Vorgeblättert

Christian Buckard: Arthur Koestler. Ein extremes Leben. Teil 1

03.08.2004.
5. Internierung, Flucht und Krieg (1938 - 1944)
(Seiten 190 - 199)

Der erste Augenzeuge des Massenmordes, den Koestler persönlich traf, war Jan Karski (Kozielewski), ein Kurier der polnischen Untergrundarmee. Von der jüdischen Widerstandsbewegung war er ins Warschauer Ghetto und das Lager Izbica geschmuggelt worden, um selbst Zeuge des Mordens zu werden. In Izbica wurden die gefangenen Juden ausgeplündert, sofort ermordet oder aber zunächst weiter in das Vernichtungslager Belzec deportiert. Nach seiner Rückkehr aus dem Lager wurde Karski ein Mikrofilm übergeben, der eindeutige Hinweise auf die planmäßige Vernichtung des europäischen Judentums enthielt. Als Karski am 25. November 1942 London erreichte, war der Mikrofilm bereits auf anderem Wege in der britischen Hauptstadt angelangt. Am selben Tag hatte die New York Herald Tribune die Meldung veröffentlicht, dem amerikanischen Rabbi Stephen Wise lägen Hinweise auf die geplante Ermordung von vier Millionen europäischen Juden vor. Bereits am 9. Juli 1942 hatte die BBC erstmals von dem Massenmord berichtet und sollte dies von diesem Zeitpunkt an - wenn schon nicht im Home Service, so doch im Rahmen ihres European Service - verstärkt tun. Der Druck auf die Regierungen Großbritanniens und der USA, alle Anstrengungen zu unternehmen, um der Massenvernichtung ein Ende zu bereiten, wurde immer stärker. Auch die von Karski informierte polnische Exilregierung verlangte immer nachdrücklicher eine öffentliche Erklärung der Alliierten. Eine solche gemeinsame Erklärung wurde von den Sowjets, den Briten und den Amerikanern am 17. Dezember 1942 veröffentlicht.
Koestler und der Verleger Victor Gollancz trafen Karski im Frühjahr 1943 auf einem für den polnischen Kurier organisierten Empfang. Koestler hatte sich auf dieses Treffen vorbereitet, denn er war wahrscheinlich von Victor Rothschild oder sogar von Dick White gebeten worden, Karskis "Verlässlichkeit" zu prüfen. Er fand ihn "ziemlich überzeugend" (Gollancz war von Karskis Bericht so sehr erschüttert, dass er kurze Zeit darauf einen Nervenzusammenbruch erlitt). Von Karski erhielt Koestler jene Informationen über die Todeszüge, die er dann in seinem Roman Ein Mann springt in die Tiefe mit verarbeitete. Für ihn stand nun fest, dass man der britischen Öffentlichkeit einen "heilsamen Schock, eine Art Schlag auf den solar plexus" versetzen müsse. Für die BBC formulierte Koestler Karskis Zeugenaussage von der Ermordung der Juden im Lager Izbica; der betont sachlich und nüchtern gehaltene Bericht wurde erstmalig am 7. Juli 1943 gesendet.
Wenn Koestler erleben musste, dass Leser seines Romans dem Bericht von den "Gemischten Transportern" keinen Glauben schenkten, konnte er - ohne Ansehen der Person - sehr aggressiv reagieren. Doch mit der Zeit meinte er zu begreifen, warum sich selbst aufgeschlossene und intelligente Menschen so schwer damit taten, den Nachrichten über den Massenmord Glauben zu schenken. In seinem am 9. Januar 1944 im New York Times Magazine publizierten Essay "The Nightmare That Is a Reality" schreibt er: 

Bis jetzt sind drei Millionen gestorben. Es ist der größte uns überlieferte Massenmord der Geschichte; und es geht täglich, stündlich weiter, so regelmäßig wie das Ticken Ihrer Uhr. [...] Ein Hund, der von einem Auto überfahren wird, erschüttert unser emotionales Gleichgewicht und unseren Verdauungsapparat, doch eine Million in Polen ermordeter Juden verursachen nichts als ein leichtes Unwohlsein. Statistiken bluten nicht, es ist das Detail, was zählt. Wir sind unfähig, den ganzen Prozess mit unserem Bewusstsein wahrzunehmen; wir können nur kleine Ausschnitte der Realität aufnehmen. 

Verlasse der Mensch, so führt Koestler aus, die Ebene des überschaubaren, Bekannten und Trivialen und werde mit dem Absoluten, mit einer Tragödie kosmischen Ausmaßes konfrontiert, dann versage das Verstehen und würden Worte wie "Wissen" und "Glauben" zum bloßen Lippenbekenntnis. Und doch sei dieser Zustand des gespaltenen menschlichen Bewusstseins nicht unveränderbar. Koestler berichtet von einem "hierzulande sehr bekannten Verleger" (gemeint ist Victor Gollancz), der im Laufe eines Jahres - jeweils vor seinen Vorträgen über die NS-Verbrechen - in einem abgeschlossenen Raum versucht habe, sich zwanzig Minuten lang detailliert den Schrecken vor Augen zu führen. Nach einem Jahr habe er einen Nervenzusammenbruch erlitten. Koestler empfiehlt seinen Lesern gleichwohl, diesem Beispiel nachzueifern und täglich zumindest zwei Minuten lang über den realen Alptraum zu meditieren. Gelinge es nicht, die Barriere zwischen Opfern und Zuschauern zu durchbrechen, so warnt er, sei die so genannte "Zivilisation" eine trügerische Angelegenheit.
Wie war es aber zu erklären, dass die Juden auch von jenen allein gelassen wurden, die tagtäglich Zeugen der Verfolgung oder sogar der Morde wurden? Neben dem Judenhass musste es für die offenkundige Tatenlosigkeit der Nichtjuden in den besetzten Ländern noch eine andere, tiefer liegende Erklärung geben. Als Koestler in der Todeszelle von Sevilla die Erfahrung gemacht hatte, wie die zu Haftstrafen verurteilten Gefängnisinsassen den Kontakt mit ihm mieden, hatte er zunächst gedacht, dass Angst der Grund für ihr Verhalten sei. Doch dann hatte er sich gefragt, ob es nicht doch vielmehr jene "instinktive Scheu" sei, "mit der Gesunde den Blick von Schwerkranken wegwenden, die das Stigma des Todes auf dem Antlitz tragen". In seiner unvollendeten Fortsetzung des Romans Ein Mann springt in die Tiefe überträgt Koestler diese Erfahrung auf das Verhältnis zwischen den verfolgten Juden und ihren nichtjüdischen Mitbürgern. Die Mehrheit der Nichtjuden, so mutmaßt Koestler daher, wandte sich von den Juden ab, nicht obwohl, sondern gerade weil diese vom Tode bedroht waren. Selbst Peter Slavek, dessen Auftrag darin besteht, versteckte jüdische Kinder zu retten, kann sich von diesen Gefühlen nicht völlig frei machen. Der Anblick des menschlichen Elends versetzt ihn in Panik, weil es in ihm jedes Gefühl von Sicherheit, jedes Vertrauen in die Menschheit zu zerstören droht. In dem Romanentwurf erwähnt Koestler jedoch auch, dass es immer wieder Ausnahmen gab, "kleine Inseln", die aus "isolierten Einzelnen und Familien bestanden, die sicher und rein aus dem bodenlosen Elend und Gestank herausragten, als ob sie von unsichtbaren Granitfelsen gestützt würden". Der Grund für ihr mutiges Verhalten sei diesen Menschen selbst wohl kaum bewusst und nur schwer in Worte zu fassen.

Teil 2
Stichwörter