Vorgeblättert

Charles Simmons: Belles Lettres, Teil 3

Wie nicht anders zu erwarten, verkündete am nächsten Morgen The Post auf Seite sechs, daß Belles Lettres in Kürze die fünfundzwanzig besten Schriftsteller Amerikas küren würde und fügte hinzu - meiner Meinung nach maliziös -, Nominierungen könnten telefonisch oder persönlich beim Redakteur Jonathan Margin eingereicht werden.
Am folgenden Tag schrieb Edwin McDowell in der New York Times einen Artikel, der besagte, daß entgegen den im Literaturbetrieb kursierenden Gerüchten die Zeitschrift Belles Lettres nicht - er wiederholte auch noch dies "nicht" - plane, die fünfundzwanzig besten Schriftsteller Amerikas auszuwählen. Gleichwohl schrieb er am nächsten Tag einen zweiten Artikel, der darauf hinauslief, daß Belles Lettres sehr wohl eine solche Liste veröffentlichen würde; die Verwirrung habe sich ergeben, weil der zuständige Redakteur Jonathan Margin in einem Telefoninterview nachdrücklich dementiert habe, die Leserschaft zu Nominierungen aufzufordern.
Die Intelligencer-Kolumne der Zeitschrift New York brachte eine Meldung, gemäß der Belles Lettres, "die einflußreiche, literarische Wochenzeitschrift, wie von der Times erst dementiert und dann bestätigt, auf jeden Fall die fünfundzwanzig amerikanischen Topautoren benennen wird. Innerhalb der Führungsriege von Protean Publications, Eigentümer von Belles Lettres, setzt man voll auf die Idee, um die als lustlos empfundene Linie des Chefredakteurs Jonathan Margin aufzufrischen. Die Auswahl der fünfundzwanzig Unsterblichen erfolgt seitens der kompletten Redaktion unter Federführung von Frank Page, des neuen Redaktionsassistenten bei Belles Lettres, an dem die Bosse von Protean anscheinend einen Narren gefressen haben."
In seiner Nation-Kolumne schrieb Alexander Cockburn: "Jonathan Margin, Chefredakteur des literarischen Schnarchblatts Belles Lettres, hofft darauf, uns alle mit seiner Version der fünfundzwanzig besten Autoren Amerikas zu wecken. Laß gut sein, Margin. Wir können sie im Schlaf herbeten. Los geht?s bei Bellow und endet bei Updike, und die Zehn-zu-Eins-Wette gilt, daß Charles Bukowski es wieder mal nicht schafft. Schnarcht weiter in Frieden, o gläubige Leser der Schönen Literatur!"

Nach wenigen Tagen hatte ich alle Listen eingesammelt und brachte sie Mr. Margin.
"Wie sind sie denn?" fragte er.
"Interessant."
"Das klingt ja geheimnisvoll."
"Eigentlich nicht. Sehen Sie selbst!"
Das tat er dann auch und las, aus rhetorischen Gründen, die Liste der Büroleiterin Lou Bodoni laut vor:
"John Ashbery, Ingrid Bengis, Paul Bowles, Rita Mae Brown, Susan Brownmiller, Guy Davenport, Marilyn French, Marylin Hacker, Jill Johnston, June Jordan, Paule Marshall, James Merrill, Kate Millett, Robin Morgan, Marge Piercy, David Plante, Adrienne Rich, Paul Robinson, May Sarton, Alix Shulman, Kate Simon, Valerie Solanis, Gloria Steinem, Alice Walker, Edmund White."     
Mr. Margin sah mich verblüfft an.
"Zugegeben", sagte ich, "das ist schon ein Dokument."
"Ja", sagte er und schien für einige Sekunden in Nachdenken zu versinken. "Also", sagte er dann, "Sie wissen ja bestimmt, daß Lou Bodoni eine radikale Feministin ist."
"Das wußte ich nicht. Auf mich wirkt sie eher angenehm."
"Das Problem mit radikalen Feministinnen", sagte Mr. Margin, "besteht darin, daß sie zuerst Angst haben, die sie später in Haß umwandeln, und aus dem wird dann schließlich Verachtung. Sobald die ganze Angst in Verachtung verwandelt ist, können sie recht angenehm sein, eben wie Lou. Beobachten Sie sie mal, wenn es Streit zwischen zwei männlichen Redakteuren gibt. Dann umspielt ihre Lippen ein kleines, unwillkürliches Lächeln. Ich stelle mir vor, daß Stalin so gelächelt haben muß, als sich Roosevelt und Churchill in die Wolle bekamen. Aber falls Sie sich wundern sollten, warum mich derlei interessiert: meine zweite Frau war eine radikale Feministin."
"Ist sie jetzt keine radikale Feministin mehr oder nicht mehr Ihre Frau?"
"Ach, nicht mehr meine Frau", sagte er. "Ich hätte eigentlich noch ganz gern Kontakt zu ihr, aber sie arbeitet sich immer noch am Haß ab. ... Ist Ihnen schon aufgefallen, daß auf Virginia Wrappers Liste kein einziger Name von denen auftaucht, die Lou nennt?"
"Das habe ich gemerkt", sagte ich.
Er las, wiederum aus rhetorischen Gründen, Virginias Liste vor:
"Nelson Algren, Louis Auchincloss, James Baldwin, Hortese Calisher, John Cheever, Edward Dahlberg." (Mr. Margin machte eine Pause und fuhr fort.) "Joan Didion, J. P. Donleavy, William Gaddis, William Gass, Paul Goodman, Elizabeth Hardwick, Lillian Hellman, James Jones, Jack Kerouac, Harper Lee." (Wieder legte er eine Pause ein.) "Alison Lurie, William Maxwell, Walker Percy, Reynolds Price, J. D. Salinger, Diana Trilling, Lionel Trilling, Robert Penn Warren und Thornton Wilder."
"Frank, haben Sie Virginia denn nicht gesagt, daß es eine Liste lebender Autoren sein soll?"
"Ich dachte, das sei selbstverständlich."
"Ach so, na gut", sagte Mr. Margin. "Andererseits listet Chuckle Faircopy fast nur Halbtote auf. Von Bellow bis Updike, ganz so, wie der Bursche in der Nation geschrieben hat, der mit dem häßlichen Namen."
"Chuckles Liste hat mich wirklich überrascht", sagte ich. "Ich dachte, das würde die exzentrischste aus der ganzen Truppe. Übrigens, was treibt der eigentlich da in seiner Ecke, wenn er keine Überschriften für die Rezensionen schreibt?"
"Mehr macht er nicht", sagte Mr. Margin und lehnte sich zurück. "Chuckle war schon vor meiner Zeit hier, und so weit ich weiß, hat er früher sehr viel für Belles Lettres geschrieben. Die Überschriften waren nur ein Teil seiner Aufgaben. Im Lauf der Zeit und mit zunehmendem Alter hat er sich dann aber ganz auf die Überschriften kapriziert. Hin und wieder zeigt er mir seine Manuskripte - zwanzig Seiten für eine Überschrift. Er hat mir erzählt, daß ihm manchmal, wenn er den ganzen Tag und auch noch abends zu Hause gearbeitet hat, die endgültige Version im Traum erscheint. Dann wacht er auf, notiert sie und kann vor lauter Aufregung nicht mehr einschlafen."
"Sind denn die Überschriften so gut?" fragte ich.
"Mir kommen sie stinknormal vor", sagte Mr. Margin. "Neulich hat er mir eine gezeigt, an der er zwei Tage gearbeitet hat. Es ging um eine Rezension über eine Stadtgeschichte von New York City. Die Überschrift lautete: ?So war New York?."
"Und was halten Sie von seinem unbescheidenen Vorschlag?" fragte ich. "Verdankt sich der etwa auch seinen Überschriften?" Zwischen Ralph Ellison und Allen Ginsberg hatte Chuckle sich selbst unter die fünfundzwanzig besten Schriftsteller Amerikas eingereiht.
"Vor einigen Jahren", sagte Mr. Margin, "hat er ein paar Romane veröffentlicht. Sie erschienen und verschwanden. Als ich hier damals zur Probe eingestellt wurde, hat er mir Widmungsexemplare geschenkt. Ich habe sie nicht zu Ende gelesen, aber ich wußte natürlich, daß er auf meine Reaktion wartete, und da habe ich ihm schließlich gesagt, daß ich sie für gut und seriös hielt."
"War er damit zufrieden?" fragte ich.
"Ich glaube schon, obwohl er hinzufügte: ?und witzig?."
"Aber Sie haben sie nie gelesen?"
"Nein. Aber verraten Sie ihm das um Himmels Willen nicht!"
"Natürlich nicht!" sagte ich. Ich hätte sie selber ja auch nicht gelesen. Chuckle, dessen Bruder Pavel vor mehr als zwanzig Jahren mit Winifred Buckram durchgebrannt war, war offensichtlich ein trauriger Fall. Er mußte Ende Fünfzig sein, ein großer, dünner Mann, dem die Haare ausgingen, mit Halbbrille und verwitterten Gesichtszügen. Ich wußte zwar, daß er für Belles Lettres die Überschriften schrieb, aber ich hatte keine Ahnung, daß er die ganze Woche lang nichts anderes tat. Wenn er sich grübelnd über seine Schreibmaschine beugte und plötzlich zügig zu tippen begann, war ich mir sicher, daß er mehr als Überschriften komponierte.
"Tja, was machen wir jetzt, Frank?"
"Wir müssen die Liste selber aufstellen. Wir übernehmen Chuckles Vorschläge, schmeißen die Penner raus, fügen drei oder vier Großmuftis dazu, sagen der Werbeabteilung, daß sie schon mal die Gerüchteküche brodeln läßt und bringen das Scheißding mit einer kurzen, knackigen, bombastischen Einleitung."
Mr. Margin nickte und seufzte philosophisch.

Teil 4