst ernannten ersten Staatssekretär im Kulturministerium Štefan Kuffa gleich wieder abgesägt und ins Umweltministerium abgeschoben, nachdem dieser geäußert habe, man werde "Jesus Christus als König der Slowakei inthronisieren", dafür wurde nun aber Mário Maruška zum ersten Kulturstaatssekretär ernannt, der laut Komárová, "keinerlei Erfahrung in diesem Bereich hat und in den letzten 15 Jahren Leiter des Sicherheitsdienstes war". Ferner bekam Lukáš Machala den Posten des Generalsekretärs des ministeriellen Dienstbüros, "ebenfalls ein bekannter Verbreiter von Desinformationen und Verschwörungstheorien über die Illuminaten sowie Fan des russischen Präsidenten Putin", so Barbora Komárová. Ein konkretes Beispiel für den neuen Wind, der auch gegen die LGBTIQ-Community anbläst, ist die Empörung von Ministerin Šimkovičová über ein Gemälde des Künstlers Andrej Dúbravský in einer Ausstellung der Galéria Slovenského rozhlasu, das zwei nackte, sich umarmende Männer zeigt. Die Kulturministerin, die sich nach eigenen Worten "daran gestört" habe, aber leider ihre Hände gebunden sehe, dagegen vorzugehen, verkündete, es seien dahingehende "Gesetzesänderungen in Vorbereitung. Es geht darum, dem Kulturministerium größere Kompetenzen zugeben, damit wir auf irgendwie auf solche Dinge Einfluss nehmen können" - dies die Worte der Ministerin.
Archiv: Artalk

Eurozine (Österreich), 11.12.2023

Die offizielle türkische Geschichtsschreibung behauptet, dass der Kampf für Frauenrechte mit der Gründung der Türkischen Republik einherging, schreibt Funda Şenol. Diese Version, nach der die Gründerväter der Türkei den Frauen ihre Rechte "zugestanden" hätten, wurde erst spät von der Geschichtsschreibung angezweifelt und man stellte fest, dass es schon lange vor dem Entstehen der Republik feministische Bestrebungen gegeben hatte - die die Frauenrechtsbewegung des 20. Jahrhunderts in der Türkei erst möglich machten. Senol zeichnet dieses Jahrhundert des Kampfes für Frauenrechte nach und beleuchtet dabei auch die Rolle der Künste und der Verlage, die eine tragende Rolle im modernen türkischen Feminismus spielten: "Die Zeitschrift Elele (der Name "Hand in Hand" wurde im Rahmen eines Leserwettbewerbs ausgewählt) entstand Ende 1976 und entwickelte sich zu einer Publikation, die in einem sanften Ton die Herausforderungen, mit denen Frauen konfrontiert sind, für eine breitere Leserschaft verdeutlichte und mögliche Lösungen anbot. Die Zeitschrift gehörte zur Hürriyet-Gruppe. Vor Elele behandelten Frauenzeitschriften vor allem Themen wie Kinderbetreuung, Gesundheit und Mutterschaft. Elele änderte ihren Ansatz, indem es diese Themen in einem enzyklopädischen Format präsentierte, das mit Hilfe von Fachleuten erstellt wurde. Vor allem führte Elele einen bahnbrechenden Sexratgeber ein, der sich ausdrücklich an Frauen richtete. Die Zeitschrift erinnerte die Leserinnen nicht nur an ihre Pflichten als Mütter und Ehefrauen, sondern belebte auch den Kampf um Rechte und Gleichberechtigung neu. Während diese Themen im Westen durch den harten Kampf der ersten Welle des Feminismus weitgehend aufgegriffen worden waren, waren sie in der Türkei nur ein kleiner Aspekt der Opposition gewesen. Die Forderung nach Legalisierung der Abtreibung, ein Thema, das später immer wieder auftauchen sollte, wurde zum ersten Mal in Elele in einem von Selma Tükel vorbereiteten Dossier geäußert. Die Bedrohung durch das Abtreibungsverbot, die die Gesundheit der Frauen durch illegale Eingriffe gefährdet, wurde ausführlich diskutiert und mit Beispielen und Expertenmeinungen belegt." (Heute ist Abtreibung in der Türkei theoretisch legal und praktisch verboten, mehr dazu hier.)
Archiv: Eurozine

La regle du jeu (Frankreich), 11.12.2023

Der Schriftsteller Patrick Mimouni widmet sich in einer fünfteiligen Serie "Proust und seinen Erben": Da Marcel Proust kurz nach der Veröffentlichung des vierten Teils der "Suche nach der verlorenen Zeit" verstarb, oblag es seiner Familie, seinen Nachlass zu verwalten und die restlichen drei Bände zur Publikation freizugeben. Vom fünften und sechsten Band hatte Proust eine Abschrift angefertigt, der letzte Band der "Recherche" jedoch, die "Wiedergefundene Zeit" existierte nur als Manuskript, in sechs Heften niedergeschrieben, die im Besitz seines Bruders Robert waren, so Mimouni. Es ist ziemlich wahrscheinlich, legt Mimouni im dritten Teil seiner Serie dar, dass Robert ihm unliebsame Passagen aus dem Manuskript entfernte, denn im Buch fehlt eine entscheidende Stelle. Proust hatte, beweist Mimouni, den Plan seinen Protagonisten Swann im letzten Teil als praktizierenden Juden darzustellen - eine Wendung, die Robert nicht gutheißen konnte, der als assimilierter Jude versuchte, jede Verbindung seines Bruders zur Religion zu leugnen. Erst "nach langem Bitten" willigte Robert ein, dem Verleger "die sechs Originalhefte des Manuskripts zu liefern. Aber waren sie wirklich Originale? Wie kann man sich diese Frage nicht stellen? Die Hefte bestehen aus einer großen Anzahl von Seiten, die herausgeschnitten oder herausgerissen und entsprechend dem Aufbauplan des Textes wieder zusammengefügt wurden. 'Hastig verbundene Passagen, unterbrochene Sätze ...', stellte einer der Herausgeber der aktuellen Version des Textes in der Pléiade fest. Nichts ist leichter, als etwas aus diesen Heften herauszuschneiden, ohne dass es seltsam erscheint. Aber was hätte Robert kürzen können? Die Passagen, in denen von Homosexualität die Rede ist? Dann hätte man Hunderte von Seiten zensieren müssen - das war nicht möglich. Bleiben die Passagen, in denen Marcel auf die Religion hätte anspielen können - eine Sache, die für Robert immer problematisch war. Ja, es ist seltsam. Dem Proustschen Roman fehlt offenbar eine Episode - eben die Episode, in der Swann sich konkret wie ein religiöser Jude verhält. Proust hätte ihn beim Gebet in der Synagoge malen können, oder in seiner Bibliothek über einen der Talmudtraktate gebeugt, oder als Präsident der Gesellschaft für jüdische Studien. Er hätte sich nur von James-Edouard de Rothschild inspirieren lassen müssen. Denn offensichtlich - so Prousts Plan - wurde Swanns Enthüllung des Judentums mit Charlus' Enthüllung der Homosexualität verglichen. In der uns vorliegenden Version nimmt Swanns Rückkehr 'in den religiösen Schoß seiner Väter' nur eine Seite ein, die am Anfang von Sodom und Gomorrha wie in der Schwebe gelassen wurde, während Charlus' erotische Praktiken Gegenstand einer umfangreichen Entwicklung des Romans sind. So viel dazu! Eine Seite war für Robert schon genug."
Archiv: La regle du jeu

Elet es Irodalom (Ungarn), 08.12.2023

Die aus Siebenbürgen stammende Dramaturgin und Dichterin Ágnes Kali spricht im Interview mit Nikolett Antal u.a. über Wege, die klassische Rolle des Theaters aufzubrechen. "Ich denke, es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine ist, dass ein Kulturschaffender daran arbeitet, in die kulturelle Elite hineinzukommen, oder aber, wenn man schon drin ist, aus Elite herauskommen will. Ich befinde mich in einem Ausstiegskampf, und das schon seit drei Jahren. Es liegt nicht daran, dass ich die Menschen nicht mag oder die Leute, mit denen ich zusammenarbeite oder die Art von Aufführungen, die wir machen. Es ist das System, mit dem ich ein Problem habe und das ich in Frage stelle (...) Ich frage mich oft, was eine Aufführung einem geben kann, außer sich an einem Samstagabend fein zu machen, eine Karte für zwanzig Euro zu kaufen, sich hinzusetzen und die Aufführung zu sehen. Es ist eine schöne Zeit und stärkt unsere eigene intellektuelle Position. Aber dann gehen wir genauso nach Hause und es passiert nichts. Ich denke, das ist immer noch ein passiver Zustand. Die Aha-Erlebnisse und -Momente erfordern auch eine passive Zuschauerposition. Aber als Kulturschaffende habe ich ständig das Gefühl, dass wir etwas gegen diese Passivität tun müssten."

Tablet (USA), 07.12.2023

Charles Fain Lehman nimmt die "Black Hebrew Israelites" unter die Lupe, ein gar nicht so kleines Sammelsurium bizarrer Sekten, die glauben, dass Afroamerikaner die wahren Nachkommen der alten Israeliten sind und dass sich die Juden ihr Judentum sozusagen kulturell angeeignet haben. Eine extreme Splittergruppe hat im Jahr 2019 ein Attentat auf einen koscheren Supermarkt in New York verübt, bei dem vier Menschen umkamen. Lehman hat eine Umfrage unter Amerikanern durchgeführt, die sich als "schwarz" definieren und er mit einer Umfrage unter Amerikanern, die sich nicht als schwarz definieren, abgeglichen. Dabei stellt sich heraus, dass unglaubliche 49 Prozent schwarzer Amerikaner glauben, sie stammten von den Israeliten der Bibel ab. Aber etwas an diesem Phänomen ist nicht "schwarz", schreibt Lehman: "Eine Möglichkeit, diese Ergebnisse zu erklären, besteht vielleicht darin, den schwarzen hebräischen Israelismus in die lange, stolze amerikanische Tradition der Verschwörungstheorien einzuordnen. Schwarzer hebräischer Israelismus ist keine Abweichung oder Besonderheit einer bestimmten Untergruppe der amerikanischen schwarzen Gemeinschaft; er ist ein spezifischer Ausdruck einer zutiefst amerikanischen Tendenz. Verschwörungstheorien sind im amerikanischen Leben ungeheuer populär, und das schon seit Jahrzehnten. Zwei Drittel der Amerikaner bezweifeln die offizielle Geschichte des Kennedy-Attentats; ein kleinerer, aber beachtlicher Anteil stimmt zu, dass wir Kontakt zu Außerirdischen aufgenommen haben oder dass mit Fluor versetztes Wasser der Gedankenkontrolle dient. Obwohl Medien oft behaupten, Verschwörungsdenken sei in erster Linie ein Phänomen des rechten Flügels, hat die politikwissenschaftliche Forschung gezeigt, dass Verschwörungstheorien im gesamten politischen Spektrum gleichermaßen verbreitet sind."
Archiv: Tablet

The Insider (Russland), 05.12.2023

Yuriy Matsarsky schreibt über Aleksandr Dubinskij, einen ukrainischen Abgeordneten, der für die Präsident Wolodimir Selenskyj nahestehende Partei "Diener des Volkes" im Parlament sitzt. Oder besser: saß, mittlerweile ist er wegen des Verdachts auf Korruption durch Russland festgenommen worden. "Zu diesem Zeitpunkt hatte er seine besten Tage jedoch bereits hinter sich. Auf die US-Sanktionen folgte die Löschung seiner Facebook-Seite, die Zehntausende von Anhängern hatte (...), und eines ebenso populären YouTube-Kanals, den der Abgeordnete nutzte, um Verschwörungstheorien und völligen Unsinn zu verbreiten, z. B. Aufrufe zur Zahlungsunfähigkeit und zur Zahlung von keinem Cent an ausländische Gläubiger, Geschichten über den Bau von Labors durch die Amerikaner in der Ukraine zur Herstellung biologischer Waffen oder Behauptungen, dass 'Ruhm für die Ukraine' ("Slava Ukraini") ein Nazi-Slogan ist. (...) Die Nationalbank warnte die Finanzinstitute sogar, dass es nicht sicher sei, mit Aleksandr Dubinskij Geschäfte zu machen, da sein Geld illegal beschafft werden könnte. Zu diesem Zeitpunkt verfügte Dubinsky über so viel Geld, dass die Frage, woher es kam, alles andere als unwichtig war. Im Jahr 2019, kurz nach den Parlamentswahlen, enthüllten Journalisten, dass Dubinskys Familie 24 Wohnungen, 17 Autos und andere Güter im Gesamtwert von 2,5 Millionen Dollar besaß. Auf die Frage, woher dieser Reichtum stamme, antwortete der Abgeordnete, er habe das alles mit seinem journalistischen Talent verdient. Dann lachte er und sagte, die teuren Autos gehörten nicht ihm, sondern seiner pensionierten Mutter."
Archiv: The Insider
Stichwörter: Ukraine, Korruption

Wired (USA), 05.12.2023

Laura Kipnis porträtiert den TV-Autor Joe Weisberg, dessen Serie "The Americans" (2013-2018) gerade einen neuen Popularitätsschub erfährt und der vor kurzem mit der Miniserie "The Patient" einen weiteren Erfolg feierte. "Irgendwas an diesen Serien treibt mich um, und das nicht nur weil sie sich anfühlen wie Fallstudien in amerikanischer Paranoia", schreibt Kipnis dazu. "The Americans" etwa handelt von einem Ehepaar im Kalten Krieg, bei dem es sich in Wahrheit um Spionage-Schläfer der Sowjetunion handelt. "In einer Zeit, in der die meisten Fernsehserien sich auf moralische Federpflege spezialisieren (...) wringen einen Weisbergs Serien einen geradzu psychologisch und spirituell aus. Sie wollen ihr Publikum stolpern lassen." Das Besondere an Weisberg: Er war zuvor ein paar Jahre lang CIA-Mitarbeiter - und entschied sich für diesen Weg einst aufgrund einer tiefempfundenen Abscheu gegenüber der Sowjetunion, wie sie in den Achtzigern unter den Eindrücken des Kalten Kriegs zentraler Bestandteil der us-amerikanischen Kultur gewesen ist. "Es war erst eine Psychotherapie, die Weisberg dazu befähigt hat, Figuren mit einem komplexen Innenleben zu schreiben - das sei ihm nicht gelungen ehe er begriffen hatte, dass er selber ein solches habe, sagt er. Das bedeutete auch, dass er sich damit auseinandersetzen musste, welche falschen Fronten er in seinem Leben aufgebaut hat und wie viel er vor sich selbst verstecken musste. Er begann darüber nachzudenken, dass seine kindliche Identifikation mit den unterdrückten Bürgern der Sowjetunion ein Weg gewesen ist, seinen Zorn über Repression in seiner eigenen Familie zu externalisieren. Von klein auf war ihm beigebracht worden, negative Gefühle nicht zuzulassen. Er konnte sich mit seinen Eltern nicht anlegen, aber er konnte daran mittun, die Sowjet-Führerschaft zu Fall zu bringen, die die freie Meinungsäußerung ihrer Bevölkerung unterdrückte. Anders ausgedrückt: Einen Feind auszumachen, half ihm dabei, sich mit seiner eigenen dunklen Seite nicht auseinandersetzen zu müssen." Mittlerweile schlägt diese Obsession freilich in ihr Gegenteil um, erfahren wir außerdem: In seinem "memoir-artigem Buch 'Russia Upside Down: An Exit Strategy for the Second Cold War' aus dem Jahr 2021 behauptet Weisberg, dass er (und wir) die Sowjets fundamental falsch verstanden hätten: Der KGB sei bemerkenswert unkorrupt gewesen, die Bolschewiken hätten Pogromen ein Ende bereitet und die Sowjets dem Holocaust Einhalt geboten, als sie die Wehrmacht in Osteuropa zurückgeschlagen hatten. ... Diese vielen Verkehrungen ins Gegenteil und Bilanzkorrekturen gestalten die Lektüre sonderbar, als würde man jemanden dabei beobachten, wir er mit seinen eigenen Überzeugungen in den Boxring steigt und sich dabei ständig selbst ins Gesicht schlägt."
Archiv: Wired

Qantara (Deutschland), 12.12.2023

Stefan Buchen, ARD-Korrespondent für die Sendung "Panorama", kritisiert scharf die Bundesregierung, die die Radikalisierung der israelischen Regierung nicht wahrhaben wolle. Netanjahu habe offen gesagt, dass er keinen palästinensischen Staat wolle. "Am besten lässt sich der Charakter dieser Regierung an dem Befund festmachen, dass der 7. Oktober 2023 für sie in gewisser Weise kein Einschnitt war. Vor dem brutalen Überfall der Hamas hatte Netanjahu damit begonnen, die Demokratie durch die Ausschaltung der unabhängigen Justiz abzuschaffen. Seit Beginn des Krieges setzt seine Regierung die Abwicklung der Demokratie mit anderen Mitteln fort. Die Verteilung von Waffen an die eigenen Anhänger, die Rückendeckung für Siedler im Westjordanland, die Palästinenser drangsalieren und vertreiben, das Verbot regierungskritischer Kundgebungen bei gleichzeitiger Erlaubnis von Machtdemonstrationen nationalreligiöser Provokateure auf dem Tempelberg in Jerusalem - all dies sind Indizien undemokratischer Politik. Am stärksten manifestiert sich diese in dem Bestreben, den Krieg zu verlängern. Denn neben der 'vollkommenen Zerschlagung der Hamas' und dem 'totalen Sieg' (O-Ton Benjamin Netanjahu) dient der Krieg auch (und vielleicht vor allem) dazu, der Rechenschaft für das Versagen des 7. Oktober zu entkommen. Denn da hat 'Mister Security', wie sich Netanjahu gern nannte, es versäumt, die eigenen Bürger zu schützen."
Archiv: Qantara

New Yorker (USA), 18.12.2023

Der Onkologe Siddhartha Mukherjee hat sich mit etlichen Wissenschaftlern unterhalten, die versuchen herauszufinden, welchen Einfluss Karzinogene haben und wieso sie bei manchen Menschen zu Krebs führen und bei anderen nicht. Insbesondere Charlie Swanton und sein Team haben wichtige Erkenntnisse gewonnen: "Jeder individuelle Krebs kommt aus einer einzigen Zelle und doch enthält jeder Tumor tausende Klonzellen. Krebs behandeln oder heilen bedeutet, diese große Spannbreite an genetischer Diversität zu bewältigen. Es ist ein Krieg gegen die Klonzellen. Und die klinische Relevanz ist offensichtlich. Klonzellen, die Mutationen entwickeln, die dann wiederum Resistenzen gegenüber Krebstherapien ausbilden, sind diejenigen, die sich durchsetzen und Metastasen formen. 'Man kann den Zellen nicht immer zuvorkommen', hat Swanton beobachtet - und damit die Bedeutung dessen unterstrichen, die Tumore daran zu hindern, überhaupt zu wachsen." Entscheidend sind für das Wachstum von Krebszellen aber auch die Umgebung und die Umstände, in denen sich die Zelle befindet: Eine Studie hat gezeigt, dass der eingesetzte "chemische Trigger Immunzellen dazu bringen kann, eine Entzündungskaskade auszulösen und dass diese Entzündung wiederum dafür sorgen kann, dass Krebszellen wachsen". Für Mukherjee erinnert diese Entdeckung an den detektivischen Spürsinn, den er in manchen Kriminalromanen lesen kann: "'Das entscheidende Kriterium, ein großes literarisches Werk zu identifizieren', hat mir ein Freund und eifriger Leser mal erzählt, 'ist, dass die Person, die den Roman zu lesen anfängt und die, die ihn beendet, nie dieselbe sein dürfen. Der Roman ändert dich.' Das Gleiche gilt für große Entdeckungen der Naturwissenschaften. Es verändert die Sicht auf die Welt fundamental. Swantons Team ist dem Rätsel mithilfe von Epidemiologie, Toxikologie, Immunologie und Humangenetik auf die Spur gekommen und hat dann einen kausalen, biologisch plausiblen Mechanismus für die Krebsentstehung ausgegraben. Das ist eine der elegantesten Verflechtungen der Disziplinen, die mir in der Wissenschaft je begegnet sind."

Außerdem: Anthony Lane sah im Kino Jonathan Glazers "The Zone of Interest" über Kommandanten des Vernichtungslagers Auschwitz, Rudolf Höß.
Archiv: New Yorker